Kolonialherrschaft
und Imperialismus:
Ein Blick zurück
von Wolfgang J. Mommsen
Die Okkupation der Bucht von Jiaozhou in der chinesischen Provinz
Shandong am 14. November 1897 durch das Deutsche Reich steht am
Beginn der deutschen »Weltpolitik« der Wilhelminischen �ra. F�rst
B�low, der damalige Leiter der deutschen Au�enpolitik und sp�tere
Reichskanzler, rechtfertigte diesen dramatischen Schritt gewaltsamer
Landnahme im Reichstag mit der Notwendigkeit, da� das Deutsche Reich
es den anderen Gro�m�chten gleichtun m�sse, um auch fernerhin als
Gro�macht gelten zu k�nnen. In diesem Zusammenhang fielen auch die
vielzitierten Worte: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen,
aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«1
Dabei verriet B�low, da� es weniger um den Erwerb bestimmter Territorien
als um Machterweiterung im allgemeinen Sinne ging; Qingdao als solches
war schwerlich »ein Platz an der Sonne«, sondern bestenfalls eine
Ausgangsbasis f�r weitere Erwerbungen im pazifischen Raum und f�r
die wirtschaftliche Durchdringung Chinas. Wenig sp�ter brachte B�low
das f�r ihn pers�nlich entscheidende Motiv, n�mlich die St�rkung
der Weltstellung des Deutschen Reiches durch ein Ausgreifen nach
�bersee, wo immer sich daf�r eine Chance er�ffnete, noch deutlicher
zum Ausdruck. Nachdem die Mehrzahl der anderen europ�ischen M�chte
sich in China bereits St�tzpunkte oder Einflu�sph�ren gesichert
h�tten, habe das Deutsche Reich dasselbe tun m�ssen, »wenn wir nicht
dort eine Macht zweiten oder gar dritten Ranges bleiben wollten.«2
Diese Argumentation ist f�r die �berraschende Okkupation Jiaozhous
ma�geblich gewesen, auch wenn strategische und wirtschaftliche Erw�gungen,
insbesondere der Wunsch der kaiserlichen Marine, einen Flottenst�tzpunkt
in Ostasien zu erhalten, daneben eine wichtige Rolle gespielt haben.
Diese �u�erungen B�lows enth�llen die tieferen Antriebskr�fte der
deutschen »Weltpolitik« der 1890er Jahre. Im vorangegangenen Jahrzehnt
hatte sich das Deutsche Reich auf kolonialpolitischem Gebiete zur�ckgehalten,
nachdem sich sehr zu Bismarcks �rger herausgestellt hatte, da� die
afrikanischen Schutzgebiete des Reiches nicht die Erwartungen erf�llten,
die man anf�nglich in sie gesetzt hatte. Das wurde nun mit einem
Schlage anders. Mit dem Ausgreifen auf das chinesische Festland
nutzte das Deutsche Reich, ebenso wie die anderen europ�ischen Gro�m�chte,
die Notlage des Chinesischen Reiches nach seiner Niederlage im japanisch-chinesischen
Kriege von 1894/95 rigoros aus; letzteres sah keinen anderen Ausweg,
als einem langfristigen Pachtvertrag zuzustimmen, der die Annexion
der Bucht von Jiaozhou nachtr�glich v�lkerrechtlich bem�ntelte,
aber faktisch die uneingeschr�nkte Hoheit des Deutschen Reiches
konzedierte. Die anderen Gro�m�chte folgten auf dem Fu�e; die Aufteilung
Chinas, so schien es, hatte begonnen.
Eigentlich war das Deutsche Reich eher ein Nachz�gler in dem globalen
Proze� der europ�ischen Expansion �ber den Erdball, der seit dem
15. Jahrhundert in Gang gekommen war. Dieser Expansionsproze� trat
Anfang der 1890er Jahre in seine Endphase ein; gleichzeitig versch�rfte
sich die Aggressivit�t und Brutalit�t des Vorgehens der westlichen
M�chte in erheblichem Ma�e. Diese Phase eines aggressiven Hochimperialismus
erreichte ihren H�hepunkt im Ersten Weltkrieg, der zwar nicht unmittelbar
durch die imperialistischen Gegens�tze ausgel�st worden war, aber
sich sogleich in einen imperialistischen Krieg verwandelte. Nun
wurde in allen Lagern die Erweiterung des eigenen Kolonialbesitzes
auf Kosten der gegnerischen M�chte zu einem wesentlichen Kriegsziel
erhoben.
