Vorgeschichte
zur Chronologie der Ereignisse
   
 

Im Laufe des Jahres 1989 hatte die VR Ungarn seine Grenzanlagen zum Nachbarland Österreich stark reduziert und stellenweise sogar ganz abgebaut. Bislang waren ausreisewillige DDR-Bürger auf die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland angewiesen und die Jahre zuvor auf das ordnungsgemäße Stellen eines Ausreiseantrages beim zuständigen Ministerium des Innern und seinen untergeordneten Abteilungen. Nunmehr eröffnete sich erstmals nach 1961 eine weitere Möglichkeit, der DDR endgültig den Rücken kehren zu können.

Wer in dieser Zeit nach Ungarn reiste, von dem nahmen Freunde auch dann gründlich Abschied, wenn das Thema Ausreise in den letzten Gesprächen nicht zur Debatte stand. Forciert durch Äußerungen des Generalsekretärs der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, dass die Mauer noch hundert Jahre bestehen werde, endgültig enttäuscht durch die moralische Unterstützung der SED-Führung für die blutige Niederschlagung des Aufstandes in China und angewidert durch ein realitätsfernes Szenario für die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, kam eine Massenausreise in Gang.

Jene die hierblieben, deuteten die Zeichen teils besorgt - wie würde die Staatsmacht reagieren? - teils knüpften sie ihre Hoffnungen daran, daß politische Veränderungen in der DDR nun unvermeidlich seien, da die große Zahl Ausreisewilliger kaum mehr zu ignorieren sei. Die ersten Reaktionen mußten die Hoffenden enttäuschen: die DDR-Führung war nach wie vor starrsinnig darum bemüht, die Farce von der Attraktivität und ökonomischen Stabilität des Sozialismus aufrechtzuerhalten.

12.August
Am Vorabend des 28. Jahrestages des Mauerbaus veröffentlicht das Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, einen Beitrag, in dem es unter anderem heißt: "Die Mauer wird nicht niedergelegt, solange die Bedingungen weiterbestehen, die zu ihrer Errichtung führten, und solche Bedingungen bestehen weiter".

14.August
In Ost-Berlin werden Erich Honecker erste Funktionsmuster von 32-Bit-Prozessoren aus dem Kombinat Mikroelektronik in Erfurt übergeben. Honecker sagt in seiner Rede, dass "das Triumphgeschrei westlicher Medien über das 'Scheitern der sozialistischen Gesellschaftskonzeption' nicht das Geld wert ist, das dafür ausgegeben wird. Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf".

18.August
Neues Deutschland veröffentlicht einen Kommentar zum 21. Jahrestag des Einmarsches von fünf Staaten des Warschauer Vertrages in die CSSR. Darin wird die militärische Intervention von 1968 als der einzig mögliche Weg, "eine Veränderung des politischen und militärischen Kräfteverhältnisses zugunsten des Imperialismus" zu verhindern, gerechtfertigt.

24.August
Die Volksrepublik Ungarn gestattet 108 DDR-Bürgern, die sich in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest aufhielten, aus humanitären Gründen die Ausreise nach Österreich. Die Ausreisenden werden mit Dokumenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz versehen. Kurz zuvor gelangten 661 DDR-Bürger, die an einem "Paneuropäischen Picknick" an der österreich-ungarischen Grenze teilgenommen hatten, ungehindert nach Österreich. In der DDR-Führung herrschte Sprachlosigkeit. Die inzwischen unübersehbare Ausreisewelle wurde weiterhin ignoriert; Erich Honecker meldete sich im Neuen Deutschland vom 29. August 1989 zu Wort und bedankte sich fur die Glückwünsche zu seinem 77. Geburtstag, den er kurz zuvor begangen hatte.

Die Bevölkerung indes dürfte sich einig gewesen sein: "Ochs and Esel" konnten den Lauf des Sozialismus in der Tat nicht aufhalten, wohl aber die Massen überwiegend junger und qualifizierter Leute, die beschlossen hatten, den Sozialismus zukünftig sich selbst zu überlassen. Inmitten der Ausreisewelle kam es in Leipzig und anderswo immer öfter zu Demonstrationen. Eine Zeitlang bestimmt durch Ausreisewillige, die ihren Forderungen nach Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft Nachdruck verleihen wollten, wandelte sich Anfang September der Charakter jener ersten "Demokratie-Übungen". Diejenigen, die bewußt hierbleiben wollten, traten mehr und mehr in den Vordergrund und der Tenor hieß "Reisefreiheit statt Massenflucht". Partei- und Staatsführung und die in deren Auftrag handelnden Sicherheitsorgane wollten darin jedoch keinen Unterschied bemerken. In der DDR, die mit dem Problem zu kämpfen hatte, daß immer mehr Bürger ihr auf Nimmer-Wiedersehen den Rücken kehrten, kam es zu der absurden Situation, daß diejenigen, die sich zu ihr bekannten, verfolgt, bestraft und als staatsbedrohend eingestuft wurden. Die Gehenden wurden abgeschrieben und im Jargon des Kalten Krieges lieferte man postwendend Erklärungen nach bekannten Mustern nach.

