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Wenn die Puppen Gerichtstag halten

Philantrop, Bohemien, Puppenspieler: Gottfried Reinhardt galt in der ostdeutschen Subkultur als lebende Legende

Medea schnurrt, Empedokles döst, und Sappho geht schon wieder einmal verbotene Wege. Im Obergrunaer Katzenstaat regiert samtpfotig ein griechisches Triumvirat, was den eigentlichen Hausherren in der windschiefen Fachwerk-Idylle am letzten Berghang des Vorerzgebirgsdörfchens allerdings kaum stört. Im Gegenteil: Gottfried Reinhardt, Jahrgang 1935, ist seit Kindesbeinen ein Menschenfreund – und wohl deshalb vor allem praktizierender Tierliebhaber geworden. Eine Art selbstverordnetes therapeutisches Gegenprogramm, bevor er in dunkler Zeit mangels Gemeinde zum misanthropischen Kauz verkommen wäre, fügt Reinhardt schmunzelnd beim Kräutertee an, der süß sein muß wie fast alles Flüssige, weil’s schmeckt und verpönt ist.

Allerdings – die antike Periode ist in seinem offenen Katzenhaus, das bei den Dörflern in treffendem Wortsinne das “verrückte” genannt wird, mittlerweile vorbei. Die zehn Reinhardt-Katzen tragen neuerdings auch alttestamentarische Namen wie Elias und Jesaias, nur Seleni, die majestätisch-grazile Schnurrdame, einzige “Dableiberin” aus einem dreiköpfigen Wurf, hat wieder eine griechische Koseformel bekommen. “Sie ist einen Tag nach Vollmond in meinem Bett geboren”(1), berichtet der sächsische Eremit, der seit 1986 in einem für 6.000 DDR-Mark erworbenen Häuschen heute immer noch ohne fließendes Wasser auskommt und am wackligen Grundstückszaun mitunter skurril anmutende Aufrufe zum Langsamfahren an Autofahrer befestigt, die ohne Rücksicht auf seine Katzen die Dorfstraße herunterdonnern. “Seleni”, sagt der arm an äußerlichen Besitzstandsattributen gebliebene und reich an inneren Bildern und Erinnerungen gewordene Hausbesitzer, “Seleni ist genau so individualistisch wie ich. Ich bin gern ein Neumond, also unsichtbar, will nur ein bißchen Ebbe und Flut machen.”(2)

Mit der Menge zu leben hat Gottfried Reinhardt nicht erst in der verordneten Kollektivität des Staatssozialismus mit aller Kraft verdammt. Für den gebürtigen Residenzsachsen – einem, der die barocken Kulturtraditionen Dresdens sein ganzes Leben in Herz und Seele trägt, auch wenn er sich im auswärtigen Exil längst in Haßliebe von der miefig-provinziellen Seite der Elbmetropole abgewandt hat –, ist das kindliche Erlebnis der brennenden Heimatstadt 1945 der eigentliche Abschied vom Glauben an die Akzeptanz weltlicher Ordnungsmacht. “Da war für mich völlig klar”, erinnert sich Reinhardt, der noch in der Frauenkirche getauft wurde und später über die katholische Kirche zur kleinen russisch-orthodoxen Gemeinschaft in Dresden findet, “daß man allen Dingen skeptisch gegenübertreten muß, vor allem dem gegenüber, was die Institutionen sagen.”(3) Eine Erfahrung, die ihn später in Sagorsk an der Moskauer Geistlilchen Akademie eine Ausbildung zum Diakon aufnehmen läßt Hier absolviert er in zehn Jahren ein Fernstudium und büffelt wochenlang über kaum lesbaren Schreibmaschinen-Durchschriften russische liturgische Texte. Es ist eine wichtige Zeit, die ihm in Dresden auch Möglichkeiten eröffnet, denn “die russische Kirche galt hier als Kirche eines Siegerstaates”, berichtet er rückblickend, “das hat man natürlich auch als Aushängeschild benutzt, wie tolerant und großzügig man ist.”(4)

Zunächst jedoch sucht der letztgeborene Sohn eines Zigarettenmaschinenverkäufers nach Orientierung. Im idyllischen Dresdner Stadtteil Loschwitz, wo eine phantasievolle Künstlerboheme vor allem in den 70er Jahren in den Elbhangvillen und verfallenden Weinbergpavillons genügend Raum für ihr ereignisreiches Leben besetzen und verteidigen kann, findet er bald schon Gleichgesinnte. Deren Maxime besteht vor allem darin, so merkt Reinhardt an, “Spaß zu haben, nichts mit der Menge zu machen und lebenslang ein Flegel zu sein.”(5) Als typgerechter Bürgerschreck aus dem volkspolizeilichen Bestiarium geht Gottfried Reinhardt in den exzessiven Runden im Loschwitzer Körnergarten und in der Wachwitzer Subkultur-Destille Heinrich’s Gaststätte” dabei allerdings wohl kaum durch, eher als blitzgescheiter Schalk und feinnerviger Gegenpol in den mitunter deftigen Späßen, mehrtägigen Gelagen und thematisch ausgerichteten Künstlerfesten, die auch schon mal in der Schloßruine über die selbstgezimmerte Bühne gehen.