Die imperialistische Expansion �ber die nichteurop�ische beziehungsweise
nichtwestliche Welt bediente sich eines breiten Instrumentariums
von Methoden, die sich von informeller Herrschaft bis hin zu formeller
Kolonialadministration im Interesse des jeweiligen Mutterlandes
erstreckten. Im Grundsatz galt die von Robinson und Gallagher gepr�gte
ber�hmte Formel: »Informelle Herrschaft wo immer m�glich, formelle
Herrschaft wo immer erforderlich.«3
Informelle Herrschaft begn�gte sich mit der mehr oder minder gewaltsamen
�ffnung der �berseeischen L�nder und Territorien f�r die eigenen
Kaufleute, Missionare und Bankiers sowie der Zusicherung, da� diese
einen exterritorialen Status erhalten w�rden, der sie der Besteuerung
sowie dem Zugriff der einheimischen Gerichte weitgehend entzog.
Formelle Herrschaft zielte auf die Errichtung territorialer Herrschaft,
sei es in Form von Kolonien oder von Protektoraten, um die politischen
und wirtschaftlichen Interessen der europ�ischen Kolonialm�chte
in optimaler Weise sicherzustellen; vielfach kam auch ein strategisches
Interesse an der milit�rische Kontrolle bestimmter bedeutsamer Pl�tze
oder Regionen hinzu. In der Praxis waren die �berg�nge zwischen
den verschiedenen Formen imperialistischer Herrschaft flie�end,
und ebenso der Grad der tats�chlichen Durchdringung der indigenen
Gesellschaften und Kulturen durch die kolonialen Eliten vor Ort.
Nur in Ausnahmef�llen, wie in Algerien, wurden die betreffenden
Territorien unmittelbar zu einem integralen Bestandteil des jeweiligen
Mutterlandes erkl�rt. Ungeachtet der gro�en Unterschiede der Zugriffsmethoden
der Kolonialm�chte galt imperiale Herrschaft der Sicherstellung
politischer Pr�ponderanz, entweder mit direkten oder h�ufiger mit
indirekten Methoden, der �ffnung und Erschlie�ung der betreffenden
M�rkte f�r die Wirtschaft und den Handel des eigenen Landes sowie
der Erzwingung ungehinderter kultureller und religi�ser Penetration
der indigenen Gesellschaften, nach Ma�gabe der Normen und Wertideale
Europas, mit anderen Worten der Gew�hrung freien Spiels f�r den
europ�ischen Kulturimperialismus.
