Im
Laufe des Jahres 1989 hatte die VR Ungarn seine Grenzanlagen
zum Nachbarland Österreich stark reduziert und stellenweise
sogar ganz abgebaut. Bislang waren ausreisewillige DDR-Bürger
auf die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland
angewiesen und die Jahre zuvor auf das ordnungsgemäße Stellen
eines Ausreiseantrages beim zuständigen Ministerium des Innern
und seinen untergeordneten Abteilungen. Nunmehr eröffnete
sich erstmals nach 1961 eine weitere Möglichkeit, der DDR
endgültig den Rücken kehren zu können.
Wer
in dieser Zeit nach Ungarn reiste, von dem nahmen Freunde
auch dann gründlich Abschied, wenn das Thema Ausreise in den
letzten Gesprächen nicht zur Debatte stand. Forciert durch
Äußerungen des Generalsekretärs der SED und Vorsitzenden des
Staatsrates der DDR, Erich Honecker, dass die Mauer noch hundert
Jahre bestehen werde, endgültig enttäuscht durch die moralische
Unterstützung der SED-Führung für die blutige Niederschlagung
des Aufstandes in China und angewidert durch ein realitätsfernes
Szenario für die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag
der DDR, kam eine Massenausreise in Gang.
Jene
die hierblieben, deuteten die Zeichen teils besorgt - wie
würde die Staatsmacht reagieren? - teils knüpften sie ihre
Hoffnungen daran, daß politische Veränderungen in der DDR
nun unvermeidlich seien, da die große Zahl Ausreisewilliger
kaum mehr zu ignorieren sei. Die ersten Reaktionen mußten
die Hoffenden enttäuschen: die DDR-Führung war nach wie vor
starrsinnig darum bemüht, die Farce von der Attraktivität
und ökonomischen Stabilität des Sozialismus aufrechtzuerhalten.
12.August
Am
Vorabend des 28. Jahrestages des Mauerbaus veröffentlicht
das Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, einen Beitrag,
in dem es unter anderem heißt: "Die Mauer wird nicht niedergelegt,
solange die Bedingungen weiterbestehen, die zu ihrer Errichtung
führten, und solche Bedingungen bestehen weiter".
14.August
In Ost-Berlin werden Erich Honecker erste Funktionsmuster
von 32-Bit-Prozessoren aus dem Kombinat Mikroelektronik in
Erfurt übergeben. Honecker sagt in seiner Rede, dass "das
Triumphgeschrei westlicher Medien über das 'Scheitern der
sozialistischen Gesellschaftskonzeption' nicht das Geld wert
ist, das dafür ausgegeben wird. Den Sozialismus in seinem
Lauf halten weder Ochs noch Esel auf".
18.August
Neues Deutschland veröffentlicht einen Kommentar zum 21. Jahrestag
des Einmarsches von fünf Staaten des Warschauer Vertrages
in die CSSR. Darin wird die militärische Intervention von
1968 als der einzig mögliche Weg, "eine Veränderung des politischen
und militärischen Kräfteverhältnisses zugunsten des Imperialismus"
zu verhindern, gerechtfertigt.
