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Christine von Oertzen

Männerwelt Volkswagenwerk.
Frauenarbeit und Geschlechterpolitik in der "Käferstadt"




Arbeit fur die Aussteuer, 1962. Viele junge Frauen arbeiteten nur bis zur Hochzeit oder der Geburt des ersten Kindles im Werk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Arbeit im Kleinpreßwerk, 1954. Kriegerwitwen, Flüchtlingsfrauen und Frauen, deren Männer noch in Gefangenschaft waren, stellten nach Kriegsende einen großen Teil der Belegschaft Mit der Rückkehr der Männer sank der Anteil der Frauen im Werk rapide.

"Mindestens seit Wiederanlaufen des Betriebes 1945" sei es üblich gewesen, in den VW-Werken keine verheirateten Frauen einzustellen, meinte der Betriebsratsvorsitzende Hugo Bork 1965.(1) Wenn auch seine Erinnerung nicht ganz präzise war: Die VW-Werke konnten - aufgrund ihrer Monopolstellung - mit einer Betriebsvereinbarung von 1949 der Region Wolfsburg eine Geschlechterordnung 'verschreiben', die das Leben der Stadt grundlegend strukturierte. Der Mikrokosmos Wolfsburg war eine 'Männerarbeitsgesellschaft', von Werkleitung und Betriebsrat gemeinsam geschaffen. Frauen hatten hier nur ein Recht auf eigenen Verdienst, wenn sie ledig, verwitwet oder geschieden waren oder als alleinige Ernährerinnen ihrer Familien einspringen mußten.

Wie tiefgreifend diese Personalpolitik die Arbeitsmarktsituation, aber auch die Lebensentwürfe vieler Frauen in Wolfsburg prägte, soll im folgenden skizziert werden. Die Ausführungen konzentrieren sich dabei auf die Zeitspanne von 1948 bis 1965, als kurz nach den Werksferien das Einstellungsverbot fur verheiratete Frauen erstmals aufgehoben wurde. Ich werde die Gründe fur das Zustundekommen und die Aufhebung der Betriebsvereinbarung darlegen, erklären und fragen, welche Berufs- und Arbeitschancen sich für Frauen und Mädchen unter diesen Bedingungen ergaben. Wie gingen die staatlichen und städtischen Institutionen, also Arbeitsamt und Stadtverwaltung, mit der Situation um? Welche Konsequenzen hatte die Aufhebung des Verbots?
Schon vor der Währungsreform kamen viele Flüchtlingsfrauen mit Kindern in die 'Männerstadt' Wolfsburg. Nach der Geldabwertung am 20. Juni 1948 stieg die Zahl der arbeitslosen Frauen rasant in die Höhe. Dieser Trend war in den Westzonen überall vorherrschend, weil das Geld wieder etwas wert war und andere Überlebensstrategien, wie Tauschen, Hamstern oder Schwarzhandel, nicht mehr funktionierten. In Wolfsburg aber lockte, wie das Arbeitsamt berichtete, zusätzlich "die so sehr begehrte, weil so ungewöhnlich hoch bezahlte Arbeit beim Volkswagenwerk, über dessen angebliche Absichten bezüglich der Einstellung von Frauen geradezu märchenhafte Zahlen bei der Bevölkerung umlaufen"(2). Der neue Generaldirektor des Werks, Heinrich Nordhoff, war an dieser Mythisierung nicht unschuldig. Anfang September 1948 verkundete er öffentlich, bei den VW-Werken das Leistungslohnprinzip durchzusetzen. Er versprach, durch eine generelle Erhöhung von 20 Prozent die Löhne bei VW zu den höchsten in der britischen Besatzungszone zu machen. Kriegswitwen sollten sogar 50 Prozent mehr Lohn erhalten als bisher.(3)

