Wozu das denn? Eine Prämienmedaille für impfwillige Eltern

Saro Gorgis | 27. November 2024

In der Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ befindet sich eine Prämienmedaille aus der Sammlung des DHM, die den medizinischen Fortschritt der Pockenschutzimpfung feiert und impfwillige Eltern auszeichnet. Saro Gorgis, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung, erklärt, was die Impfung mit der Aufklärung zu tun hat und warum Medaillen staatliche Impfkampagnen begleiteten.

Das 18. Jahrhundert wird auch als Jahrhundert der Pocken bezeichnet. Mehr noch als die Pest, Cholera oder Kriege trugen die Pocken – zeitgenössisch auch „Blattern“ genannt – zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu einer starken Dezimierung der Gesamtbevölkerung bei. Die Sterberate lag durchschnittlich bei 10-20%,[i] wobei Kinder besonders schwer betroffen waren. Ausgesprochen verheerend wütete das Virus auf dem amerikanischen Kontinent. Von Europäern dorthin eingeschleppt, wurde es im 18. Jahrhundert auch als biologische Kriegswaffe gegen First Nations eingesetzt, um ihren Widerstand gegen die Kolonisierung zu brechen.[ii] 

Einen ersten Schutz gegen die Pocken stellte das Verfahren der Variolation dar, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus Asien nach Europa kam und dort zunächst in England Verbreitung fand: Kinder bekamen eine geringe Menge an Pocken von einem leicht Erkrankten in die Haut eingeritzt, um sie kontrolliert zu infizieren und zu immunisieren. Einen weiteren medizinischen Meilenstein setzte der englische Landarzt Edward Jenner (1749–1823) mit der weitaus risikoärmeren Methode der Vakzination (lat. vacca – Kuh). Jenner hatte 1796 beobachtet, dass der Eiter der deutlich milderen Kuhpocken ebenfalls eine Immunisierung gegen die lebensgefährlichen menschlichen Pocken bewirkte. In der Folge wurden Kuhpockenlymphe entweder direkt von Arm zu Arm verimpft oder mittels Impffäden aufgefangen, in Glasfläschchen verschlossen und an Mediziner und medizinische Laien zur weiteren Anwendung verschickt. Diese entnahmen die Impffäden und brachten das Sekret in eine kleine, mithilfe einer Lanzette zugefügten Wunde ein.[iii]

Vakzinations-Etui mit äußerst selten überlieferten Impffäden, aufbewahrt in Glasröhrchen, Berlin, 1802 © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto: G. Janßen
Ein Vergleich zwischen Impfbläschen (Kuhpocken) und Bläschen nach Pocken-Infektion am 20. Tag nach Erkrankung, William Skelton (Stich, 1763–1848), William Cuff (Vorlage), Vermutlich London, ca. 1800, Aquarell, Radierung, Wellcome Collection, Public Domain Mark

Hatte bereits die Variolations-Methode eine Welle an Aufklärungsschriften auf den Markt gespült – auch Voltaire und Kant beteiligten sich an den Debatten –, warben um 1800 noch mehr Flugblätter, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Broschüren und Bücher für das neue Impfverfahren der Vakzination. Denn neben landwirtschaftlichen Themen war die medizinische Volksaufklärung zum zentralen Gegenstand der Bauernaufklärung geworden. [iv] Nur wenigen Gelehrten ging die Entwicklung zu schnell, etwa dem jüdischen Aufklärer, Arzt und Philosophen Marcus Herz (1747–1803), der vor einer „voreilige[n] Einpfropfung der thierischen Jauche“[v] warnte. Obwohl andere jüdische Gelehrte und Rabbinen die neue Methode begrüßten, stellte die Vakzination für ihn nicht nur ein metaphysisches Problem der Überschreitung physischer Grenzen zwischen tierischem und menschlichem Leben dar. Die zufällige, empirische Entdeckung Edward Jenners widersprach auch seinem rationalen Verständnis von Wissenschaft und Medizin: Die Ursachen von Krankheiten müssten mithilfe von logischen Analogien festgestellt und kuriert werden.[vi]

Von einem ungebremsten Fortschrittsoptimismus und der Überzeugung getragen, das eigene Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können, hofften dagegen viele andere Aufklärer auf eine baldige Ausrottung der gefürchteten Krankheit – und auf einen Mentalitätswandel in der Bevölkerung.  