Neben dieses Motivb�ndel von mehr oder minder langfristiger Natur
traten in der Epoche des Hochimperialismus machtpolitische Erw�gungen
besonderer Art. Die Zeitgenossen wurden von der �berzeugung getrieben,
da� nur jene Staaten in der kommenden Weltepoche Bestand haben w�rden,
die sich zu Weltm�chten erweiterten beziehungsweise ihre kolonialen
Besitzungen in zentral gelenkte Weltreiche umformten. Der britische
Imperialist und zeitweilige Kolonialminister Joseph Chamberlain
hatte 1897 gesagt: »Mir scheint, als ob es die Tendenz der Zeit
ist, alle Macht in die H�nde der gro�en Weltreiche zu legen, w�hrend
die kleineren K�nigreiche - jene, die nicht voranschreiten - dazu
verurteilt sind, in einen zweitrangigen und untergeordneten Rang
zur�ckzufallen.«4 Ganz �hnliche Vorstellungen
waren damals auch im �brigen Europa weit verbreitet; nur jene Nationalkulturen,
die sich einen eigenen Machtbereich in �bersee aufzubauen und �konomisch
noch unerschlossene Zonen wirtschaftlicher Aktivit�t zu erschlie�en
verstanden, schienen auf l�ngere Frist eine Zukunft zu haben. Infolgedessen
forderten namentlich die b�rgerlichen Schichten und die Intellektuellen
nachdr�cklich eine expansive Weltpolitik, auch auf die Gefahr kriegerischer
Verwicklungen hin. Im Deutschen Reich war es Max Weber, der in seiner
Freiburger Akademischen Antrittsrede dieser neuen Gesinnung am wirksamsten
Ausdruck gab. »Wir m�ssen begreifen, da� die Einigung Deutschlands
ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging
und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen h�tte, wenn
sie der Abschlu� und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik
sein sollte.«5 Die Reichsgr�ndung
Bismarcks sollte also ihre Vollendung in der Gr�ndung eines deutschen
Kolonialreichs finden. �berlegungen dieser Art bestimmten eine ganze
Generation von Europ�ern, zu denen seit 1895 auch die Japaner hinzugesto�en
waren, dazu, auf den Ausbau ihrer kolonialen Besitzungen zu dr�ngen,
auch auf die Gefahr stetig zunehmender internationaler Konflikte
hin. Dahinter standen nicht nur die �konomischen Interessen bestimmter
Wirtschaftskreise und die machtpolitischen Interessen der Regierungen
der europ�ischen Staaten und Japans, sondern mehr noch unbestimmte
nationalistische Emotionen, die auf �berseeische Expansion um jeden
Preis dr�ngten. Diese Ideen waren urspr�nglich nur von kleinen agitatorischen
pressure groups wie dem Alldeutschen Verband propagiert worden,
aber seit der Mitte der 1890er Jahre erfa�ten sie vor allem die
b�rgerlichen Schichten auf breiter Front. Es kam hinzu, da� sich
imperialistische Politik sehr gut dazu eignete, von innenpolitischen
Problemen oder sozialen Konflikten abzulenken und die B�rger hinter
der jeweiligen Regierung zu sammeln. B�low beispielsweise setzte
auf eine ambiti�se Weltpolitik, die den Kaiser gegen�ber der �ffentlichkeit
als Speerspitze imperialer Expansion herausstellte, vor allem deshalb,
weil er sich davon eine St�rkung des Ansehens der kaiserlichen Regierung
erhoffte. Im Grundsatz unterschied sich die deutsche Weltpolitik
jener Jahrzehnte nicht von jener der anderen europ�ischen Gro�m�chte,
und nicht zuletzt auch Japans. Allerdings legte sie ein besonders
hohes Ma� von Aggressivit�t an den Tag und tendierte dazu, die halbautorit�ren
Herrschaftsverh�ltnisse in Deutschland auch auf die Kolonien zu
�bertragen.
Die Politik des Hochimperialismus, der sich ausnahmslos alle Gro�m�chte
in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkriege verschrieben,
hatte viele Gesichter und verfolgte h�chst unterschiedliche Strategien.
Urspr�nglich hatten die imperialen M�chte, sofern nicht die Methoden
informeller Herrschaft ausreichten, um dem europ�ischen Handel und
dem europ�ischen Kapital ausreichende Operationsbedingungen in �berseeischen
L�ndern zu verschaffen, sich mit extensiver Herrschaft �ber einige
K�stenregionen begn�gt und sich in aller Regel indigener Regime
bedient, um die Kontrolle �ber die Territorien des Hinterlandes
vergleichsweise kosteng�nstig zu bewerkstelligen. Es kam ja nur
darauf an, dem europ�ischen Handel den unbeschr�nkten Zugang zu
diesen Territorien zu verschaffen und dem europ�ischen Kapital die
Chance zu er�ffnen, Plantagen zu gr�nden und die Rohstoffe der betreffenden
Regionen auszubeuten sowie durch Errichtung von Verkehrsbauten,
namentlich von Eisenbahnen und Hafenanlagen, sekund�re Profite von
oft erheblicher Gr��enordnung zu erlangen. Daneben standen Methoden
der finanziellen Ausbeutung von formell selbst�ndigen, faktisch
aber von den europ�ischen M�chten abh�ngigen Staaten beziehungsweise
Staatengebilden, wie beispielsweise �gypten und das Osmanische Reich.