Die Werkleitung stand also - entgegen der Erinnerung des Betriebsratsvorsitzenden - der Beschäftigung von Frauen mit 'häuslichen Bindungen' zunächst aufgeschlossen gegenüber. Selbst verheiratete Frauen, die schon vor der Währungsreform im Werk gearbeitet hatten, wurden gegen die auch in Wolfsburg einsetzende Doppelverdienerkampagne in Schutz genommen. Die Personalverwaltung war nicht gewillt, Frauen, deren Männer ebenfalls im Werk arbeiteten, zugunsten der zuwandernden Kriegswitwen, die allein den Familienunterhalt bestreiten mußten, zu entlassen. Die "familienweise Beschäftigung", so hieß es, sei im Werk wegen der "Bildung eines zuverlässigen Arbeitnehmerstammes" durchaus erwünscht.(4)

Diese Einstellung änderte sich allerdings schon bald. Das Arbeitsamt Wolfsburg beobachtete am Ende des Jahres 1949 einen grundlegenden Wandel in der Geschlechterpolitik des Werks. Die eindeutige Kehrtwendung ist auf die zunehmende Arbeitslosigkeit männlicher Zuwanderer und die erfolgreiche Anwerbung von gerade entlassenen Kriegsgefangenen, die zum Teil von Nordhoff selbst direkt 'vom Krieg in die Fabrik' geholt wurden, zurückzuführen. Mit der Begründung, daß genügend Männer bereitstünden, nahm die Werkleitung nun innerbetriebliche Umstrukturierungen vor, die Frauen im Gegensatz zur bisherigen Praxis auf die 'typischen Frauenarbeiten' in der Polsterei, in den Küchenbetrieben und im Reinigungsdienst verwies. Für Metallhilfs- oder Metallfacharbeiten wurden Frauen künftig überhaupt nicht mehr neu eingestellt. Die Facharbeiterausbildung fur Frauen wurde wieder abgeschafft.(5)

Gerechtfertigt wurde diese Politik mit geschlechtsspezifischen Ideologemen: Es habe sich herausgestellt, daß Frauen "trotz ihres guten Willens" wegen ihrer "schwächeren Konstitution" den hohen Anforderungen in der Produktion nicht gewachsen seien.(6) Diese Begründung hinderte nicht daran, Frauen später sehr wohl auch wieder in der Metallverarbeitung einzusetzen, als nämlich der Arbeitskräftemangel dies gebot. Auch war die Arbeit in der Polsterei keineswegs leichter als viele 'Männerarbeiten'. Die Geschlechterpolitik im Werk kam jedoch einem gesellschaftspolitischen Konzept entgegen, das dem katholischen Weltbild des mächtigen Generaldirektors entsprach und vielen männlichen Arbeitern unliebsame weibliche Konkurrenz für die begehrten Arbeitsplätze 'vom Leibe' hielt. "Im wesentlichen" sei, wie Hugo Bork vor den Gewerkschaftsmitgliedern noch 1965 rekapitulierte, diese Politik denn auch "aus der Rücksicht für eine ungestörte Entwicklung der Stadt" zu erklären.(7) Der männliche Schulterschluß zwischen Werkleitung und Belegschaftsvertretung sollte wohl selbst in den Augen des Betriebsrats dem Musterbetrieb eine im Sinne der fünfziger Jahre mustergültige Geschlechterordnung der Stadt gegenüberstellen. Die hohen 'Ernährerlöhne' der Männer würden gewährleisten, daß diese ihre Familien allein unterhalten könnten.

Die Auswirkungen dieser Politik, die mit dem grundsätzlichen Einstellungsstopp von verheirateten Frauen einherging, kann man direkt an der Statistik der VW-Beschäftigten ablesen. 1947 arbeiteten 1062 Frauen und 7320 Manner bei VW. Die Zahl der Frauen erhöhte sich in den nächsten zwei Jahren zwar längst nicht in dem Maße wie die der Manner, stieg aber immerhin bis 1950 auf 1664 an. Die der Männer verdoppelte sich in diesem Zeitraum fast auf etwa 13 300. In den folgenden Jahren stagnierte die Zahl der beschäftigten Frauen und überstieg erst 1954 die Zahl von 2 000, während die der Männer nun schon bei 23 000 lag. Der Anteil von Frauen an allen Beschäftigten sank also zwischen 1947 und 1954 von knapp 15 Prozent auf 8,6 Prozent. Das 'Männerwerk' VW war aber kein Resultat einer natürlichen Entwicklung, sondern das Ergebnis gezielter Personal- und Geschlechterpolitik. Die Leidtragenden dieser Politik versuchten verzweifelt, im Werk Beschäftigung zu finden. (8)

