Gregor Gysi
 
 
Rechtsanwalt, Mitglied des Deutschen Bundestages
gehörte in der DDR zu den wenige Rechtsanwälten, die Systemkritiker und Bürgerrechtler verteidigten.
 
 
 
   
Liebe Freunde, ich spreche eigentlich frei, ich habe mir diesmal etwas aufgeschrieben, damit ich auch danach noch weiß, was ich gesagt habe. Ich möchte Sie zunächst begrüßen und beglückwünschen und nicht nur Sie, sondern auch das Präsidium der Volkspolizei zu dieser größten Demonstration in der Geschichte der DDR, die als erste nicht von oben, sondern von unten organisiert, aber auf dem Rechtsweg beantragt und genehmigt worden ist. Ich hoffe sehr, daß diese Demonstration gewaltfrei bleibt und dadurch ein Stück gewonnene Kultur wird.
Vor wenigen Wochen im Deutschen Theater sagte ich, unser Ziel muß sein, daß die Polizei friedliche Demonstranten schützt und damit dem Namen Volkspolizei rechtfertigt. Heute zeigte sich, in welch kurzer Zeit hier ein erheblicher Fortschritt möglich war. Die ungenehmigten Demonstrationen der letzten Wochen haben sicherlich ihren Beitrag zur Wende in unserm Land geleistet. Und wir werden uns hoffentlich an rechtlich genehmigte und geschützte Demonstrationen als Ausdruck politischer Kultur gewöhnen müssen. Aber wir wissen, daß jetzt andere Formen noch wichtiger werden; neue politische Strukturen, wirksame Parlamentsarbeit, neues, ökonomisches Denken und vor allem der Ausbau der Rechtsordnung. Sie haben gerade zwei Artikel der Verfassung und einige Paragraphen des Strafgesetzbuches gehört. Alle Paragraphen aus dem Kapitel Staatsverbrechen und Straftaten gegen die staatliche Sicherheit. Vielleicht verstehen jetzt einige besser, weshalb die Rechtsanwälte in ihrer leider vom ADN nicht vollständig, aber doch in wesentlichen Teilen veröffentlichten Erklärung ein neues Strafrecht und vor allem Überarbeitung dieser beiden Artikel gefordert haben. Diese Strafbestimmungen sind geprägt von einem übertriebenen und falsch verstandenen Sicherheitsbedürfnis, obwohl doch klar ist, daß die beste Staatssicherheit immer noch die Rechtssicherheit ist.

Die Verfassung selbst ist gut, obwohl auch sie entwickelt werden kann. Vor allem gilt es aber, Grundrechte der Bürger nach der Verfassung auszubauen und zu sichern. Kein Gemeinwesen kommt gegenwärtig ohne Staat aus. Auch wir brauchen den Staat und Staatsautorität. Und niemand kann ein Interesse daran haben, daß die glücklicherweise geringe Kriminalität in der DDR steigt. Auch wir brauchen eine Kontrolle des Volkes durch demokratisch gewählte Kontrollgremien über den Staat, auch über seine Sicherheitsbereiche.

Jeder Machtmißbrauch muß ausgeschlossen oder doch zumindest streng geahndet werden. Wir brauchen ein neues Wahlrecht und das nun auch offiziell vorgeschlagene Verfassungsgericht. Und wir brauchen mehr Rechtsanwälte. Meine bitte an den Magistrat von Berlin , gebt uns endlich Räume, damit wir Rechtsanwälte aufnehmen können, nicht für uns, sondern zur Erhöhung der Rechtsicherheit der Bürger. Wenn ich versuchen würde, Forderungen nach Dienstleistungen und Rechtsstaatlichkeit in einem Satz zusammenzufassen, dann würde ich sagen, jeder Haushalt soll über ein Telefon verfügen und die Bemerkung, daß möchte ich Dir lieber nicht am Telefon sagen, sollte für immer der Geschichte angehören. Ohne es jetzt näher ausführen zu können, möchte ich sagen, wir brauchen ein neues Verhältnis von Politik und Recht und ein gänzlich neues Verhältnis zur Wahrheit. Und die Frage der Zulassung des Neuen Forums sollte zügig und rechtsstaatlich entschieden werden.

Wenn die Rechtsanwälte heute im Unterschied zu anderen nach wie vor das Vertrauen der Bürger genießen, wie ich hoffe, dann deshalb, weil wir uns nicht beirren lassen und - wenn auch ohne Erfolg - konsequent zum Beispiel den Freispruch für Walter Janka beantragten. Wir haben einfach die Rechte und Interessen unserer Mandanten sehr ernst genommen, vielleicht hätten wir noch mehr tun müssen, aber dazu hätte fast ein Übermaß an Zivilcourage gehört. Deshalb muß ein Ziel darin bestehen, Bedingungen für ein Höchstmaß an Zivilcourage zu schaffen.

Da ich weiß, daß es viele Diskussionen zur Person von Egon Krenz gibt, will ich zu ihm etwas sagen. Viele haben vor einigen Monaten im ZDF gehört, was Egon Krenz zu den Ereignissen in China gesagt hat und vielen wird dies nicht gefallen haben. Mir auch nicht. Aber ich weiß von meinen Leipziger Kollegen, und sie wissen, Anwälte wissen immer etwas mehr, als sie sollen und dürfen, daß Egon Krenz am 9. Oktober 1989 in Leipzig die Hauptverantwortung für die Entscheidung trug: chinesische Lösung oder demokratische Wende. Und er entschied sich für die zweite Alternative, obwohl er noch nicht wußte, ob dies die Billigung der Führung am nächsten Tag finden würde. Damit hat er einen Beitrag zur Rettung dieses Landes geleistet. Diese Tat wiegt für mich schwerer als die früheren Worte, und deshalb, finde ich, verdient er doch eine Chance, und das Maß an Vertrauen, daß zur Ausübung seiner Funktion nötig wird.

Allerdings, und das sage ich genauso deutlich, keinen ersten Mann der Partei und des Staates mehr ohne demokratische Kontrolle oder mit absolutistischen Herrschaftsformen und nie wieder mit Zügen von Personenkult. Und zeitliche Befristungen, wie vorgeschlagen, von solchen Funktionen brauchen wir ebenso wie umgekehrt den Richter auf Lebenszeit. Ich bin, und ich weiß, da bin ich mit vielen nicht einig, für die führende Rolle der Partei, aber ganz und gar gegen ihre Alleinherrschaft. Sie ist meines Erachtens ökonomisch durch das Volkseigentum bedingt, aber verfassungsrechtliche Verankerung, wenn sie dann überhaupt sein muß, ist viel weniger als die halbe Miete. Entscheidend ist, daß sie täglich politisch und ethisch gerechtfertigt wird. Die Partei muß sich erneuern. Wir haben keine ordentlichen Zeiten und können deshalb auch nicht auf den ordentlichen Parteitag warten.

Die außerordentliche Zeit verlangt außerordentliche Maßnamen. Noch einen Satz zu unserer Sprache. Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Vielen Dank.

 
     
 
Audiodateien im MP3-Format:
1
(429 KB)
2
(2.95 MB)
3
(1.2 MB)