Der Gew�hrung von Anleihen zu oft ruin�sen Bedingungen, unter Verpf�ndung
von gro�en Teilen des Steueraufkommens, folgte in aller Regel die
Kontrolle der Staatsfinanzen des betreffenden Landes im Interesse
der europ�ischen Gl�ubiger, auf Kosten der einheimischen Steuerzahler,
die die Coupons der europ�ischen Kapitalisten aufzubringen gezwungen
wurden. Das war freilich vielfach nur die Spitze eines Eisberges.
Der Kapitalexport in �berseeische Regionen des Erdballs, in denen
weiterhin hochprofitable Investitionen beispielsweise im Eisenbahnbau
oder der F�rderung von Erzen und Edelmetallen zu enorm g�nstigen
Preisen m�glich schienen, war eine bedeutsame Antriebskraft imperialistischer
Expansion und entfaltete eine erhebliche Eigendynamik. Sir Halford
Mackinder beispielsweise predigte 1899 einem finanzkr�ftigen Publikum
der Londoner City: »Weil wir die gro�en Kapitalverleiher sind, sind
wir dazu getrieben worden, unser Empire auszuweiten, um unsere Position
in der Welt zu behaupten.«6 Allerdings
verfolgte die Hochfinanz in �bersee vielfach ihre eigenen Strategien,
die mit jenen der Regierungen nicht immer konvergierten.
Daneben standen von Anbeginn auch politische Begehrlichkeiten, die
im Zuge der wachsenden M�chterivalit�ten immer mehr an Bedeutung
gewannen. Der Besitz von strategisch wichtigen Territorien in �bersee
wurde nunmehr unter geopolitischen Gesichtspunkten zunehmend als
ein Eigenwert angesehen, der im Zweifelsfall auch erhebliche finanzielle
Aufwendungen rechtfertigte. Besondere Bedeutung wurde dabei solchen
Territorien zugemessen, die sich als Flottenst�tzpunkte eigneten.
Gem�� der damals h�chst einflu�reichen Lehre Admiral Mahans geh�rte
die Zukunft jenen M�chten, die �ber die Herrschaft �ber die Weltmeere
verf�gten; Flottenst�tzpunkte zur Versorgung, Kohleaufnahme und
gegebenenfalls zur Reparatur von Kriegsschiffen wurden als ein zunehmend
wichtiges Teilobjekt einer expansiven Weltpolitik betrachtet. Auch
die deutsche Admiralit�t verschrieb sich dieser Doktrin; die Annexion
von Jiaozhou ging in erster Linie auf das Bestreben der kaiserlichen
Marine zur�ck, einen eigenen Flottenst�tzpunkt im Pazifik zu erhalten.
Insgesamt verschr�nkten sich in der Politik des Hochimperialismus
der Zeit vor 1914 machtpolitische, milit�rische, wirtschaftliche
und nicht zuletzt kulturelle Motivationen, die allerdings vielfach
durch die Beschw�rung der zivilisatorischen Mission des Westens
bem�ntelt und so gegen�ber der einheimischen �ffentlichkeit legitimiert
wurden.
Seit 1890 hatten sich die Bedingungen imperialistischer Politik
zunehmend gewandelt. Die Aufteilung Afrikas war um 1890 im wesentlichen
vollzogen, und ebenso hatte Gro�britannien seine Herrschaft �ber
den indischen Subkontinent in zeitweiliger Rivalit�t mit dem zaristischen
Russischen Reich weitgehend konsolidiert. Im Nahen Osten und auf
dem chinesischen Subkontinent hingegen war eine territoriale Landnahme
nach bisherigem Muster nicht durchf�hrbar, zum einen, weil die zunehmende
Rivalit�t der Gro�m�chte die Inbesitznahme gro�er Regionen durch
eine einzelne Macht nicht mehr ohne weiteres zulie�, zum anderen,
weil die betreffenden indigenen Gesellschaften nicht einfach beiseitegeschoben
werden konnten, ebenso wie dies schon in der ersten H�lfte des Jahrhunderts
in Lateinamerika der Fall gewesen war.