Die Entscheidung der Werkleitung, auf die Aus- und Weiterbildung von Frauen ganz zu verzichten, muß als ebenso gravierend für die Lebensgestaltung von Frauen angesehen werden wie der Einstellungsstopp für verheiratete Frauen und Kriegswitwen mit Kindern. Lehrstellen für Mädchen waren bis Ende der sechziger Jahre so gut wie nicht vorhanden, und auch die Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen im Werk blieben äußerst beschränkt. 1959 waren nur 1,2 Prozent der weiblichen Lohnempfänger als Facharbeiterinnen beschäftigt, gegenüber 35 Prozent bei den Männern.(9) Für Mädchen in Wolfsburg war es die Regel, daß sie versuchten, nach einer Lehre außerhalb des Werks als Hilfsarbeiterinnen oder in der Verwaltung bei VW anzufangen. Da die Löhne im Werk auch für Hilfsarbeiterinnen höher waren als in den erlernten Berufen anderer Branchen, legte das Gros der Berufsanfängerinnen Wert auf Arbeit bei VW, anstatt, wie das Arbeitsamt beklagte, "auf einen auf Weiterbildung und Sicherheit für Krisenzeiten ausgerichteten Arbeitsplatz"(10) . Solche hatte das Werk für sie nicht zu bieten.

Die Möglichkeiten, die das Werk bot, prägten die Lebensplanung junger Frauen anders als die der jungen Männer, bei denen die Eltern auf eine gute Ausbildung achteten, damit sie im Werk Chancen zum Aufstieg hatten. Für Frauen hingegen blieb in Wolfsburg üblich, was sich im übrigen Westdeutschland langsam änderte: Eine gute Ausbildung schien hier 'nicht nötig', weil die Perspektiven fehlten. Mit der Hochzeit kamen häufig - nicht immer - die mehr oder weniger freiwillige Kündigung und der Abschied von der gutbezahlten Tätigkeit im Werk. Bis dahin wurde 'nur ans Geld gedacht'. Die Erwerbsarbeit blieb im Lebensentwurf vieler Frauen auf eine Übergangsphase zwischen dem Abschluß der Lehre und der Hochzeit oder dem ersten Kind beschränkt. Wenn überhaupt verheiratete Frauen bei VW arbeiteten, dann, weil sie jung und ledig dort angefangen hatten. Für die Frauen, die im Laufe der fünfziger Jahre mit ihren Männern neu nach Wolfsburg zogen, waren die Chancen auf Beschäftigung im Werk gleich null.

Mit einer Ausnahme: War der 'Ernährer' durch Krankheit oder Unfall außerstand gesetzt, seine Familie zu unterhalten, griff das paternalistische Versorgungskonzept des Konzerns. Im Fall von Hildegard Hass etwa, die 1945 mit ihrem Mann von Pommern nach Wolfsburg kam. Ihr Mann fand nach der Ankunft sofort Arbeit im Werk, er wurde zum "Schuttaufräumen" eingesetzt. Frau Hass wollte auch zu VW, "aber es klappte nicht. Erst als mein Mann schwer lungenkrank wurde, hat diePersonalverwaltung auf mein Gesuch zurückgegriffen und mich an seiner Stelle beschäftigt. Mein Mann hat dann die Hausarbeit gemacht, und ich hab gearbeitet."(11)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Datenverarbeitung anno 1954. Büroangestellte ziehen Lochkarten für die Hollerithmaschine.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Frauensache: Nach der Endmontage wird der Wagen auf Hochglanz gebracht, 1955. Eine von vielen Hilfsarbeiten im Werk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit Hochfrisur am Montageband, 1966. Bis 1964 stellte das Volkswagenwerk nur unverheiratete Frauen ein.Arbeitskräftemangel zwang zur Aufgabe dieser Vereinbarung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat. Nun waren "Doppelverdiener"geduldet. Familien mit zwei Einkommen konnten sich den hohen Lebensstandard in Wolfsburg besonders gut leisten.