24.August
Die Volksrepublik Ungarn gestattet 108 DDR-Bürgern, die sich
in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest aufhielten, aus
humanitären Gründen die Ausreise nach Österreich. Die Ausreisenden
werden mit Dokumenten des Internationalen Komitees vom Roten
Kreuz versehen. Kurz zuvor gelangten 661 DDR-Bürger, die an
einem "Paneuropäischen Picknick" an der österreich-ungarischen
Grenze teilgenommen hatten, ungehindert nach Österreich. In
der DDR-Führung herrschte Sprachlosigkeit. Die inzwischen
unübersehbare Ausreisewelle wurde weiterhin ignoriert; Erich
Honecker meldete sich im Neuen Deutschland vom 29. August
1989 zu Wort und bedankte sich fur die Glückwünsche zu seinem
77. Geburtstag, den er kurz zuvor begangen hatte.
Die
Bevölkerung indes dürfte sich einig gewesen sein: "Ochs and
Esel" konnten den Lauf des Sozialismus in der Tat nicht aufhalten,
wohl aber die Massen überwiegend junger und qualifizierter
Leute, die beschlossen hatten, den Sozialismus zukünftig sich
selbst zu überlassen. Inmitten der Ausreisewelle kam es in
Leipzig und anderswo immer öfter zu Demonstrationen. Eine
Zeitlang bestimmt durch Ausreisewillige, die ihren Forderungen
nach Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft Nachdruck verleihen
wollten, wandelte sich Anfang September der Charakter jener
ersten "Demokratie-Übungen". Diejenigen, die bewußt hierbleiben
wollten, traten mehr und mehr in den Vordergrund und der Tenor
hieß "Reisefreiheit statt Massenflucht". Partei- und Staatsführung
und die in deren Auftrag handelnden Sicherheitsorgane wollten
darin jedoch keinen Unterschied bemerken. In der DDR, die
mit dem Problem zu kämpfen hatte, daß immer mehr Bürger ihr
auf Nimmer-Wiedersehen den Rücken kehrten, kam es zu der absurden
Situation, daß diejenigen, die sich zu ihr bekannten, verfolgt,
bestraft und als staatsbedrohend eingestuft wurden. Die
Gehenden wurden abgeschrieben und im Jargon des Kalten Krieges
lieferte man postwendend Erklärungen nach bekannten Mustern
nach.
10.September
Die ungarische Regierung gibt in der Hauptstadt Budapest ihre
Entscheidung bekannt, ab 0.00 Uhr des 11.9. DDR-Bürger, die
sich in Ungarn aufhalten, in ein Land ihrer Wahl ausreisen
zu lassen. Die Entscheidung wird unter Berufung auf international
anerkannte Prinzipien des Menschenrechts und humanitäre Aspekte
legitimiert.
11.September
Eine riesige Flüchtlingswelle in Richtung Bayern wird von
ADN unter der Überschrift "Der große Coup" kommentiert. Der
Zeitpunkt der Aktion sei nicht zufällig der Vorabend des 40.
Jahrestages der DDR. "Hier wirken die Gesetze des Klassenkampfes
unbarmherzig. Nicht jeder hält diesen Anforderungen und Belastungen
stand und verläßt sein Vaterland unter der psychologischen
Kriegsführung des Gegners". Etwa zeitgleich kommt es bei der
Leipziger "Montagsdemo" zu zahlreichen vorläufigen Festnahmen
unter denen, die "der psychologischen Kriegsführung des Gegners"
eben nicht erlegen waren. 19.September Das Neue Deutschland
publiziert einen Bericht über "Menschenhandel". Unter Versprechungen,
Verlockungen, durch sämtliche Methoden unverhüllter Abwerbung
und psychologischen Drucks seien DDR-Bürger veranlaßt
worden über Drittländer ihre Heimat zu verlassen. Bei der
montäglichen Demonstration in Leipzig waren einen Tag zuvor
mehr als hundert Menschen festgenommen worden. Wo Massenflucht
durch Reisefreiheit ersetzt werden sollte, standen demokratische
Grundforderungen und Forderungen nach elementaren politischen
und bürgerlichen Freiheiten ins Haus - zumal die Hierbleibenden
nicht um jeden Preis bleiben wollten. Sie wollten den durch
die Ausreisewelle entstandenen Druck ausnutzen, um zu sagen,
was jetzt endlich verändert werden müsse, damit man guten
Gewissens bleiben kann. Die Proteste richteten sich inzwischen
auch gegen Wahlfälschungen bei den Wahlen zur Volkskammer.
Der Ausreisewelle eine Demokratisierungswelle entgegensetzen!
- das schien die einzig reale Alternative zum Massenexodus.
