Emy Roeder und die documenta
Julia Voss | 13. Oktober 2021
Emy Roeder war eine der wenigen Künstlerinnen auf der ersten documenta. Julia Voss, Co-Kuratorin von „documenta. Politik und Kunst“, berichtet, was sie im Zuge der Recherche zu Roeder und Vorbereitung der Ausstellung außerdem über die Künstler Arno Breker und Rudolf Levy sowie den documenta-Macher Werner Haftmann erfuhr.
Als ich zum ersten Mal las, dass die Bildhauerin Emy Roeder 1955 auf der documenta in Kassel ausgestellt hatte, wurde ich sofort neugierig. Wirklich Roeder? Roeder unterschied sich von den meisten Teilnehmer*innen der documenta. Sie war eine Frau, das gab es selten in Kassel, wo mit wenigen Ausnahmen die Werke von Männern ausgestellt wurden. Außerdem hatte sie nach dem Ersten Weltkrieg an ausdrücklich politischen Ausstellungen teilgenommen, etwa denen der Novembergruppe oder einer gegen den Abtreibungsparagrafen.[1] Politische Kunst war damals in Kassel auch nicht gern gesehen.
In den nachfolgenden Recherchen stieß ich auf eine weitere Besonderheit: Emy Roeder lebte 1955 noch! Von den sieben Frauen nämlich, deren Werke mit denen von 140 Männern in Kassel ausgestellt wurden, waren drei bereits verstorben: Paula Modersohn-Becker, Sophie Taeuber-Arp und Séraphine Louis. Zwei der lebenden Künstlerinnen wohnten im Ausland, Barbara Hepworth und Maria Helena Vieira da Silva. Gabriele Münter und Emy Roeder jedoch lebten in Deutschland. Von beiden unterhielt Roeder die engsten Beziehungen zum Leitungsteam der documenta. Roeder hatte den Kunsthistoriker Werner Haftmann bereits in den 1930er Jahren kennengelernt, lange bevor er zu einem der Gründungsväter der Kasseler Großausstellung aufstieg.
Als Roeder und Haftmann einander trafen, wohnten beide noch in Italien, genauer in Florenz. Er war dort der junge Assistent am Kunsthistorischen Institut, einer deutschen Einrichtung im italienischen Ausland. Sie war Stipendiatin der Villa Romana, einer ebenfalls deutschen Einrichtung in Florenz, die den Auftrag hatte, Künstler*innen zu fördern. Im März 1938 stellte Haftmann für Roeder ein Dokument aus, das ihr den freien Eintritt in die Florentiner Museen ermöglichte. Dieser Service für die Kunstschaffenden der Villa Romana gehörte zu den vielen Aufgaben von Haftmann als Institutsassistent.
Meine Frage lautete ganz einfach: Was dachte Roeder wohl über die documenta? Wie beurteilte sie die Kunst, die Ausstellung, die Auswahl, ihre Rolle darin oder die der anderen?
Also setzte ich mich in den Zug, um in den Archiven zu forschen, in denen sich ihre Briefe befinden. Ich fuhr nach München und natürlich nach Würzburg, in die Stadt, in der Roeder geboren worden war und in der ihr Nachlass aufbewahrt wird. Zuerst kam die Enttäuschung: Roeder besuchte die documenta 1955 nicht. Zugetragen wurde ihr nur, dass der englische Bildhauer Henry Moore ihre beiden Skulpturen dort gesehen hatte und von ihnen begeistert war. Roeder zeigte in Kassel zum einen die Holzskulptur „Die Schwangere“, zum anderen einen Bronzekopf, ein Bildnis des Malers Hans Purrmann.
Trotzdem konnte ich nicht aufhören, ihre Briefe zu lesen. Mit Roeder traf ich eine Frau, die in den 1950er Jahren den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht hatte, dabei aber schrieb, als würde sie aus der Zukunft auf ihre Gegenwart blicken. Außenseiter sind häufig die originelleren Zeitzeug*innen. Sie bewahren sich einen persönlichen Blick auf die Verhältnisse und haben wenig Interesse daran, dass die Dinge bleiben, wie sie sind. Sie ziehen keine Vorteile daraus, ihre Zeit zu beschönigen oder sogar zu glorifizieren. Also machte sich Roeder zum Beispiel über die Männerlastigkeit der Kunstwelt lustig und die Tatsache, dass von allen ihren Werken die am erfolgreichsten wurden, die berühmte Männer darstellten. So schrieb sie 1954 an den Künstlerfreund und expressionistischen Maler Karl Schmidt-Rottluff:
„In meiner Biografie wird einmal zu lesen sein, daß sie Spezialistin war für Portraits älterer Herren: Purrmann, Heckel, Schmidt-Rottluff (…).“
Karl Schmidt-Rottluff wiederum teilte Roeders Einschätzung und antwortete ironisch:
„Ihre Portraits werden einmal die Dokumente dieser Zeit sei, die offensichtlich das Zeitalter der alten Männer ist. Ehedem kamen die Leute zwischen 50 und 60 zu ihrer Auswirkung. Wenn es so weitergeht, werden Sie noch Portraits von Mumien machen müssen.“
Roeder hatte außerdem einen Blick dafür, dass sich Vertreter der deutschen Kunstwelt, insbesondere die Sammler, auch weiterhin für Künstler begeisterten, die im Nationalsozialismus ihre größten Erfolge gefeiert hatten. Roeder schrieb 1951, dieses Mal an den Malerfreund Hans Purrmann:
„Wissen Sie, wer der weitaus am meisten verdienende Bildhauer Deutschlands ist? Arno Breker. Da staunt man. Die gesamte Großindustrie des Rheinlands lässt sich u. Familie von ihm porträtieren und gibt noch eine Menge Aufträge. Er fährt in einem großen Reisewagen mit livriertem Chauffeur von Haus zu Haus.“
Am meisten überraschte und bewegte mich aber, was Roeder über einen Künstler schrieb, den sie persönlich gekannt hatte und der 1944 auf der Deportation nach Auschwitz gestorben war. Von Rudolf Levys Bildern[2], dem deutsch-jüdischen Maler, der in Florenz verhaftet worden war, berichtete sie in einem Brief 1946:
„(…) es war wirklich ein tief erregendes Erlebnis einen großen Teil seines Werkes zusammen zu sehen. Die Bilder aus den letzten Jahren sind eigen und stark.“
Den Brief las ich in München und auch hier zeigte sich Roeder als Außenseiterin. Roeder hatte die zitierten Zeilen in Florenz verfasst, der Stadt, in der sie bis Kriegsende ihren Wohnsitz hatte. Auf einmal fügte sich einiges zusammen: Denn Florenz war auch die Stadt, in der Haftmann während seines Militärdiensts weiter eine Wohnung besessen hatte – und in der Rudolf Levy sich von 1940 an versteckte. Mehr noch: Levy bezog sein heimliches Atelier ausgerechnet in einer Pension, die sich im selben Gebäude befand, in der Haftmann als Assistent gearbeitet hatte.