Mit dem steigenden Wohlstand und dem Wachstum der Stadt hatten aber immer mehr Ehefrauen, die nicht oder nicht mehr im Werk beschäftigt waren und deren Männer ein gutdurchschnittliches Wolfsburger Einkommen erzielten, ein lebhaftes Interesse daran zu arbeiten, sei es aus 'Lust' oder aus wirtschaftlichen Gründen. Die Lebenshaltungskosten in Wolfsburg waren hoch. Zwar bemaßen sich die Mieten in den Neubauten nach Maßstäben des sozialen Wohnungsbaus, sie lagen aber dennoch erheblich über den Mietpreisen der Altbausubstanz anderer Städte. Fast die Hälfte der bei VW beschäftigten Männer zahlte immerhin ein Viertel ihres Gehalts für Miete; hinzu kam, daß offenbar, wie eine Umfrage von 1960 ergab, "die in Wolfsburg durchweg gut ausgestatteten Neubauwohnungen, die Qualität der neuen Häuser, die Stadtviertel, Straßen und öffentlichen Gebäude den eigenen Lebensstil, die Qualität der Wohnungseinrichtung, der Kleidung etc. maßgeblich beeinflussen"(12). Der "Käfer" war bald ein 'Muß' - der Motorisierungsgrad war einer der höchsten der bundesrepublikanischen Gemeinden. Es war zwar überall in Westdeutschlund verbreitet, 'auf Pump' zu kaufen. Gerade VW-Mitarbeitern wurde aber in den Geschäften der Stadt besonders bereitwillig Kredit gewährt. Allerdings: Die Preise in Wolfsburg waren hoch, und sie reagierten seismographisch auf Veränderungen im Werk. Kleider etwa kauften viele Wolfsburger daher in Braunschweig.(13)

Den 1960 geführten Interviews zufolge herrschten in der "Käferstadt" zudem ein außerordentlicher Sozialneid und Anpassungsdruck. Man kannte die Einkommensverhältnisse der Kollegen, die ja gleichzeitig Nachbarn waren. Immer müsse "jeder gleich das haben, was der Nachbar auch hat"(14). Unter diesen Umständen reichte oftmals selbst ein VW-Einkommen für den 'angemessenen' Lebensstandard einer Familie nicht aus. Viele Haushalte waren hoch verschuldet. Wenn "alle Schuldscheine in Wolfsburg an die Häuser geklebt würden", wollten besonders gehässige Stimmen wissen, "sähe man nicht, wie diese angestrichen sind"(15). Die hoffnungslose Verschuldung vieler Beschäftigter bei VW nahm 1959 solche Ausmaße an, daß Lohnpfändungen zur Alltagserscheinung gehörten. Nordhoff selbst forderte die Belegschaft in einer Betriebsversammlung zum Maßhalten auf.

Ein Weg, mit den Schulden fertig zu werden, war die Erwerbsarbeit der Ehefrauen. In einigen Fällen schien "Verschuldung" sogar mit unter die "sozialen Kriterien" zu fallen, nach denen die Gesuche der Ehefrauen von Werksangehörigen auf Einstellung bewilligt wurden. Wer ansonsten Arbeit suchte, hatte keine großen Chancen. Traditionellerweise standen für Frauen in der Wolfsburger Umgebung nur Saisonarbeiten in der Zucker und Konservenindustrie zur Verfügung. Zusätzlich wurden wegen der anhaltenden rasanten Abwanderung lediger weiblicher Fachkräfte in die Industrie ab 1960 zunehmend auch verheiratete Frauen als Verkäuferinnen eingestellt -sogar in Halbtagsarbeit.