Und sie bestimmte nicht nur das Selbstverständnis des am 9.
and 10. September 1989 gegründeten Neuen Forum.
Die
Ostberliner Malerin Bärbel Bohley hatte zusammen mit 29 Gleichgesinnten
im Haus des verstorbenen Re-gimekritikers Robert Havemann
den politischen Club gegründet, der in der Folgezeit zu einer
Bürgerbewegung anwachsen sollte, die auf allen wichtigen Kundgebungen
der Wendezeit eine wichtige Rolle spielte. "Wir hatten die
Machthaber herausgefordert. Dem Vorbild der polnischen Bürgerbewegung
folgend, hatten wir Namen, Beruf und Adresse veröffentlicht.
Bei jedem von uns klingelte es pausenlos, Westreporter und
Ostsympathisanten im Wechsel." 7
Neben dem Neuen Forum war unmittelbar zuvor
die Vereinigte Linke als Alternative zum diskreditierten Sozialismus
gegründet worden. Diskreditiert, aber nicht aufgegeben, sollte
der Sozialismus mit neuen Inhalten gefüllt werden. Die informellen
und kritischen Gruppen verließen den Schutzraum der Kirche.
Anfang
Oktober bildete sich eine Initiative zur offiziellen Konstituierung
des Demokratischen Aufbruch-sozial und ökologisch. Die ersten
Gründungstreffen datierten jedoch bereits Anfang August. Die
Mitglieder ebenfalls (noch) auf DDR und Sozialismus festgelegt.
Wenig später, nach einer Delegiertenversammlung im Oktober,
wird die Gruppierung öffentlich ihr Vorhaben erklären, sich
als Partei zu konstituieren. Weitere Gründungen folgten. Die
Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP), von ihrem Bemühen
um Organisationsstruktur am konsequen-testen, die Bürgerbewegung
Demokratie Jetzt, die Gruppierung Initiative für Frieden und
Menschenrechte,eine Initiativgruppe zur Gründung einer Grünen
Partei u.a. bildeten sich. Die größte symbolische Bedeutung
als Bürgerbewegung wird beim Neuen Forum bleiben, waren doch
seine Gründer als Erste an die Öffentlichkeit gegangen. Allen
Gruppen waren jedoch Probleme beim Übergang von der informellen
Arbeit zur formellen Struktur gemeinsam. Zugleich konnte der
gewohnte alternative und antipolitische Gestus der DDR-Opposition
nur mühsam abgestreift werden, ein Umstand, der es den neuen
Gruppierungen erschwerte, demokratische Formen zu schaffen,
welche die Integration des ständig wachsenden Kreises Engagierter
ermöglichten.
Diejenigen,
die im Sommer 1989 noch geglaubt hatten, für diesen Übergang
einige Zeit
beanspruchen zu können, mußten plötzlich mit den sich überstürzenden
politischen Ereignissen Schritt halten. In den grundlegenden
Zielstellungen waren sich viele der Gruppen durchaus einig:
Eine grundsätzliche Demokratisierung wurde ebenso angestrebt
wie die dazugehörige Befreiung der Gesellschaft von der Herrschaft
der einen Partei.
Dazu
mußte die staatstragende Lüge aufgedeckt werden, daß diese
Partei die Interessen des Volkes repräsentiert. Das wiederum
erforderte sofortige öffentliche Präsenz, die nicht selten
zu Lasten der strategischen programmorientierten Arbeit ging.
Eine Tatsache, die sich später rächen würde. Zugleich eine
Tatsache, die weniger dem Unvermögen, als dem ungeheuren Tempo
der politischen Veränderungen geschuldet waren, an dem diese
Gruppen alle große Anteile hatten.
3.