Nach einem lustlos bewältigten Architekturstudium an der Technischen Hochschule fängt Gottfried Reinhardt schließlich 1961 als 26jähriger beim Dresdener DEFA-Trickfilmstudio an. “Damals war für mich völlig klar, daß ich mich mit dem Zeichnen von Typenprojekten nicht beschäftigen werde”(6), begründet er diesen Schritt. Seine Kontakte zum staatsfernen Künstlerkreis sind dabei eher karrierefördernd, denn untereinander hilft sich die vitale Notgemeinschaft nicht nur mit “Gamza”-Wein und westlichen Picasso-Bänden, sondern auch mit Restauratorenjobs und förderlichen Berufskontakten weiter. Hauptberuflich stattet er fortan Märchenfilme aus, nebenher erfüllt er sich am Stadttheater in Bautzen seinen verpatzten Jugendtraum, dauerhaft als Bühnenbildner am Theater oder an der Oper zu wirken. Eine nicht erfüllte Liebe zur großen Bühne und zugleich ein biografischer Bruch, um den auch seine Freunde wissen. Wohl deshalb – und nicht ganz ohne Hintersinn – haben sie bei der Rekonstruktion der Semper-Oper mit spitzem Pinsel irgendwo im Deckenhimmel einen seiner Kasperverse neben fülligen Barockengeln und arkadischen Landschaften versteckt: “Wird eine Oper aufgeführt, hat man sie vorher inszeniert./Dies macht ein Mann, der selber keine Oper schreiben kann./Er fragt nicht, was der Autor hat gewollt./Kupfer ist kein Gold.”(7)

Mit dem “Menschentheater” hat es bei Gottfried Reinhardt nie so recht geklappt. Auch später in Freiberg, Görlitz und Zittau nicht, wo er sich noch einmal im morbiden Kleinstadttheaterbetrieb einläßt(8), auf den die DDR-Kulturpolitik so stolz und in dem die Kunst doch nur allzu oft schmählich verraten war. Dort steigert er sich wegen der vermeintlichen Inkompetenz von Regisseuren und Darstellern, die es allesamt “immer besser als der Autor wissen wollten”, wie er sagt, in eine regelrechte “Wut auf das Menschentheater”(9) hinein. In Görlitz hinterläßt er dem Intendanten zu Abschied folgende Notiz: “Meine Zusammenarbeit mit Ihrem Haus hat zu Ergebnissen geführt, die weit unter meinem Niveau liegen. Ich bitte Sie, meinen Vertrag sofort zu lösen. Ich betone, daß das auch im Interesse des Theaters liegt. Wenn Sie mich nicht gehen lassen, wird’s furchtbar!”(10)

Seine Antipathie gilt jedoch nicht den kleinen und großen Eskapaden des Bühnenlebens. “Das Theater hinter, vor und nach dem Theater – das habe ich sehr genossen – das war ja wirkliches Leben. Ich bin auch verständnisvoller Anhörer – nicht Beichvater – gewesen für Liebesnöte jeglicher Möglichkeit. Selbst habe ich mich da aber nicht beteiligt, ich blieb ‘ganz allgemein’.”(11) Seit Anfang der 70er Jahre arbeitet er schließlich wieder freischaffend als Ausstatter für das Trickfilmstudio und kehrt zurück in die Dresdner Elbhang-Seelenverwandtschaft, wo im Gegensatz zur intellektuellen Tristesse im institutionellen Theaterbetrieb eine heitere und gelöste Grundstimmung herrscht – trotz oder vielleicht wegen der Bevormundung durch Verbandsfunktionäre und lokale Parteikulturstatthalter, noch relativ unbeschadet von Stasi-Spitzeln und operativen Maßnahmeplänen, die später in der kulturpolitischen Eiszeit nach Biermanns Ausbürgerung 1976 auch in diesem wundervollen Myzel verheerende Wirkung tun. “Trotz des Schlamassels kehrte keiner die Rolle des Bedrängten oder Verfolgten heraus”, beschreibt Gottfried Reinhardt das Loschwitzer Künstlermilieu der frühen 70er Jahre. “Wir haben immer gesagt: Wir sind im Lager hier, wir dürfen nicht raus, haben uns damit abgefunden und wollen auch gar keine Privilegien haben. Und Schluß!”(12)


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