10.September
Die ungarische Regierung gibt in der Hauptstadt Budapest ihre Entscheidung bekannt, ab 0.00 Uhr des 11.9. DDR-Bürger, die sich in Ungarn aufhalten, in ein Land ihrer Wahl ausreisen zu lassen. Die Entscheidung wird unter Berufung auf international anerkannte Prinzipien des Menschenrechts und humanitäre Aspekte legitimiert.

11.September
Eine riesige Flüchtlingswelle in Richtung Bayern wird von ADN unter der Überschrift "Der große Coup" kommentiert. Der Zeitpunkt der Aktion sei nicht zufällig der Vorabend des 40. Jahrestages der DDR. "Hier wirken die Gesetze des Klassenkampfes unbarmherzig. Nicht jeder hält diesen Anforderungen und Belastungen stand und verläßt sein Vaterland unter der psychologischen Kriegsführung des Gegners". Etwa zeitgleich kommt es bei der Leipziger "Montagsdemo" zu zahlreichen vorläufigen Festnahmen unter denen, die "der psychologischen Kriegsführung des Gegners" eben nicht erlegen waren. 19.September Das Neue Deutschland publiziert einen Bericht über "Menschenhandel". Unter Versprechungen, Verlockungen, durch sämtliche Methoden unverhüllter Abwerbung und psychologischen Drucks seien DDR-Bürger veranlaßt worden über Drittländer ihre Heimat zu verlassen. Bei der montäglichen Demonstration in Leipzig waren einen Tag zuvor mehr als hundert Menschen festgenommen worden. Wo Massenflucht durch Reisefreiheit ersetzt werden sollte, standen demokratische Grundforderungen und Forderungen nach elementaren politischen und bürgerlichen Freiheiten ins Haus - zumal die Hierbleibenden nicht um jeden Preis bleiben wollten. Sie wollten den durch die Ausreisewelle entstandenen Druck ausnutzen, um zu sagen, was jetzt endlich verändert werden müsse, damit man guten Gewissens bleiben kann. Die Proteste richteten sich inzwischen auch gegen Wahlfälschungen bei den Wahlen zur Volkskammer. Der Ausreisewelle eine Demokratisierungswelle entgegensetzen! - das schien die einzig reale Alternative zum Massenexodus. Und sie bestimmte nicht nur das Selbstverständnis des am 9. and 10. September 1989 gegründeten Neuen Forum.

Die Ostberliner Malerin Bärbel Bohley hatte zusammen mit 29 Gleichgesinnten im Haus des verstorbenen Re-gimekritikers Robert Havemann den politischen Club gegründet, der in der Folgezeit zu einer Bürgerbewegung anwachsen sollte, die auf allen wichtigen Kundgebungen der Wendezeit eine wichtige Rolle spielte. "Wir hatten die Machthaber herausgefordert. Dem Vorbild der polnischen Bürgerbewegung folgend, hatten wir Namen, Beruf und Adresse veröffentlicht. Bei jedem von uns klingelte es pausenlos, Westreporter und Ostsympathisanten im Wechsel." 7 Neben dem Neuen Forum war unmittelbar zuvor die Vereinigte Linke als Alternative zum diskreditierten Sozialismus gegründet worden. Diskreditiert, aber nicht aufgegeben, sollte der Sozialismus mit neuen Inhalten gefüllt werden. Die informellen und kritischen Gruppen verließen den Schutzraum der Kirche.