Sowohl im Nahen Osten wie in China verlegten sich die Gro�m�chte
demgem�� in verst�rktem Ma�e auf Methoden informeller Beherrschung
kraft der Begr�ndung von Interessenzonen, gegebenenfalls kombiniert
mit der Errichtung von territorialen Vorposten, beispielsweise Hongkong,
Port Arthur oder auch Qingdao, die als Einbruchstor in die einheimische
Gesellschaft dienen konnten. Dabei wurde die betreffende Zentralregierung
gezwungen, den eigenen Unternehmen in diesen Interessenzonen den
Vorrang vor ausl�ndischen Firmen zu geben und auch Finanzgruppen
anderer Staaten nicht zum Zuge kommen zu lassen, beziehungsweise
diesen keine Konzessionen zu gew�hren. Dagegen war es nicht beabsichtigt,
den Bestand der Herrschaftssysteme als solche in Zweifel zu ziehen,
im Falle Chinas der Zentralregierung in Beijing, obschon deren Autorit�t
dadurch, da� diese zu Handlangern des ausl�ndischen Kapitals gemacht
wurden, schrittweise ausgeh�hlt wurde. Im Gegenteil, f�r die wirtschaftliche
Erschlie�ung und Nutzung der jeweiligen Interessenzonen war die
Mitwirkung der lokalen Beh�rden und der Zentralregierung in hohem
Ma�e erforderlich; an ihnen lag es vor allem, f�r Rechtssicherheit
zu sorgen und die Erf�llung der in den jeweiligen wirtschaftlichen
Abkommen eingegangenen finanziellen und sonstigen Verpflichtungen
zu gew�hrleisten. Zwar bedienten sich die europ�ischen M�chte immer
wieder milit�rischer Strafexpeditionen ins Landesinnere, um die
Widerst�nde gegen die europ�ische Penetration, die sich wiederholt
in gewaltsamen Protestaktionen Luft machten, zu brechen und die
Unterw�rfigkeit der einheimischen Bev�lkerung gegen�ber den europ�ischen
Gesellschaften und deren einheimischen Agenten zu erzwingen. Die
Niederwerfung des sogenannten »Boxeraufstandes« durch die europ�ischen
M�chte war nur die spektakul�rste dieser sogenannten »Strafaktionen«,
die in aller Regel mit gro�er H�rte und Brutalit�t durchgef�hrt
wurden. Auch von Qingdao aus wurden im Sommer 1899 und im Oktober
1900 wiederholt derartige blutige »Strafexpeditionen« durchgef�hrt,
um die lokalen Widerst�nde der Bauern gegen den Bau der Schantung-Eisenbahn
zu brechen und der Aktivit�t der deutschen Gesellschaften in der
Provinz Shandong die Wege zu bahnen. Doch erwiesen sich dergleiche
Aktionen meist als wenig erfolgreich, wie sich dies auch im Falle
der infrastrukturellen Durchdringung der Provinz Shandong zeigen
sollte. Ohne die in Grenzen »freiwillige« Kooperation der jeweiligen
lokalen Eliten und Beh�rden und die Unterst�tzung der chinesischen
Zentralregierung war auf Dauer eine erfolgreiche wirtschaftliche
Durchdringung des Hinterlandes nicht zu erreichen.
