Die Kindertransporte 1938/1939
Nach der Berichterstattung zu den Novemberpogromen von 1938 lockerten zahlreiche Länder ihre strikten Einreisebestimmungen für jüdische Flüchtende und erklärten sich bereit, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahren aufzunehmen. Das Leo Baeck Institute – New York | Berlin in New York zeigt nun eine Ausstellung zu den damaligen Kindertransporten. Miriam Bistrovic, die die Berliner Repräsentanz des Leo Baeck Instituts leitet, schreibt für den DHM-Blog über die großangelegte Hilfsaktion, dank der knapp 10.000 Kinder nach England gelangten und so den Holocaust überlebten.
„Mein Kind ist fort! Früh um 6 Uhr haben wir den Jungen zum Schlesischen Tor gebracht zum Kindertransport nach England. Wie erschütternd das war! Und wen ich alles traf an diesem Morgen! Eine Collegin in tiefer Trauer – ihr Mann starb drei Tage nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager. Sie schickt ihren Jungen weg. Eine Patientin von mir bringt ihr vierjähriges Mädelchen.“[1] Hertha Nathorff, 2. März 1939
Unmittelbar nach der internationalen Berichterstattung über die Novemberpogrome von 1938 entschieden sich zahlreiche Länder, ihre strikten Einreisebestimmungen für jüdische Flüchtende zu lockern. Allen voran Großbritannien aber auch die Schweiz, Holland, Belgien, Frankreich und Schweden erklärten sich bereit, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahren aus dem Deutschen Reich, dessen annektierten Gebieten und den von feindlicher Übernahme bedrohten Ländern aufzunehmen. Binnen weniger Tage wurden die ersten „Kindertransporte“ organisiert. Das britische Movement for the Care of Children from Germany (später umbenannt in Refugee Children’s Movement) bemühte sich in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen Privatpersonen und der Reichsvertretung der Juden in Deutschland sowie der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien darum, Namen zusammenzustellen und die finanziellen Mittel einzuwerben. Von staatlicher Seite wurde eine Bürgschaft in Höhe von 50 Pfund Sterling pro Kind verlangt,[2] dadurch sollten zusätzliche Unkosten vermieden und die Versorgung, Unterkunft und spätere Rückreise der in Obhut genommenen Minderjährigen gewährleistet werden.
Die aus Deutschland abfahrenden Kindertransporte wurden zentral organisiert. Kinder aus dem Osten, Südosten und Norden Deutschlands wurden in Berlin gesammelt oder stiegen unterwegs auf den Bahnhöfen entlang der Route zu. In Frankfurt am Main wurden die Fahrten mit Kindern und Jugendlichen aus Südwestdeutschland und dem Süden zusammengestellt.
Nachdem es bei den ersten Kindertransporten zu äußerst emotionalen Szenen kam, wurde den Eltern untersagt, ihre Kinder auf dem Bahnsteig zu verabschieden. Solche öffentlichen Gefühlsausbrüche waren von Seiten der Obrigkeit unerwünscht. Was dabei in den Eltern vorging, schilderte Hertha Nathorff am 2. März 1939 in ihrem Tagebuch:
„Bald müssen wir uns verabschieden. Die Kinder sollen reihenweise zum Zug geführt werden. Begleitung der Eltern zum Bahnsteig ist verboten. Ich küsse meinen Jungen und flüstere ihm zu, „schau am Bahnhof Zoo aus dem Fenster“ – mehr nicht. […] Ich werfe mich ins Auto, ich rase zum Zoo, löse die Bahnsteigkarte, stürze hinauf und bin vor dem Zug noch da. […] Der Bahnsteig ist ziemlich leer, niemand verbietet mir, an den Zug heranzugehen. Und – mein Junge sieht aus dem Fenster und – sieht seine Mutti noch einmal – „Einen feinen Platz habe ich Mutti“ zwitschert er mit seinem Kinderstimmchen. […] Noch einmal halte ich meines Jungen geliebte Hände, er beugt sich aus dem Fenster – noch ein Kuss und der Zug entführt ihn mir.“[3]
Die Züge fuhren nach Hoek von Holland, Hamburg oder Bremen, um im Anschluss mit der Fähre nach England zu gelangen, wo sie zumeist in Harwich oder mitunter in Southampton ankamen. Der erste Kindertransport mit fast 200 Kindern aus Berlin traf am Morgen des 2. Dezember 1938 in Harwich ein.
Anfänglich wurden vor allem besonders schutzbedürftige Kinder ausgewählt: Waisen, Kinder, bei denen bereits Elternteile festgenommen wurden, von Inhaftierung bedrohte Jugendliche und jene, die als staatenlos galten und ausgewiesen werden sollten.