Ich wurde stutzig: Wie nahe waren sich Haftmann und Levy wohl gekommen? Im Gästebuch des Kunsthistorischen Instituts in Florenz findet sich Haftmann auch nach Kriegsbeginn wiederholt als Besucher. Wenn sich Haftmann in den Räumen seines alten Arbeitgebers aufhielt, könnte dann Levy nur wenige Meter über ihm gemalt haben? Was wusste Haftmann über Levy? Das Gebäude selbst steht bis heute in Florenz. Es ist der Palazzo Guadagni.
Wie ich beim Weiterlesen feststellte, kam Roeder in ihrer Korrespondenz immer wieder auf Levy zurück. Sie hielt die Erinnerung an einen Künstlerkollegen wach, der 1933 aus Deutschland fliehen musste und dessen Werke spätestens 1937 unsichtbar wurden, als sie die Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmten. Als Levy in Florenz 1943 verhaftet wurde, waren seine Gemälde bereits aus den renommiertesten deutschen Museen verschwunden, dem Kronprinzenpalais in Berlin etwa, der Hamburger Kunsthalle oder dem Wallraff-Richartz-Museum in Köln.
Was passierte nach 1945?
Die Frage, was aus dem Werk des ermordeten Künstlers Rudolf Levy wurde, ließ mich nach der Lektüre von Roeders Briefen nicht mehr los. Haftmann etwa hatte seine Künstlerbekannten aus der Zeit in Florenz auf die erste documenta 1955 eingeladen: Emy Roeder war dabei gewesen und auch Hans Purrmann, der langjährige Leiter der Villa Romana. Rudolf Levys Gemälde aber fehlten. Sein Name tauchte kurz auf einer Liste auf, die aus einem Arbeitstreffen zur Vorbereitung der documenta stammte. Gezeigt wurde in Kassel 1955 keines seiner Werke. Die ermordeten jüdischen Künstler*innen fehlten auf der ersten documenta. Haftmann präsentierte im Katalog und in der Ausstellung eine Kunstgeschichte der Überlebenden, eine Moderne ohne Mord und Holocaust. 1967 wurde er zum Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie in West-Berlin ernannt (Interview mit Carlo Gentile zum Thema Haftmann).
Aber damit endet die Geschichte noch nicht: Denn 1986 scheint es sich Haftmann anders überlegt zu haben. In dem umfangreichen Bildband „Verfemte Kunst. Bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus“ widmete er Levy plötzlich eine Doppelseite. Haftmann nannte Levy nun einen Künstler, „der heute zu Unrecht fast vergessen“ sei. Und er ordnete ihn den Maler*innen zu, die ihre „hellen Bilder“ aus Italien mitgebracht hätten, „deren freudiges Strahlen sich so ungewohnt in der expressionistischen Verquältheit der deutschen Ausstellungen in den 20er Jahren ausnahm“. Haftmanns Text schließt mit dem überraschenden Appell:
„Auch Levy hielt seine Botschaft während des Exils durch. Man darf sie nicht vergessen.“
Unsere Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ handelt u. a. davon, wie mit Kunst Erinnerungspolitik in Kassel gemacht wurde. An wen man sich in der Nachkriegszeit erinnerte und wen man verschwinden ließ.
Es war die documenta-Teilnehmerin Emy Roeder, die in ihren Briefen nach 1945 immer wieder über den ermordeten Malerfreund Rudolf Levy schrieb. In einem Satz lautet Roeders Lehre für mich: Wer sich für die unerzählten Geschichten der Nachkriegszeit interessiert, hält sich am besten an ihre Außenseiter*innen.
Verweise
[1] Ausgangspunkt der Recherchen war der hervorragende Ausstellungskatalog des Museums im Kulturspeicher (Würzburg) von Henrike Holsing und Marlene Lauter (Hg.), Das Kosmische allen Seins. Emy Roeder. Bildhauerin und Zeichnerin, Berlin 2018.
[2] Zu Rudolf Levy vgl. die herausragende Monographie von Susanne Thesing, Rudolf Levy. Leben und Werk, Nürnberg 1990.
Titelbild: Emy Roeder (1890-1971), Würzburg, 1936 © Museum im Kulturspeicher Würzburg, Nachlass Emy Roeder