Dies hatte die paradoxe Folgewirkung, da� die Gro�m�chte ein gemeinsames
Interesse an der Erhaltung sowohl des chinesischen Kaiserreichs
als auch des Osmanischen Reiches entwickelten, freilich mit der
Ma�gabe, da� deren Regierungen sich den Forderungen der europ�ischen
Diplomatie auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete bereitwillig
unterwarfen und insbesondere ihre Au�enz�lle den europ�ischen Interessen
anpa�ten. Seit der Jahrhundertwende proklamierten vor allem die
Vereinigten Staaten das Prinzip der »offenen T�r«, welches bei Wahrung
der territorialen Integrit�t Chinas gleichberechtigten Zugang zu
den chinesischen M�rkten f�r die westlichen Kaufleute und Bankiers
forderte, freilich zu Bedingungen, die vielfach direkt oder indirekt
von den Gro�m�chten diktiert wurden.
Am Ende erwies sich der Finanzimperialismus der europ�ischen Gro�banken,
die vielfach �ber die jeweiligen nationalen Grenzen hinweg miteinander
kooperierten und sich dabei um die von den M�chten angepre�ten exklusiven
Interessensph�ren nicht selten zunehmend weniger k�mmerten, als
weit erfolgreicher als alle politisch angeleiteten Strategien zur
wirtschaftlichen Beherrschung �berseeischer Territorien. Dies f�hrte
vielfach zu einem relativen Bedeutungsverlust der territorialen
Vorposten, die die Gro�m�chte in diesen Regionen im 19. Jahrhundert
auf chinesischem Boden oder in den Randzonen des Osmanischen Reiches
begr�ndet hatten. Dies trifft in besonderem Ma�e auf Jiaozhou zu,
welches nach und nach seine Bedeutung als Vorort der wirtschaftlichen
Penetration des chinesischen Subkontinents durch deutsches Kapital
und deutsche Handelsunternehmen einb��te. Weder die Ausbeutung von
Kohlevorkommen in Shandong, noch die �konomische Erschlie�ung dieser
Provinz vermittels des Baus von Eisenbahnlinien ins Landesinnere
erwiesen sich als erfolgreich; am Ende gingen diese mit gro�er M�he
ins Leben gerufenen Unternehmungen wieder weitgehend in chinesische
H�nde �ber. Die deutsche Hochfinanz hingegen schlug in Zusammenarbeit
mit der Londoner City andere, elastischere Wege informeller Durchdringung
Chinas ein, die sich vergleichsweise g�nstiger entwickelten.7
Ein wesentliches Resultat der Epoche des Imperialismus war die wirtschaftliche
Penetration der abh�ngigen Gebiete des Erdballs durch die Industrie
und das Kapital des Westens. Die Zeitgenossen betrachteten die Einbeziehung
der abh�ngigen L�nder und Regionen in den Weltmarkt als unvermeidlich
und als eine zivilisatorische Tat, die letzten Endes auch den indigenen
V�lkern selbst zugute kommen werde, obschon die gewaltsame �ffnung
der �berseeischen L�nder und Territorien - und dazu geh�rte vornehmlich
auch China - mit dem Zusammenbruch traditioneller Industrien und
gro�en Opfern seitens der indigenen Bev�lkerung verbunden war. Heute
denken wir differenzierter dar�ber, obschon die Kritik der Theoretiker
der »Entwicklung der Unterentwicklung« als eines Produkts des Imperialismus
inzwischen an �berzeugungskraft verloren hat. Noch �rger war die
B�rde, die der indigenen Bev�lkerung in jenen halbkolonialen Territorien
auferlegt wurde, die zur weithin ungesch�tzten Beute des internationalen
Finanzimperialismus wurden. Sie mu�ten oft �ber Jahrzehnte hinweg
die Folgen einer teilweise von den Gro�m�chten erzwungenen, teilweise
unklugen Anleihepolitik tragen. Dies trifft insbesondere f�r China
zu, das seine dr�ckenden finanziellen Verpflichtungen aus den internationalen
Anleihen, die es nach dem japanisch-chinesischen Kriege von 1895
hatte aufnehmen m�ssen und die in dem ber�hmt-ber�chtigten Anleiheabkommen
von 1913 festgeschrieben worden waren, erst zu Beginn der japanischen
Invasion 1931 endg�ltig absch�tteln konnte.8
Daf�r mu�te es freilich die noch ungleich dr�ckendere Herrschaft
des japanischen Gro�raumimperialismus eintauschen.