September
Die abendliche DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera meldet:
"Ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag ist eingegangen,
wurde geprüft und abgelehnt. Ziele und Anliegen der beantragten
Vereinigung widersprechen der Verfassung der DDR und stellen
eine staatsfeindliche Plattform dar." Das Neue Forum war verboten,seine
Aktivitäten wurden dem Bereich des DDR-Strafrechts überantwortet.8
Natürlich gab es mehr als zwei Unterschriften,
aber »die Unterschriftensammlung zur Gründung ist nicht
genehmigt gewesen und folglich illegal". 29. September Außenminister
Hans-Dietrich Genscher gibt 7000 in der bundesdeutschen Botschaft
in Prag wartenden Flüchtlingen bekannt, daß sie mit Zustimmung
der DDR-Behörden ausreisen werden. Die Ausreisenden werden
wenige Tage später mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über
das Territorium der DDR in die Bundesrepublik gefahren.
4.
Oktober
Mehr als 3000 Menschen finden sich in Dresden auf dem Hauptbahnhof
ein, um sich Zugang zu den Flüchtlingszügen zu verschaffen.
Polizei- und Sicherheitskräfte gehen unter Einsatz von Schlagstöcken
and Wasserwerfern gegen die Menge vor. In Dresden kommt es
zu einer Straßenschlacht, in deren Verlauf die Fenster front
des Bahnhofes zu Bruch geht, etliche Autos umgekippt oder
in Brand gesetzt werden. An den Grenzübergängen wurde Anfang
Oktober zahlreichen Bundesbürgern and Ausländern die Einreise
in die DDR verwehrt. Man wollte ganz richer gehen, den 40.
Jahrestag der DDR ungestört feiern zu können - Fackelzug der
FDJ 9 am Vorabend,
Militärparade der NVA am Feiertag selbst, ein Anachronismus
und zugleich der letzte in der Geschichte der Deutschen Demokratischen
Republik.
Michael
Gorbatschow war Ehrengast zum Staatsfeiertag. Im »ausführlichen
Meinungsaustausch« mit Erich Honecker am 7.Oktober führte
Gorbatschow aus, daß kein Land umhinkomme, sich auf diese
oder jene Weise zu verändern. "Wer zu spät kommt, den
bestraft das Leben", sagte Gorbatschow bereits einen
Tag zuvor ahnungsvoll in Berlin. Dieser Satz Gorbatschows
wurde zu einem Symbol der Wendezeit im Osten. Seit Beginn
der Ära Gorbatschow war die Sowjetunion als wichtigste Stütze
des Gebildes DDR in der Tat ein unsicherer Faktor geworden.
Von Gorbatschows Glasnost-Politik versprachen sich viele DDR-Bürger
die Initialzündung für Öffnung und demokratische Umgestaltung
im eigenen Land. Beides blieb aus. Im Oktober 1989 jedoch
waren die Weichen gestellt.
Aktivität
and Engagement der Oppositionsgruppen,
Mut und Einsatz einzelner Personen, die auch gegen den Willen
der Kirchenleitung durchgeführten regelmäßigen Friedensgebete
in der Leipziger Nikolaikirche sorgten nicht zuletzt dafür,
daß Montag für Montag mehr Menschen in Leipzig auf die Straße
gingen und u.a. ihren Zorn darüber zum Ausdruck brachten,
daß trotz der brisanten Situation die Inszenierung der jährlich
wiederkehrenden Lobeshymnen auf den DDR-Sozialismus in gewohnter
Weise stattfinden sollte.
7.
Oktober
In den Abendstunden kommt es in zahlreichen Städten zu Demonstrationen
für grundlegende Reformen. Unter anderem gehen Menschen in
Leipzig, Dresden, Potsdam, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt und
Ost-Berlin auf die Straße. "Freiheit, Freiheit" und "Wir bleiben
hier", schallen die Sprechchöre vor dem Ost-Berliner Palast
der Republik. Polizei und Sicherheitskräfte versuchen die
Demonstrationen gewaltsam aufzulösen.
Es
kommt zu zahlreichen Verhaftungen und MißhandIungen.10
8.
