Wozu das denn? Ein „falscher“ documenta-Katalog
Dorothee Wierling | 29.1 Dezember 2021
Im Rahmen der Vorbereitungen zur documenta IX (d9) machte ein „falscher“ Ausstellungskatalog aus Textil Furore. Dorothee Wierling, Co-Kuratorin der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ erklärt, was es damit auf sich hatte.
Im Erdgeschoss unserer Ausstellung finden Sie im Themenbereich „Finanzierung“ ein merkwürdiges Objekt im Buchformat, umhüllt mit grobem Baumwollstoff, den die Älteren aus dem Handarbeitsunterricht noch erinnern, mit Kreuzstich bestickt: „Der falsche documenta-Katalog“. Die „Bastelvorlage“ dazu lässt erkennen, dass der „Katalog“ aus Schaumstoff besteht und sonst nichts enthält. Es handelte sich um das Produkt der Textilkünstlerin Annemarie Burckhardt, die diesen „Katalog“ 1990, als die Vorbereitungen für die d9 (1992) noch nicht in vollem Gange waren, auf den Markt brachte, allerdings in einer Auflage von nicht mehr als 20 Stück.
Erst die Reaktion der documenta-Macher verschafften der Künstlerin und ihrem Verlag (Martin Schmitz) in Kassel größere Aufmerksamkeit. Denn jene sahen in dem Produkt eine Verletzung des Markenschutzes der documenta und drohten der Künstlerin mit einer Klage. Nun nahm die Produktion erst richtig Fahrt auf, allerdings in Form der oben erwähnten „Bastelvorlage“. Der Konflikt verschaffte dem Produkt Kultstatus, selbst die Deutsche Bahn warb dafür in ihren schriftlichen „Zugbegleitern“. Die Künstlerin gab sich naiv und behauptete, sie habe doch nur ein „poetisches Kunstwerk zum Thema ‚Buch‘“ schaffen wollen, sei von der harschen Reaktion der documenta überrascht und fände das Produkt sowohl lustig als auch harmlos. Die Medien griffen den Konflikt ironisch auf und betonten, der „falsche“ Katalog habe gegenüber dem „richtigen“ viele Vorteile: er sei leicht, faltbar, auch als Kissen zu gebrauchen und erfülle, auf der hinteren Ablage im Auto, den Hauptzweck des Katalogs, nämlich die oder den Besitzer*in als Kunstkenner*in kenntlich zu machen. Der Geschäftsführer der documenta, Alexander Fahrenholtz, verteidigte das Vorgehen gegen die Künstlerin mit dem Argument, es gehe darum zu verhindern, dass „documenta“ auf jedem Produkt erscheinen und dadurch dessen Verkaufswert steigern könne, wo es doch die documenta selbst sei, die damit „Geschäfte“ machen wolle. Dabei verkannte er nicht nur die Rechtslage – denn der Name der Ausstellung war keineswegs geschützt, lediglich die jeweiligen Logos wurden dem Patentamt gemeldet – schlimmer war die Verkennung der öffentlichen Stimmung, die in der Aktion der documenta-Macher*innen eine Anmaßung und vor Allem eine Humorlosigkeit sah, die dem fortschrittlich-innovativen Image der documenta widersprach. Die documenta-Verantwortlichen gaben schließlich nach – aber die Episode verbindet sich bis heute mit ihnen und der d9.
In unserer Ausstellung steht das Objekt aber nicht nur für eine gelungene künstlerische Provokation, sondern verweist auf größere Zusammenhänge. Die d9 sollte den vorläufigen Höhepunkt eines Trends darstellen, der sich schon seit den 1970er Jahren angedeutet und seitdem Fahrt aufgenommen hatte: Obwohl auch die staatlich garantierte Grundfinanzierung der documenta stetig höhere Budgets aufwies, stiegen die offiziell ausgewiesenen eigenen Einnahmen der documenta exponentiell an, insbesondere durch die Eintrittstickets, deren Anzahl und Preise sich ständig erhöhten; und auch durch die immer teureren, oft mehrbändigen, gewichtigen und aufwendig gestalteten Kataloge, die reißenden Absatz fanden. Hinzu kamen private Spenden, die aber nur einen kleinen Teil der veröffentlichten Zusatzeinnahmen darstellten, denn die Großsponsoren, die seit den 1970er Jahren die documenta co-finanzierten (zuerst Sony, später u. a. auch VW, Reemtsma und die Deutsche Bahn) handelten die Summen und Bedingungen in Geheimverträgen aus, die bis heute unter Verschluss sind.
In dem Maße, wie die documenta private Einkünfte erwirtschaftete, verschob sich ihr Selbstverständnis hin zu einem Unternehmen, das eine bestimmte Marke vertrat, und damit auch auf Markenschutz bedacht sein musste. Ein solches Markenzeichen ist aber nicht nur für das dahinterstehende Unternehmen im Hinblick auf Konkurrenten interessant; seine Bedeutung beruht ja vor Allem auf den Zuschreibungen, die damit für die Konsument*innen verbunden sind. Diese aber, vor Allem die Besucher*innen der documenta, waren nicht nur an der auf der Ausstellung gezeigten Kunst interessiert, sondern auch daran, über die Teilhabe an diesem Ereignis ihren Status als gebildete, aufgeschlossene, unkonventionelle Menschen und damit einen modernen Typus von Bürgerlichkeit nachzuweisen. Ein solches Selbstbild oder auch nur Selbstideal vertrug sich aber schlecht mit der humorlosen Geschäftsmäßigkeit, welche das Team der documenta 9 gegenüber der ironischen Kunst einer Annemarie Burckhardt an den Tag legte. Der Künstlerische Leiter der d9, Jan Hoet, präsentierte sich auf der Ausstellung selbstsicher und selbstironisch, vor Allem auch in der Weise, wie er sich mit seinem Hauptsponsor, der Tabakfirma Reemtsma, identifizierte. Das nahm das Publikum gelassen und zugleich amüsiert zur Kenntnis.