Doch mit Druckwerken allein ließ sich die breite Bevölkerung nicht überzeugen. Medizinische Argumente und Statistiken verhallten oft ebenso ungehört wie theologisch-moralische und emotionalisierende Appelle an die Eltern. Uneinheitliche Alphabetisierung, Impfkosten, berechtigte Ängste vor Nebenwirkungen und übertragbaren Krankheiten, aber auch traditionelle Einstellungen und Vorstellungen – von Aufklärern oftmals als „Vorurteile“ und „Aberglaube“ abgetan – bremsten die Impfbereitschaft. Die Pocken wurden in der Landbevölkerung als notwendige und natürliche Entwicklungserscheinung, als Reifungs- oder Reinigungsprozess zur Wiederherstellung der vier Körpersäfte, als natürliche Geburtenkontrolle oder auch als göttliche Strafe bzw. als eine Glaubensprüfung verstanden.[vii] Wie bei der Einführung des Blitzableiters zur Mitte des Jahrhunderts, fürchteten die Menschen auch bei dieser medizinischen Errungenschaft den Zorn Gottes, sollten sie sich seiner Vorsehung eigenmächtig widersetzen.

Um die Impfbereitschaft zu steigern, waren also niedrigschwellige Methoden und Angebote erforderlich. Einen großen Kreis von Menschen erreichten Geistliche mit Aufklärungspredigten. Auf dem Marktplatz, dem zentralen Vermittlungsort der Volksaufklärung, fanden öffentliche Lesungen von Belehrungen und öffentliche Impfungen statt.  Das Herzogtum Braunschweig finanzierte kostenlose Impfungen, [viii] ebenso das 1802 gegründete „Königlich-Preussische-Schutzblattern-Impfinstitut” in Berlin, [ix] das jeden Sonntag zwischen 12 und14 Uhr Impfwillige empfing.

Schutzpockenimpfung eines Kleinkindes, Johann Friedrich Bolt (Stich, 1769–1836), Johann David Schubert (Vorlage, 1761–1822), 1807, Radierung © DHM

Eine wichtige Rolle für die Popularisierung spielten außerdem gesellschaftliche Eliten, allen voran Adlige und Mitglieder der Königshäuser, die als Werbeträger und Meinungsmacher auch schon zur Mitte des Jahrhunderts auftraten. Kaiserin Maria Theresia (1717–1818) etwa ließ 1767 nach glücklich überstandener Krankheit ihre Kinder öffentlichkeitswirksam impfen und ein Inokulationshaus für die Bevölkerung in Wien errichten. Infolge ihrer wundersamen Genesung prägte der kaiserliche Medailleur Anton Franz Widemann (1724–1792) eine Jubelmedaille mit dem Schriftzug DEO CONSERVATORI AUGUSTAE [Gott, dem Retter der Kaiserin] und der Datierung OB REDDITAM PATRIAE / MATREM 22 IVLII / MDCCLXVII [anlässlich der wiederhergestellten Mutter des Vaterlandes 22. Juli 1767]. Die Vorderseite zeigt Maria Theresia als Bruststück im rechtsseitigen Profil, auf der Rückseite schwingt die kniende Religio ein Weihrauchfass vor einem Altar.[x]

Medaille auf die Genesung der Kaiserin Maria Theresia von den Pocken, Anton Franz Widemann (Medailleur, 1724–1792), Wien, 1767, Silber © DHM

Medaillen waren seit der Frühen Neuzeit beliebte Sammelobjekte und Wertgegenstände. Auf ihnen ließen sich bildliche und verbale Botschaften mit einer internationalen Reichweite verbreiten. Kein Wunder also, dass Schaumünzen auch im Zusammenhang mit der Anti-Pocken-Prophylaxe geprägt und als materieller Impfanreiz verteilt wurden. [xi] Eine Medaille mit dem Brustbild des „Entdeckers der Schutzimpfung“, Edward Jenner, prägte die Familie Loos in ihrer Berliner Münzwerkstatt.[xii] Auf der Rückseite umtanzen Kinder eine Kuh, die von einem Genius aus den Wolken mit Blumenkränzen geschmückt wird. Die Darstellung ist mit den Worten EHRE SEY GOTT IN DER HÖHE / UND FREUDE / AUF ERDEN eingefasst. Die Medaille war als Prämie für Eltern bestimmt, die ihre Kinder freiwillig impfen ließen.[xiii]