Oktober
Die offizielle DDR-Nachrichtenagentur ADN meldet, daß am Vortag
Randalierer versucht hätten, die Feierlich- keiten und Volksfeste
zum Jahrestag der Republik zu stören. Im Zusammenspiel mit
westlichen Medien sei es zu Zusammenrottungen gekommen, bei
denen republikfeindliche Parolen gerufen wurden. Die Rädelsführer
seien festgenommen worden. Am Abend des 8. Oktober kommt es
erneut zu Demonstrationen und zu Festnahmen.
9.
Oktober
In Leipzig findet die bisher größte Demonstration des Herbstes
statt. Etwa 70 000 Menschen gehen nach dem traditionellen
Friedensgebet für umfassende Reformen auf die Straße. Die
Demonstration verläuft ohne Zwi- schenfälle, obwohl zu den
Sicherheitskräften auch Betriebskampfgruppen gehören, die
zuvor ihren Willen, zum
Schutz der sozialistischen Errungenschaften gegen konterrevolutionäre
Aktionen notfalls mit der Waffe vorzugehen, angekündigt hatten.
Alle
Initiatoren der Demonstration hatten nachhaltig zu Gewaltlosigkeit
aufgerufen. Der letzte Staatsfeiertag der DDR verlief nicht
ohne Zwischenfälle. Die Aufklärung der Regierung durch das
Volk war gründlich: "Wir sind das Volk", machte deutlich,
daß es nicht länger möglich sein würde, in einem sozialistischen
Land, in dem noch jede Hauptaufgabe zum Wohle des Volkes gestellt
und gelöst wurde, die Souveränität des Volkes ausschließlich
per Demokratischem Zentralismus zu gewährleisten.
"Wir
sind keine Rowdys", nahm jeweils die Medienente vom kommenden
Tag vorweg. Das Volk steht im Mittelpunkt ... und stört, erzählte
der Volksmund seinen Witz in den besten Tagen der DDR. Das
Volk stellte sich in den Mittelpunkt, statt sich an den Imbißbuden
seines Volksfestes anzustellen ... und störte tatsächlich.
Und zwar so, daß nach dem 40. Jahrestag der DDR allerorten
von Öffnung gesprochen wurde.
Seien
es die Präsidien der Akademie der Künste oder des Kulturbundes,
die die Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter
Meinung einklagten, das Politbüro der SED, dem auf seiner
Sitzung vom 11. Oktober plötzlich einfiel, daß es ihm nun
doch nicht gleichgültig sei, wenn Menschen, die hier arbeiten
and leben, sich von der DDR lossagen, oder der Berliner Bürgermeister
Krack, der gegenüber Vertretern der evangelischen Kirche der
DDR von ausgeweiteten Reisemöglichkeiten und einer neuen Medienpolitik
sprach.
Am
16. Oktober
kam
es in Potsdam zu einem ersten Gespräch zwischen Repräsentanten
von Stadt and SED-Bezirksleitung und Vertretern des drei Wochen
zuvor noch verbotenen Neuen Forum. Zwei Tage später fand die
9. Tagung des Zentralkomitees der SED statt: Erich Honecker
wurde aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Generalsekretär
des ZK entbunden und trat zugleich von seinen Funktionen als
Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen
Verteidigungsrates der DDR zurück. Mit ihm mußten Günter Mittag,
als Verantwortlicher für die Wirtschaft und Joachim Herrmann,
verantwortlich für Agitation und Propaganda, gehen.
Der
neue Generalsekretär des ZK der SED hieß Egon Krenz. Krenz
wurde ad hoc zum bestgehaßten Mann in der DDR, wie unter anderem
die Plakate und Transparente der Demonstration vom 4. 11.89
später zeigen werden. "Ohne Tisch and Mittag können wir auch
aufs Kaffee-Krenzchen verzichten", wird am 4. November in
zig Variationen demonstriert werden."11
Am Abend seiner Wahl hielt Krenz eine Fernsehansprache
im DDR-Fernsehen. Er sprach vom ernstgemeinten innenpolitischen
Dialog.