Anfang Oktober bildete sich eine Initiative zur offiziellen Konstituierung des Demokratischen Aufbruch-sozial und ökologisch. Die ersten Gründungstreffen datierten jedoch bereits Anfang August. Die Mitglieder ebenfalls (noch) auf DDR und Sozialismus festgelegt. Wenig später, nach einer Delegiertenversammlung im Oktober, wird die Gruppierung öffentlich ihr Vorhaben erklären, sich als Partei zu konstituieren. Weitere Gründungen folgten. Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP), von ihrem Bemühen um Organisationsstruktur am konsequen-testen, die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die Gruppierung Initiative für Frieden und Menschenrechte,eine Initiativgruppe zur Gründung einer Grünen Partei u.a. bildeten sich. Die größte symbolische Bedeutung als Bürgerbewegung wird beim Neuen Forum bleiben, waren doch seine Gründer als Erste an die Öffentlichkeit gegangen. Allen Gruppen waren jedoch Probleme beim Übergang von der informellen Arbeit zur formellen Struktur gemeinsam. Zugleich konnte der gewohnte alternative und antipolitische Gestus der DDR-Opposition nur mühsam abgestreift werden, ein Umstand, der es den neuen Gruppierungen erschwerte, demokratische Formen zu schaffen, welche die Integration des ständig wachsenden Kreises Engagierter ermöglichten.

Diejenigen, die im Sommer 1989 noch geglaubt hatten, für diesen Übergang einige Zeit beanspruchen zu können, mußten plötzlich mit den sich überstürzenden politischen Ereignissen Schritt halten. In den grundlegenden Zielstellungen waren sich viele der Gruppen durchaus einig: Eine grundsätzliche Demokratisierung wurde ebenso angestrebt wie die dazugehörige Befreiung der Gesellschaft von der Herrschaft der einen Partei.

Dazu mußte die staatstragende Lüge aufgedeckt werden, daß diese Partei die Interessen des Volkes repräsentiert. Das wiederum erforderte sofortige öffentliche Präsenz, die nicht selten zu Lasten der strategischen programmorientierten Arbeit ging. Eine Tatsache, die sich später rächen würde. Zugleich eine Tatsache, die weniger dem Unvermögen, als dem ungeheuren Tempo der politischen Veränderungen geschuldet waren, an dem diese Gruppen alle große Anteile hatten.

3. September
Die abendliche DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera meldet: "Ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag ist eingegangen, wurde geprüft und abgelehnt. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der DDR und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar." Das Neue Forum war verboten,seine Aktivitäten wurden dem Bereich des DDR-Strafrechts überantwortet.8 Natürlich gab es mehr als zwei Unterschriften, aber »die Unterschriftensammlung zur Gründung ist nicht genehmigt gewesen und folglich illegal". 29. September Außenminister Hans-Dietrich Genscher gibt 7000 in der bundesdeutschen Botschaft in Prag wartenden Flüchtlingen bekannt, daß sie mit Zustimmung der DDR-Behörden ausreisen werden. Die Ausreisenden werden wenige Tage später mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik gefahren.

4. Oktober
Mehr als 3000 Menschen finden sich in Dresden auf dem Hauptbahnhof ein, um sich Zugang zu den Flüchtlingszügen zu verschaffen. Polizei- und Sicherheitskräfte gehen unter Einsatz von Schlagstöcken and Wasserwerfern gegen die Menge vor. In Dresden kommt es zu einer Straßenschlacht, in deren Verlauf die Fenster front des Bahnhofes zu Bruch geht, etliche Autos umgekippt oder in Brand gesetzt werden. An den Grenzübergängen wurde Anfang Oktober zahlreichen Bundesbürgern and Ausländern die Einreise in die DDR verwehrt. Man wollte ganz richer gehen, den 40. Jahrestag der DDR ungestört feiern zu können - Fackelzug der FDJ 9 am Vorabend, Militärparade der NVA am Feiertag selbst, ein Anachronismus und zugleich der letzte in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik.

Michael Gorbatschow war Ehrengast zum Staatsfeiertag. Im »ausführlichen Meinungsaustausch« mit Erich Honecker am 7.Oktober führte Gorbatschow aus, daß kein Land umhinkomme, sich auf diese oder jene Weise zu verändern. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", sagte Gorbatschow bereits einen Tag zuvor ahnungsvoll in Berlin. Dieser Satz Gorbatschows wurde zu einem Symbol der Wendezeit im Osten. Seit Beginn der Ära Gorbatschow war die Sowjetunion als wichtigste Stütze des Gebildes DDR in der Tat ein unsicherer Faktor geworden. Von Gorbatschows Glasnost-Politik versprachen sich viele DDR-Bürger die Initialzündung für Öffnung und demokratische Umgestaltung im eigenen Land. Beides blieb aus. Im Oktober 1989 jedoch waren die Weichen gestellt.