Dem Wolfsburger Arbeitsamt und der Stadt selbst gelang es nicht, die durch das Werk vorgegebene Arbeitsmarktstruktur auszugleichen. Versuche, Betriebe mit ausgewiesener und attraktiver Frauenarbeit zur Ansiedlung zu bewegen, blieben so gut wie erfolglos, selbst als viele Großbetriebe der Textil-, Nahrungsmittel-, Elektro- und Konsumgüterindustrie dem immer empfindlicher werdenden Arbeitskräftemangel an Frauen dadurch begegneten, daß sie Zweigwerke gerade in strukturschwachen Gegenden oder Industrieregionen ansiedelten, wo bislang hauptsächlich Männer Arbeit fanden. Sogar in den unmittelbaren Nachbarbezirken des Wolfsburger Arbeitsamtes schlug sich diese Entwicklung nieder. Aus vornehmlich ländlich strukturierten Gemeinden in Niedersachsen entstanden ab 1959 innerhalb weniger Jahre Industriestandorte, die vielerlei Arbeitsmöglichkeiten für verheiratete Frauen boten. Das Arbeitsamt Helmstedt berichtete schon im Juli 1962, daß die »immer spürbarer werdende Verknappung der Arbeitskräfte [...] die Arbeitgeber [veranlaßt], ihre Arbeitsbedingungen, insbesondere die Arbeitszeit, [...] den Wünschen der Frauen anzupassen(16).

In Wolfsburg blieb eine solche Entwicklung aus. Das VW-Werk konnte sich wegen der 'Sogkraft' der hohen Löhne dem skizzierten Trend sehr lange entziehen. Zusätzlich verschlechterte die Anwerbung italienischer "Gastarbeiter" die Chancen für Frauen auf Beschäftigung im Werk. Für die besondere Statik auf dem Wolfsburger Frauenarbeitsmarkt waren darüber hinaus strukturelle Faktoren verantwortlich. Die Stadt besaß bis 1955 kein Eigentum an Land, das sie ansiedlungsbereiten Firmen günstig übergeben konnte. Viele Firmen scheuten dann das durch VW vorgegebene hohe Lohnniveau.(17) Allerdings unterstützte das Arbeitsamt bis zum Ende der fünfziger Jahre die Geschlechterpolitik des Werks.

In dieser Konstellation entwickelte sich eine gegenläufige Mobilität der Geschlechter zwischen Stadt und Umland. Während 40 Prozent der bei VW beschäftigten Männer aus der Umgebung nach Wolfsburg pendelten,(18) mußten sich viele verheiratete Frauen aus der Stadt für eine Erwerbsarbeit bis an die Peripherie der Wolfsburger Region begeben: etwa in die 1962 gegründete Wittinger Kartoffelfabrik Maizena, ein Zweigwerk der Heidelberger Firma Knorr, oder in die Zigarrenfabrik André in Königslutter.(19) Aufgrund des überall akuten Mangels an männlichen Arbeitskräften wurden in manchen Zulieferbetrieben des VW-Werkes der Wolfsburger Umgebung auch Frauen mit 'Männerarbeiten' wie Schweißen beschäftigt. Nicht wenige Betriebe richteten sogar einen Werkbus-Verkehr ein, um die Frauen aus Wolfsburg in ihre Fabriken zu holen.

In Wolfsburg selbst verlegten sich das Arbeitsamt und die Stadtverwaltung auf die Ansiedlung von Textilindustrie, einer traditionellen Frauenbranche zwar, aber mit harten Arbeits- und vergleichsweise schlechten Lohnbedingungen, die mit dem Automobilkonzern nicht konkurrieren konnten. "Im Schatten des großen Volkswagenwerks" war die Arbeit dort auch "nicht sonderlich beliebt"; die Frauen blieben ausschließlich deshalb, weil es sonst kaum Betriebe gab, die sie in Dauerstellung beschäftigten.