Die Mitnahme persönlicher Gegenstände war auf das Äußerste beschränkt. Der in Koblenz geborene Horst Rosenberg war 13 Jahre alt, als er am 7. Februar 1939 Frankfurt mit einem Kindertransport verließ. Detailliert listete er auf zwei Seiten sein spärliches Reisegepäck auf: Kleidung für kaum mehr als eine Woche, ein paar warme Wintersachen, Sportzeug, Schreibutensilien und seine Kamera. Das war alles, was er in die Fremde mitnehmen durfte. Selbst sein Patengeschenk, ein Trinkbecher, wurde gestrichen.[4]
Die Zeit, die Familien zur Vorbereitung hatten, war knapp bemessen. Anneliese Erlangers Reisepass wurde am 8. August 1939 ausgestellt. Der Stempel in ihrem Pass belegt, dass das 1925 geborene Mädchen noch vor Ende des Monats Deutschland verlassen hatte und am 25. August 1939 in Harwich eintraf. Zurück blieben ihre drei Jahre jüngere Schwester Inge, die keinen Platz bekam, und ihre verwitwete Mutter Emma Erlanger. Beide wurden 1942 ermordet.[5]
Nach ihrer Ankunft in England wurden die eintreffenden Kinder und Jugendlichen auf Pflegeeltern, Heime und Sammelunterkünfte aufgeteilt. Vielen wurde bereits vor ihrer Abfahrt eingeschärft, sich rasch anzupassen, folgsam zu sein und gute Manieren zu zeigen. Gerade die Frage, wie es ihren Nachkommen in der Obhut von Fremden ging, erfüllte ihre Eltern mit Sorge. Nach der Ankunft in England blieb den Familien lediglich der rege Austausch von Postkarten und Briefen, um sich nach dem Wohlbefinden ihrer Liebsten zu erkundigen und ihnen wenigstens auf diesem Wege Mut zuzusprechen. Heinz Ludwig Katscher gehörte mit 16 Jahren zwar zu den älteren Teilnehmern der Kindertransporte und obwohl er sich wie viele andere nach Kräften bemühte, fiel es ihm schwer, sich an die unbekannte Umgebung und neue Sprache zu gewöhnen. Das war auch seinen Eltern Alfred und Leopoldine bewusst, als sie ihm am 27. Dezember 1938 auf seine Karte und Briefe antworteten und zusicherten, ihm fortan täglich zu schreiben:
„Es ist eine ungeheure Leistung, die Du bis jetzt vollbrachtest und Deine lieben Berichte malen uns wenigstens einiges aus Deinem gegenwärtigen Leben aus. Bubi, wenn wieder Heimweh über Dich kommt, so weisst Du, dass wir unausgesetzt, Tag und Nacht, an Dich denken.“[6]
Wenige Monate später konnte ihm seine Schwester Liane folgen. Die Auswanderungspläne der Eltern scheiterten hingegen. Die Hoffnung, ihre Kinder wiederzusehen, erfüllte sich nicht. Das Ehepaar wurde im Vernichtungslager Maly Trostinez unweit von Minsk ermordet.
Der letzte offizielle Kindertransport erreichte England am 2. September 1939. Mit dem Überfall auf Polen am Morgen des 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg und beendete zugleich die großangelegte Hilfsaktion, dank der knapp 10.000 Kinder nach England gelangten. Sie entkamen dem Holocaust und überlebten – oftmals als einzige ihrer Familien.
Verweise
[1] Auszug aus Hertha Nathorffs Tagebuch vom 2. März 1939, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Hertha Nathorff, Memoir, Reichstagsbrandt, ME 460
[2] Was 1938 ungefähr 600 Reichsmark entsprach (vgl. Stiftung Preußischer Kulturbesitz unter Bezugnahme auf Währungstabellen der Bundesbank, Anlage II).
[3] Auszug aus Hertha Nathorffs Tagebuch Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Hertha Nathorff, Memoir, Reichstagsbrandt, ME 460
[4] Reisegepäck Horst Rosenberg vom 6. Februar 1939, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Horst Rosenberg Collection AR 25506 box 1 folder 2 und Ausreisebescheinigung für Horst Rosenberg vom 3. Februar 1939, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Horst Rosenberg Collection AR 25506 box 1 folder 2
[5] Reisepass Anneliese Erlanger, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Anna Erlanger Rotenberg Collection AR 25576, Box 1 Folder4 und Foto von Anneliese und Inge Erlanger, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Anna Erlanger Rotenberg Collection AR 25576, Box 1 Folder 3
[6] Brief von Alfred und Leopoldine Katscher an Heinz Ludwig Katscher vom 27. Dezember 1938, Leo Baeck Institute – New York | Berlin, Ludwig Katscher Collection, AR 6336, box 1, folder A
Dr. Miriam BistrovicDr. Miriam Bistrovic ist Historikerin und Kunstwissenschaftlerin. Seit Ende 2013 leitet sie die Berliner Repräsentanz des Leo-Baeck-Institute New York|Berlin und koordiniert dessen Aktivitäten in Deutschland. Jüngstes Projekt ist der Online-Kalender und die zugehörige Wanderausstellung „1938Projekt – Posts from the Past“. |