Heute liegt die Epoche des Imperialismus hinter uns, und die Frage
nach den Konsequenzen und den langfristigen Auswirkungen imperialer
Expansion l��t sich unbefangener stellen, als dies fr�heren Generationen
m�glich gewesen ist. Die Bilanz des Imperialismus ist zwiesp�ltig.
Insgesamt wird man sagen d�rfen, da� er f�r die metropolitanen Gesellschaften
als solche ein zweifelhaftes Gesch�ft gewesen ist, obschon zahlreiche
Interessengruppen daran erheblich profitiert haben. Die Profite,
die die metropolitanen Gesellschaften aus der Ausbeutung der Kolonien,
Halbkolonien und Interessenzonen gezogen haben, stehen in keinem
g�nstigen Verh�ltnis zu den finanziellen Aufwendungen und mehr noch
den indirekten Folgen in Gestalt von Hochr�stung und Kriegen. F�r
die L�nder der Peripherie war die koloniale �ra in jedem Falle ein
Verlustgesch�ft, obschon sich im Zuge kolonialer Durchdringung auch
betr�chtliche Modernisierungsgewinne eingestellt haben. Was China
angeht, so d�rfte die imperialistische Politik des Westens gegen�ber
China dessen wirtschaftliche Entfaltung ungeachtet punktueller Fortschrittsmomente
eher abgebremst und eine autozentrische Entwicklung verhindert haben.
Vor allem wurden durch den europ�ischen und sp�terhin den japanischen
Imperialismus wesentliche Voraussetzungen f�r den Aufstieg des chinesischen
Kommunismus gelegt. Langfristig gesehen war die Strategie des Westens,
was China angeht, - und dies trifft �brigens in kaum geringeren
Ma�e auch f�r den Nahen Osten zu - ein folgenreicher Fehlschlag,
der auch unsere gegenw�rtige Situation noch ma�geblich pr�gt; die
Bestrebungen, beide Halbkontinente in den universalen Proze� der
Modernisierung und Demokratisierung einzubeziehen, mi�langen kl�glich.
Am st�rksten wirken heute noch jene Elemente des westlichen Imperialismus
nach, die sich im weitesten Sinne des Wortes unter der Signatur
des Kulturimperialismus verbuchen lassen. Die Einfl�sse, die von
der westlichen Kultur, den westlichen Religionen, der westlichen
Wissenschaft und Technologie und nicht zuletzt des westlichen kapitalistischen
Marktsystems ausgingen, haben die Kolonialzeit noch am ehesten �berstanden.
Die Zeitgenossen betrachteten die kulturelle Durchdringung abh�ngiger
Gebiete, sei es durch die Missionen, sei es durch die administrativen
Ma�nahmen der Kolonialmacht - einschlie�lich der Durchsetzung eines
westlichen Ma�st�ben entsprechenden Rechtssystems zumindest f�r
Kapitalverbrechen und f�r alle Fragen, die den Besitz von Grund
und Boden und die Besteuerung betrafen - als einen Beitrag zur Ausbreitung
der Zivilisation, also eine im Grundsatz segensreiche T�tigkeit.
Die Politiker sahen in der F�rderung »zivilisatorischer Ma�nahmen«,
sofern diese nicht mit unangemessenen Kosten verbunden waren oder
zu einer Destabilisierung der indigenen Gesellschaftsordnung zu
f�hren drohten, ein willkommenes Mittel, um die territoriale oder
wirtschaftliche Expansion nach �bersee gegen�ber der eigenen �ffentlichkeit
moralisch zu legitimieren. In geringem Umfang galt dies auch f�r
die indigene Bev�lkerung, die freilich in aller Regel nur bescheidene
Vorteile von den administrativen Ma�nahmen der Kolonialherren ziehen
konnte. In dieser Hinsicht nimmt Jiaozhou eine Sonderstellung ein.
Die F�hrung des deutschen Kaiserreiches wollte es in eine deutsche
Kultur und deutsche Zivilisation musterg�ltig repr�sentierende Kolonie
verwandeln und als solche eine Signalwirkung f�r ganz China entfalten.