Aktivität and Engagement der Oppositionsgruppen, Mut und Einsatz einzelner Personen, die auch gegen den Willen der Kirchenleitung durchgeführten regelmäßigen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche sorgten nicht zuletzt dafür, daß Montag für Montag mehr Menschen in Leipzig auf die Straße gingen und u.a. ihren Zorn darüber zum Ausdruck brachten, daß trotz der brisanten Situation die Inszenierung der jährlich wiederkehrenden Lobeshymnen auf den DDR-Sozialismus in gewohnter Weise stattfinden sollte.

7. Oktober
In den Abendstunden kommt es in zahlreichen Städten zu Demonstrationen für grundlegende Reformen. Unter anderem gehen Menschen in Leipzig, Dresden, Potsdam, Magdeburg, Karl-Marx-Stadt und Ost-Berlin auf die Straße. "Freiheit, Freiheit" und "Wir bleiben hier", schallen die Sprechchöre vor dem Ost-Berliner Palast der Republik. Polizei und Sicherheitskräfte versuchen die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen.

Es kommt zu zahlreichen Verhaftungen und MißhandIungen.10

8. Oktober
Die offizielle DDR-Nachrichtenagentur ADN meldet, daß am Vortag Randalierer versucht hätten, die Feierlich- keiten und Volksfeste zum Jahrestag der Republik zu stören. Im Zusammenspiel mit westlichen Medien sei es zu Zusammenrottungen gekommen, bei denen republikfeindliche Parolen gerufen wurden. Die Rädelsführer seien festgenommen worden. Am Abend des 8. Oktober kommt es erneut zu Demonstrationen und zu Festnahmen.

9. Oktober
In Leipzig findet die bisher größte Demonstration des Herbstes statt. Etwa 70 000 Menschen gehen nach dem traditionellen Friedensgebet für umfassende Reformen auf die Straße. Die Demonstration verläuft ohne Zwi- schenfälle, obwohl zu den Sicherheitskräften auch Betriebskampfgruppen gehören, die zuvor ihren Willen,
zum Schutz der sozialistischen Errungenschaften gegen konterrevolutionäre Aktionen notfalls mit der Waffe vorzugehen, angekündigt hatten.

Alle Initiatoren der Demonstration hatten nachhaltig zu Gewaltlosigkeit aufgerufen. Der letzte Staatsfeiertag der DDR verlief nicht ohne Zwischenfälle. Die Aufklärung der Regierung durch das Volk war gründlich: "Wir sind das Volk", machte deutlich, daß es nicht länger möglich sein würde, in einem sozialistischen Land, in dem noch jede Hauptaufgabe zum Wohle des Volkes gestellt und gelöst wurde, die Souveränität des Volkes ausschließlich per Demokratischem Zentralismus zu gewährleisten.

"Wir sind keine Rowdys", nahm jeweils die Medienente vom kommenden Tag vorweg. Das Volk steht im Mittelpunkt ... und stört, erzählte der Volksmund seinen Witz in den besten Tagen der DDR. Das Volk stellte sich in den Mittelpunkt, statt sich an den Imbißbuden seines Volksfestes anzustellen ... und störte tatsächlich. Und zwar so, daß nach dem 40. Jahrestag der DDR allerorten von Öffnung gesprochen wurde.

Seien es die Präsidien der Akademie der Künste oder des Kulturbundes, die die Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung einklagten, das Politbüro der SED, dem auf seiner Sitzung vom 11. Oktober plötzlich einfiel, daß es ihm nun doch nicht gleichgültig sei, wenn Menschen, die hier arbeiten and leben, sich von der DDR lossagen, oder der Berliner Bürgermeister Krack, der gegenüber Vertretern der evangelischen Kirche der DDR von ausgeweiteten Reisemöglichkeiten und einer neuen Medienpolitik sprach.

Am 16. Oktober
kam es in Potsdam zu einem ersten Gespräch zwischen Repräsentanten von Stadt and SED-Bezirksleitung und Vertretern des drei Wochen zuvor noch verbotenen Neuen Forum. Zwei Tage später fand die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED statt: Erich Honecker wurde aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Generalsekretär des ZK entbunden und trat zugleich von seinen Funktionen als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zurück. Mit ihm mußten Günter Mittag, als Verantwortlicher für die Wirtschaft und Joachim Herrmann, verantwortlich für Agitation und Propaganda, gehen.

Der neue Generalsekretär des ZK der SED hieß Egon Krenz. Krenz wurde ad hoc zum bestgehaßten Mann in der DDR, wie unter anderem die Plakate und Transparente der Demonstration vom 4. 11.89 später zeigen werden. "Ohne Tisch and Mittag können wir auch aufs Kaffee-Krenzchen verzichten", wird am 4. November in zig Variationen demonstriert werden."11 Am Abend seiner Wahl hielt Krenz eine Fernsehansprache im DDR-Fernsehen. Er sprach vom ernstgemeinten innenpolitischen Dialog.