In
den letzten Jahren als "Kronprinz" apostrophiert, wußten die
DDR-Bürger, daß Krenz sowieso früher oder später Honeckers
Nachfolge antreten würde. Mit ihm hatte die SED einen Generalsekretär,
der weite Teile der Bevölkerung und der SED selbst an der
Erneuerungsfähigkeit der Partei zweifeln ließ. War mit der
Ablösung Honeckers zumindest klar geworden, daß auch die Mächtigen
begriffen hatten, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen
kann, so bedeutete das noch lange nicht, daß sie wußten, wie
es weitergehen wird. Die Halbherzigkeit, welche die SED-Führung
12 bereits mit
dem ungeliebten Honeckernachfolger Krenz offenbarte, sprach
zugleich davon, daß alle Erneuerungsangebote von oben immer
ein Stück zu spät kamen.
Was
Bürgerbewegungen und Demonstranten bereits erzwungen hatten,
wurde kurz darauf als Angebot des Tages gehandelt. Nie war
die Geschichte vom Hasen und vom Igel so populär, wie in diesen
Tagen. "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, eh er nicht
mit der Lüge bricht", werden Demonstranten am 4.November in
Berlin die Situation beschreiben. Freilich wußten auch sie
nicht, wie dieses mit der Lüge brechen aussehen sollte. Es
sei denn, sie meinten: keiner der höchsten Repräsentanten
habe mehr das Recht, eine DDR zu repräsentieren, welche durch
jene politischen Eigenschaften gekennzeichnet war, die auf
der Straße erstritten wurden. Der status quo '89 wurde von
unten hergestellt, warum sollte er von oben als Errungenschaft
ausgegeben werden können. Diese Opposition kennzeichnete das
Grundgefühl eines großen Teils der Bevölkerung.
Den
Offenbarungseid auf eine Bereitschaft zur radikalen Öffnung
leisteten dann doch nahezu alle Institutionen, Organisationen
und offiziellen
Personen der DDR - nicht allen vermochte man zu glauben.
24.
Oktober
Im Berliner Haus der jungen Talente in der Klosterstraße findet
am Abend eine Podiumsdiskussion zum Thema "DDR - wie ich sie
träume" statt. Anwesend waren unter anderem die Schriftsteller
Stephan Heym und Christoph Hein, der stellvertretende Kulturminister
Hartmut König, der ehemalige stellvertretende Minister für
Staatssicherheit der DDR Markus Wolf, Bärbel Bohley und Jens
Reich vom Neuen Forum und Philip Dyck vom Zentralrat der Freien
Deutschen Jugend. Damit saßen Vertreter eines äußerst breiten
Meinungsspektrums in einer Konstellation zusammen, die zwei
Wochen zuvor noch undenkbar gewesen wäre. "DDR - wie ich sie
träume", am Abend; Krenz' Wahl zum Staatsratsvorsitzenden
und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidi- gungsrates am
Morgen desselben Tages.
Podiumsdiskussion
am Abend; 12 000 empörte Demonstranten am Morgen als Reaktion
auf die Krenz-Wahl. "DDR - wie ich sie träume"; und die Realität
sich überschlagender politischer Ereignisse - das waren die
extremen Polarisierungen in diesen Tagen.
26.
Oktober
Auf einer Tagung des Zentralrates der FDJ erklärt dessen 1.
Sekretär Eberhard Aurich die Bereitschaft der FDJ zu Dialog
and Erneuerung. Keine Tabus mehr in Zukunft, verspricht Aurich,
weder inbezug auf Themen, noch Personen oder politische Überzeugungen.
Zu spät allerdings, um dem einsetzenden Mitgliederschwund
etwas Wirksames entgegenzusetzen.
27.