Aus der Sicht der ehemals kolonial oder halbkolonial regierten L�nder
und Nationen war die »zivilisatorische« Aktivit�t der europ�ischen
Kolonialherren freilich ein h�chst ambivalentes Geschenk; sie hat
zwar auch zur Modernisierung der indigenen Gesellschaften und mehr
noch ihrer F�hrungseliten beigetragen, gleichzeitig aber die eigenen
kulturellen Traditionen nachhaltig geschw�cht. In der Tat war die
Asymmetrie des Status der europ�ischen Kolonialherren einerseits,
der indigenen Bev�lkerung andererseits eine wesentliche Voraussetzung
imperialistischer Herrschaft, gleichviel ob diese sich �berwiegend
informeller oder formeller Vorgehensweisen bediente. Das Bewu�tsein
kultureller �berlegenheit, welches die kolonialen Herrschaftseliten
an den Tag legten, vermischte sich mit Verachtung f�r die angeblich
rassisch minderwertige indigene Bev�lkerung. Dies galt nicht nur
f�r die zahlreichen afrikanischen V�lkerschaften, die sich aus der
Sicht der Kolonialherren noch auf einer vergleichsweise niedrigen
Stufe der Kulturentwicklung befanden, sondern auch f�r die asiatischen
V�lker, und selbst f�r China, obschon es sich hier um eine Nation
mit einer 3000 Jahre alten Kultur handelte.
Heute l��t sich das Ma� der �berheblichkeit, mit welcher die Europ�er
gegen�ber den V�lkern der nichtwestlichen Welt auftraten, kaum noch
nachvollziehen. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Europas
F�hrungsrolle in der Welt mit einem Schlage ein Ende setzte, ist
den Europ�ern dieses Bewu�tsein kultureller �berlegenheit weithin
vergangen. Jedoch verband sich das �berlegenheitsbewu�tsein der
kolonialen Herrschaftseliten nicht selten mit einer wohlwollend
paternalistischen Einstellung, die vielfach auch Gutes bewirkt hat.
�berhaupt sollte man die koloniale Situation nicht als eine einseitig
allein von den Kolonialherren gepr�gte Ordnung verstehen. Vielmehr
st�tzte sich Kolonialherrschaft jedenfalls in dieser Periode der
Entwicklung der imperialen Systeme nahezu �berall, wenn auch in
unterschiedlichem Ma�e, auf die sich freilich unter ungleichen Bedingungen
vollziehende Kollaboration mit den jeweiligen indigenen Eliten.
Oft blieb infolgedessen das vorgefundene indigene Herrschaftsgef�ge
auf den unteren gesellschaftlichen Ebenen weitgehend erhalten oder
wurde bisweilen sogar k�nstlich konserviert beziehungsweise wiederhergestellt.
Dies er�ffnete den indigenen Eliten zahlreiche M�glichkeiten, die
eigenen kulturellen Traditionen unterhalb der Ebene der Kolonialadministration
fortzuf�hren. Qingdao ist in diesem Punkte ein Sonderfall; hier
wurde die Umformung der einheimischen Gesellschaft nach deutschen
Vorstellungen sehr weit getrieben und der Versuch gemacht, ein Musterbeispiel
kolonialer Entwicklung nach deutschen Standards zu schaffen, ohne
R�cksicht auf die vorgefundenen lokalen kulturellen Traditionen
und Herrschaftsstrukturen. Aber gleichwohl gelang es den Chinesen
Qingdaos, unter den Bedingungen »ungleicher« Kollaboration nach
und nach wieder st�rkeren Einflu� auf die Gestaltung ihres Lebens
zu gewinnen. Seit der Jahrhundertwende setzte auch hier ein stiller
Proze� der St�rkung der Rolle der chinesischen Bev�lkerung ein,
der dann allerdings im Ersten Weltkrieg mit der �bernahme der Kolonie
durch die Japaner ein abruptes Ende fand.
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