Gerade wegen des hohen Lohnniveaus bei VW waren viele Frauen auch nicht bereit, harte und schlecht bezahlte Arbeit zu leisten. Sie legten, wie das Arbeitsamt feststellte, im Grunde nur Wert auf die Unterbringung im benachbarten VW-Werk. Ihre Chancen, dort auch wirklich beschäftigt zu werden, wurden 1964 erstmals real. Angesichts des anhaltenden Arbeitskräftebedarfs mußte sich die Werkleitung schrittweise von ihren geschlechterpolitischen Maximen trennen. Noch im Frühjahr hatte das Arbeitsamt Helmstedt gemeldet, Bewerbungen von Frauen beim VW-Werk hätten nur "bei ledigen Kräften, bzw. Frauen mit rechtskräftigem Scheidungsurteil und Witwen mit Rentenbescheid" Aussicht auf Erfolg.(20) In Wolfsburg selbst gab es allerdings schon keine Frauen mehr, die diesen Anforderungen entsprachen. Die neu Eingestellten pendelten alle aus dem Gifhorner und Helmstedter Raum. Im Herbst 1964 war es für das Arbeitsamt bereits abzusehen, daß "das VWW in Kürze von seinen Einstellungsforderungen in einigen [...] Punkten wird abgehen müssen", um genügend Arbeitskräfte zu erhalten. "Dieses Mal", meinte der Berichterstatter, "dürfte es die verheirateten Frauen treffen, die bislang noch nicht zum Zuge gekommen sind"(21).

Es dauerte allerdings noch ein Jahr, bis das Werk die Entscheidung bekanntgab, künftig von der bisher verfolgten Personalpolitik gegenüber verheirateten Frauen abzugehen. Die Befürchtung vieler Firmen, selbst ihre verheirateten Arbeitskräfte bei der erstbesten Gelegenheit an den übermächtigen Konzern zu verlieren, trat sofort ein. Etliche, auch auf Kosten der Stadt gegründete Textilunternehmen klagten über die Abwanderung gerade angelernter Frauen -umliegende Betriebe stellten ihre Werkbuslinien ein.

Mit der Aufhebung des Einstellungsverbots von verheirateten Frauen trennten sich Betriebsrat und Werkleitung auch von einem grundlegenden, geschlechterpolitischen Konzept. Bei Bewerbungen von Frauen, so führte Hugo Bork in seiner bereits erwähnten Rede vor den Gewerkschaftern aus, sei künftig "nur die Eignung für die vorgesehene Arbeit" zu berücksichtigen. Die "sozialen Gründe" interessierten in diesem Zusammenhang "überhaupt" nicht mehr.(22)

In Wolfsburg ging damit eine Epoche zu Ende, die sich auch in die Zeit gesellschaftspolitischer Veränderungen der Bundesrepublik einfügt. Bereits seit dem Beginn der sechziger Jahre entwickelte sich ein wachsender öffentlicher Konsens darüber, daß Ehefrauen ein 'Recht' auf Erwerbsarbeit auch unabhängig von der wirtschaftlichen Situation ihrer Familien hätten. Solange die Frauen ihren 'Familienpflichten' nachkamen, unterlag ihre Mitarbeit keiner Ächtung mehr.

Der Abschied von den alten Vorstellungen wurde bei VW allerdings schon bald durch einen generellen Einstellungsstopp gegenüber Frauen gegenstandslos, und auch in Zukunft schien die Beschäftigung von Ehefrauen in Krisenzeiten am ehesten verzichtbar. Verheiratete Frauen blieben - zusammen mit den "Gastarbeitern" - die Verschiebemasse, mit der die männliche deutsche Stammbelegschaft bei VW abgesichert wurde. Die grundsätzliche Möglichkeit für verheiratete Frauen, Beschäftigung im Werk zu finden, lähmte eine Ausdifferenzierung des Wolfsburger Arbeitsmarktes vielleicht sogar noch mehr als zuvor. So hat auch die geschlechterordnende Macht des VW-Werkes Wolfsburg auf lange Sicht zu einer 'atypischen' westdeutschen Stadt gemacht.