Oktober
Der Staatsrat der DDR beschließt eine Amnestie. Diese Amnestie
garantiert einen Straferlaß für Bürger, die geflüchtet waren,
bei Fluchtversuchen gefaßt worden waren oder bei ihrer Teilnahme
an Demonstrationen Straftaten gegen die staatliche and öffentliche
Ordnung begangen haben sollten.
Bis
zum 30. November sollten alle wegen dieser Vorwürfe in Haft
befindlichen Personen entlassen werden und auf umfassende
Unterstützung bei der Wiedereingliederung zählen dürfen.
30.
Oktober
In Leipzig kommt es zu einer weiteren Demonstration. Mehr
als 200 000 Menschen nehmen daran teil. Die DDR- Nachrichten-Sendung
Aktuelle Kamera berichtet mit einer Live-Schaltung. Am selben
Tag geht Karl-Eduard von
Schnitzlers Ära im Schwarzen Kanal zu Ende. Schnitzler
hatte 1519 mal im Fernsehen der DDR Ausschnitte aus dem Westfernsehen
gezeigt und kommentiert.
Die
wenigen Tage bis zum 4. November 89 brachten weitere Neuigkeiten.
Ein umfassender Personalwechsel in Institutionen und Organisationen
war in Gang gekommen. Wie stark die Erleichterung darüber
war, wird u.a. den Botschaften der Demonstration vom 4. 11.
89 zu entnehmen sein.
Harry
Tisch, Politbüromitglied und Vorsitzender des Freien Deutschen
Gewerkschaftsbundes der DDR, trat am
2. November von seinem
Posten zurück, nachdem er zwei Tage zuvor auf einer Sondersitzung
des Bundesvorstandes des FDGB die Vertrauensfrage gestellt
hatte. Wenig später traten auch die Parteivorsitzenden der
CDU, Gerald Götting, und der NDPD, Heinrich Homann, zurück.
Margot Honecker gab ihren Posten als Volksbildungsministerin
ab, nachdem sie laut ADN bereits am 20. Oktober den Ministerrat
um Entbindung von ihrer Funktion gebeten hatte. Auch Gerhard
Nennstiel, Vorsitzender der IG Metall im FDGB, mußte zurücktreten.
Nennstiel hatte nach Zeitungsmeldungen privaten Villenbau
mit betrieblichen Mitteln betrieben.
Am
3. November
kündigte Egon Krenz im DDR-Fernsehen den Rücktritt weiterer
Politbüro-Mitglieder an: Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke,
Alfred Neumann and Erich Mückenberger. Darüber hinaus sprach
Krenz von einem Aktionsprogramm, welches die Schaffung eines
Verfassungsgerichtes und die Einführung des zivilen Wehrersatzdienstes
gewährleisten sollte. Wiederum muß man sagen: zu spät, um
politische Kompetenz zu legitimieren.
Die
Demonstration, welche am nächsten Tag in Ostberlin stattfinden
sollte, wird zeigen, wie groß
das Mißtrauen zwischen Volk und Regierung war und wie sehr
alle Vorschläge von oben bereits als status quo von unten
galten.
Die
Situation war paradox: die DDR-Regierung hätte verkünden können,
was immer sie wolle. Niemand hätte ihr ernsthaft die Hände
gereicht. Zu stark war das Gefühl, daß einem sowieso zustehe,
was jetzt tröpfchenweise nachgereicht wurde. Zu stark auch
das Gefühl, alles schaffen zu können, wenn nur genügend Leute
mobilisiert würden, auf der Straße für ihren Willen einzutreten.
Im
Herbst '89 gab es keine Konventionen zur Verständigung zwischen
Regierten und Regierenden mehr. Im Kontext der Ausreisewelle
hatte der Prozeß der Ablösung der SED-Herrschaft bereits im
Sommer eine solche Eigendynamik entwickelt, daß die Führungsriege
in Partei und Staat allenfalls einen galanteren Rücktritt
hätte inszenieren können.
Frank
Beuth
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