documenta – elitär oder demokratisch?
Dorothee Wierling | 17. November 2021
Die documenta machte Karriere als internationales Großereignis mit Festivalcharakter. Von der ersten bis zur zehnten documenta erhöhte sich die Zahl der Besucher*innen um das Fünffache. Dorothee Wierling, Co-Kuratorin der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ schreibt über die Besucher*innenstruktur der Kasseler Kunstschau.
Zeitgenössische Kunst gilt nicht immer gerade als Publikumsrenner – umso erstaunlicher ist die Karriere der documenta, die mit ihrem Bekanntheitsgrad, ihren steigenden Publikumszahlen und ihrem entspannten Flair eine der populärsten Kunstereignisse überhaupt geworden ist.
Während des 20. Jahrhunderts – also von der ersten documenta im Jahre 1955 bis zur dX im Jahre 1997 erhöhte sich die Zahl der Besucher*innen während der „100-Tage-Ausstellung“ fast um das Fünffache! Das scheint auf eine wachsende Popularität und Zugänglichkeit der documenta zu verweisen. Und diesen Eindruck wollten die documenta-Macher*innen auch gern vermitteln. Deshalb versuchten sie schon frühzeitig, mehr über das Publikum zu erfahren. In den 1950er Jahren noch wenig professionell wurden 1977, zur documenta 6, erstmals Computer zur Erfassung und Auswertung der Besucher*innendaten eingesetzt – wenn auch jeder Fragebogen noch handschriftlich vom berufenen Fragesteller ausgefüllt wurde. In den 1990er Jahren folgten bereits recht professionelle Untersuchungen, in denen vom Sozialprofil über Anfahrtswege und Gründe für den Besuch bis zur Aufenthaltsdauer der Anreisenden eine ganze Palette von Fragen gestellt und ausgewertet wurde, die vor Allem auch die wirtschaftliche Bedeutung der documenta in Kassel erhellen sollte.
Für die Gesellschaftsgeschichte der documenta ist natürlich die soziale Zusammensetzung der Besucher*innen interessant. Dabei fallen zwei Datensätze besonders auf: die Zusammensetzung nach Alter und die nach dem Bildungsabschluss. Es zeigt sich, dass eine Altersgruppe auf der documenta deutlich überrepräsentiert ist: das sind die jungen Erwachsenen, die 20- bis 40-Jährigen. Während diese in der Gesamtbevölkerung plus-minus 30 Prozent ausmachen, stellen sie ca. 60 Prozent des documenta-Publikums. Noch deutlicher ist die Überrepräsentanz derjenigen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, also Abitur oder sogar einen Hochschulabschluss. Sie machen durchgängig Dreiviertel des documenta-Publikums aus. Die documenta ist demnach im 20. Jahrhundert eine Veranstaltung für jüngere, zum Teil hoch gebildete Menschen. Das lässt sich deshalb so allgemein sagen, weil sich dieses Sozialprofil zwischen 1955 und 1997 in leichten Varianten auf jeder documenta ähnlich darstellt. Aber wie kann das sein, wenn sich die Zahl der Besucher*innen im selben Zeitraum vervielfacht? Wäre dann nicht eine soziale Öffnung, also eine Demokratisierung der documenta zu erwarten? Tatsächlich vollzieht sich sogar das Gegenteil: denn im selben Zeitraum steigt der Anteil der Menschen mit Abitur an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik um das 20-fache!
In ihrer Selbstdarstellung hat die documenta diesen Sachverhalt meist etwas verschämt verschwiegen. Abbildungen des Publikums zeigen häufig junge, moderne Menschen, die sich unbefangen auf der documenta bewegen; Familien und Kinder scheinen willkommen, aufmerksam und neugierig widmen sie sich der ausgestellten Kunst. Vor Allem auf den frühen documenta-Ausstellungen stand dieser Teil des Publikums für den Aufbruch der Bundesrepublik in die Moderne, für deren Offenheit, Toleranz und Internationalität. Private Bilder zeigen dagegen häufiger ein bunt gemischtes Volk, ältere Besucher*innen werden manchmal in einem fast komischen Gegensatz zu der modernen Kunst gezeigt, die sie gerade betrachten.
Die Kunst war aber nicht nur für die alten, sondern für die allermeisten Besucher*innen fremd und unverständlich. Während die documenta anfangs noch darauf baute, dass jeder und jede sich individuell einen Zugang erarbeitete, wurde bald klar, dass die Besucher*innen Erläuterungen, Einordnungen und Führung wünschten. Entsprechende Angebote wurden gern angenommen, und von den zum Teil mehrbändigen Katalogen erhoffte man sich die Möglichkeit zu einem vertieften Studium. Das sprach für das starke Bildungsbedürfnis des Publikums, das sich nicht mit der hilflosen Position des unverständigen Betrachters zufriedengeben wollte. Offene Kritik an der documenta-Kunst war dagegen selten, sie konzentrierte sich auf die öffentlichen Kunstwerke, mit denen die documenta seit den 1970er Jahren in die Stadt Kassel ausgriff. Je jünger aber die Besucher*innen, so scheint es, desto eher erlaubten sie sich unvoreingenommenes Schauen, neugieriges Betasten und unbefangenes Urteilen, darunter auch kritisches Abwehren. Doch die Figur des „hilflosen, alleingelassenen Besuchers“ tauchte in den Presseartikeln zu jeder documenta immer wieder auf.
Dennoch, das Publikum verhielt sich nicht konform und verhielt sich auf der documenta nicht immer wie in einem konventionellen Museum. Der Kulturphilosoph und selbsternannte „Meister der Besucherschule“ auf der documenta, Bazon Brock, unterschied in einem ironischen Artikel seiner Broschüre zur d7 drei Typen von Besucher*innen: den „Spaziergänger“, den „Tempelgänger“ und den „Kulturtouristen“. Letzteren charakterisierte er als den Kunstexperten, der mit schnellem Schritt an der Kunst entlang ging und diese einteilte in „gut, schlecht, gut“. Der „Tempelgänger“ dagegen verharrte ehrfürchtig bewundernd vor jedem Kunstwerk, während der „Spaziergänger“ sich wie ein Flaneur einfach treiben ließ und mal hier mal dort einem einzelnen Kunstwerk Aufmerksamkeit schenkte. Brocks ironische Zuordnung scheint noch heute zutreffend, aber wir können uns fragen, welcher Typus die Zeiten der documenta bis ins 21. Jahrhundert wohl am besten überlebt hat.
Titelbild: Kassel Documenta II, 1977, Fotograf: Michael Schreiber, DHM © Deutscher Jugendfotopreis