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    Anmerkungen
1 Protokoll der Betriebsratssitzung vom 27. 8. 1965, Betriebsratsarchiv Volkwagenwerk (VWW), HB-P, unpag. - Fürwertvolle Anregungen und Hinweise danke ich Siegfried Heimann und Anne von Oswald.
2 Arbeitsamt Wolfsburg, Jahresbericht 1949, S. 2, zit. in: Uliczka, Monika: Berufsbiografie und Flüchtlingsschicksal. VW-Arbeiter in der Nachkriegszeit, Hannover 1993, S. 127.
3 Vgl. Braunschweiger Zeitung, 1. 9. 1948, zit. in: Koch, Günter: Stabilität und Wundel der Belegschaftsvertretung im Volkswagenwerk Wolfsburg, Diss. Göttingen 1985, S. 60.
4 Arbeitsamt Wolfsburg, Jahresbericht 1949, S. 7, zit. in: Uliczka 1993 (wie Anm. 2), S. 130.
5 Vgl. ebd
6 So auch der Leiter des Arbeitsamtes, der die Politik der Werkleitung bis Ende der fünfziger Jahre rückhaltlos unterstützte; Wolfsburger Nachrichten, 19. 9. 1952.
7 Protokoll der Betriebsratssitzung vom 27. 8. 1965. Betriebsratsarchiv VWW, HB-P, unpag.
8 Zahlreiche Bittgesuche, auch an den Bundespräsidenten, finden sick in den städtischen Akten, zit in: Uliczka 1993 (wie Anm. 2), S. 135, Anm. S. 423ff. Mit Hochfrisur am Montagebund, 1966. Bis 1964 stellte das Volkswagenwerk nur unverheiratete Frauen ein. Arbeitskräftemangel zwang zur Aufgabe dieser Vereinbarung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat. Nun waren »Doppelverdienera geduldet. Familien mit zwei Einkommen konnten sich den hohen Lebensstundard in Wolfsburg besonders gut leisten Frauensache: Nach der Endmontage wird der Wagen auf Hochglanz gebracht, 1955. Eine von vielen Hilfsarbeiten im Werk
9 Vgl. Schwonke, Martin/Herlyn, Ulfert: Wolfsburg. Soziologische Analyse einer jungen Industriestadt, Stuttgart 1967, S. 50.
10 Bericht des Arbeitsamtes (AA) Wolfsburg vom 10. 4. 1962. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv (NdsHStA), Nds. 1310, Acc. 136/82, Nr. 568, unpag.
11 Zit. in: Das Buch. Von Volkswagen. 1938-1988, hg. vom Vorstand und Gesamtbetriebsrat der VW AG, Wolfsburg 1988, S. 91.
12 Vgl. Schwonke/Herlyn 1967 (wie Anm. 9), S. 76.
13 Vgl. ebd., S. 168.
14 So eine 33jährige Arbeiterin in Wolfsburg, zit in: ebd., S. 120; ähnlich ein 40jähriger VW-Maschinenbauer, ebd.
15 Verkäuferin, 33 Jahre alt, zit. in: ebd., S. 168.
16 Bericht des Arbeitsamtes (AA) Helmstedt vom 9. 7. 1962. NdsHStA, Nds. 1310, Acc. 136/82, Nr. 569, unpag.
17 Vgl. Hilterscheid, Hermann: Industrie und Gemeinde. Die Beziehungen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin 1970, S. 113-115.
18 1960 waren 7 Prozent der Pendler weiblich. Fast 50 Prozent der Belegschaft von VW wohnten nicht in Wolfsburg, vgl. Schwonke/Herlyn 1967 (wie Anm. 9), S. 43.
19 Vgl. hier und im folgenden die Berichte der Arbeitsämter Wolfsburg und Helmstedt für 1960-1964. NdsHStA, Nds. 1310, Acc. 136/82, Nr. 566-568, 571-573, alle unpag.
20 Bericht AA Helmstedt vom 7. 4. 1964, ebd., Nr. 572, unpag.
21 Bericht AA Helmstedt vom 9. 10. 1964, ebd., Nr. 573, unpag. 22
22 Protokoll der Betriebsratssitzung vom 27. 8. 1965, Betriebs­ratsarchivVWW, HB-P, unpag.
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© Rosmarie Beier