Prämienmedaille an Eltern zur Förderung der Impfung gegen die Pocken, Daniel Friedrich Loos (Medailleur, 1735–1819), Berlin, ca. 1810, Silber © DHM

Erst nach und nach führten einzelne Staaten eine gesetzliche Impfpflicht gegen die Pocken ein. Das Königreich Bayern legte 1807 als erster Staat den Impfzwang fest. Für Preußen galt eine allgemeine Impfpflicht erst mit Erlass des Reichsimpfgesetzes von 1874.[xiv] Russland, Spanien und Portugal blieben auf dem Stand der Impffreiheit.[xv] Ohne eine Pflicht waren staatliche Behörden und Volksaufklärer auf Argumente und kreative Strategien angewiesen, um die Impfbereitschaft zu fördern. Es sollten viele Jahre vergehen, bis die WHO 1979 die Welt für pockenfrei erklärte. Die Pocken sind bis heute die einzige Infektionskrankheit, die durch wissenschaftliche und systematische Bemühungen von der epidemiologischen Weltkarte verbannt werden konnte.  


[i] Vgl. Marcus Sonntag, Pockenimpfung und Aufklärung. Die Popularisierung der Inokulation und Vakzination. Impfkampagne im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Bremen 2014, S. 14.

[ii] Vgl. Andrew M. Wehrman, The Contagion of Liberty. The Politics of Smallpox in the American Revolution, Baltimore, Maryland 2022, S. 33.

[iii] Vgl. Roland Schewe und Barbara Leven, „Scharf, spitz und durchsichtig. Seltene Impfutensilien, ihre Geschichte(n) und ein unerwartetes Paradoxon“, in: KulturGut. Aus der Forschung des Germanischen Nationalmuseums, III. Quartal, H. 70. (2021), S. 10, DOI: https://doi.org/10.11588/kg.2021.70.82667

[iv] Vgl. Holger Böning, Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 15, H.1 (1990), S. 7.

[v] D. Marcus Herz an den D. Dohmeyer, Leibarzt des Prinzen August von England über die Brutalimpfung und deren Vergleichung mit der humanen. Zweiter, verbesserter Abdruck, Berlin 1801, S. 12.

[vi] Herz 1801, S. 32; Vgl. David B. Ruderman, „Some Jewish Responses to Smallpox Prevention in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Century: A New Perspective on the Modernization of European Jewry“, in: Aleph, Nr. 2 (2002), S. 140.

[vii] Vgl. Sonntag 2014, S. 50.

[viii] Vgl. Sonntag 2014, S. 137.

[ix] Ragnhild Münch, Pocken. Zwischen Alltag, Medizin und Politik, Berlin 1994, S. 73f.

[x] Vgl. Holzmaier, Eduard: Katalog der Sammlung Dr. Josef Brettauer, Medicina in Nummis, Wien 1937, Vgl. Nr. 1571.

[xi] Vgl. Marien C. Biederbick, „Medaillen als Mittel der Impfpopularisierung“, in: VIRUS – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Nr. 20 (2021).

[xii] VGl. Klaus Sommer, Die Medaillen des königlich Preußischen Hof-Medailleurs Daniel Friedrich Loos und seines Ateliers, Osnabrück 1981, A 104.

[xiii] Vgl. ebd. Sommer 1981, A 104; Münch 1994, S. 74.

[xiv] Vgl. Wolfram Kerscher, Der preußische Weg zum Impfzwang. Die Entwicklung der preußischen Pockenschutzimpfung 1750–1874, Bonn, 2011, S. 65.

[xv] Vgl. ebd. 72.

Saro Gorgis

Saro Gorgis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert” am Deutschen Historischen Museum.