In den letzten Jahren als "Kronprinz" apostrophiert, wußten die DDR-Bürger, daß Krenz sowieso früher oder später Honeckers Nachfolge antreten würde. Mit ihm hatte die SED einen Generalsekretär, der weite Teile der Bevölkerung und der SED selbst an der Erneuerungsfähigkeit der Partei zweifeln ließ. War mit der Ablösung Honeckers zumindest klar geworden, daß auch die Mächtigen begriffen hatten, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann, so bedeutete das noch lange nicht, daß sie wußten, wie es weitergehen wird. Die Halbherzigkeit, welche die SED-Führung 12 bereits mit dem ungeliebten Honeckernachfolger Krenz offenbarte, sprach zugleich davon, daß alle Erneuerungsangebote von oben immer ein Stück zu spät kamen.

Was Bürgerbewegungen und Demonstranten bereits erzwungen hatten, wurde kurz darauf als Angebot des Tages gehandelt. Nie war die Geschichte vom Hasen und vom Igel so populär, wie in diesen Tagen. "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, eh er nicht mit der Lüge bricht", werden Demonstranten am 4.November in Berlin die Situation beschreiben. Freilich wußten auch sie nicht, wie dieses mit der Lüge brechen aussehen sollte. Es sei denn, sie meinten: keiner der höchsten Repräsentanten habe mehr das Recht, eine DDR zu repräsentieren, welche durch jene politischen Eigenschaften gekennzeichnet war, die auf der Straße erstritten wurden. Der status quo '89 wurde von unten hergestellt, warum sollte er von oben als Errungenschaft ausgegeben werden können. Diese Opposition kennzeichnete das Grundgefühl eines großen Teils der Bevölkerung.

Den Offenbarungseid auf eine Bereitschaft zur radikalen Öffnung leisteten dann doch nahezu alle Institutionen, Organisationen und offiziellen Personen der DDR - nicht allen vermochte man zu glauben.

24. Oktober
Im Berliner Haus der jungen Talente in der Klosterstraße findet am Abend eine Podiumsdiskussion zum Thema "DDR - wie ich sie träume" statt. Anwesend waren unter anderem die Schriftsteller Stephan Heym und Christoph Hein, der stellvertretende Kulturminister Hartmut König, der ehemalige stellvertretende Minister für Staatssicherheit der DDR Markus Wolf, Bärbel Bohley und Jens Reich vom Neuen Forum und Philip Dyck vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Damit saßen Vertreter eines äußerst breiten Meinungsspektrums in einer Konstellation zusammen, die zwei Wochen zuvor noch undenkbar gewesen wäre. "DDR - wie ich sie träume", am Abend; Krenz' Wahl zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidi- gungsrates am Morgen desselben Tages.

Podiumsdiskussion am Abend; 12 000 empörte Demonstranten am Morgen als Reaktion auf die Krenz-Wahl. "DDR - wie ich sie träume"; und die Realität sich überschlagender politischer Ereignisse - das waren die extremen Polarisierungen in diesen Tagen.

26. Oktober
Auf einer Tagung des Zentralrates der FDJ erklärt dessen 1. Sekretär Eberhard Aurich die Bereitschaft der FDJ zu Dialog and Erneuerung. Keine Tabus mehr in Zukunft, verspricht Aurich, weder inbezug auf Themen, noch Personen oder politische Überzeugungen. Zu spät allerdings, um dem einsetzenden Mitgliederschwund etwas Wirksames entgegenzusetzen.

27. Oktober
Der Staatsrat der DDR beschließt eine Amnestie. Diese Amnestie garantiert einen Straferlaß für Bürger, die geflüchtet waren, bei Fluchtversuchen gefaßt worden waren oder bei ihrer Teilnahme an Demonstrationen Straftaten gegen die staatliche and öffentliche Ordnung begangen haben sollten.

Bis zum 30. November sollten alle wegen dieser Vorwürfe in Haft befindlichen Personen entlassen werden und auf umfassende Unterstützung bei der Wiedereingliederung zählen dürfen.

30. Oktober
In Leipzig kommt es zu einer weiteren Demonstration. Mehr als 200 000 Menschen nehmen daran teil. Die DDR- Nachrichten-Sendung Aktuelle Kamera berichtet mit einer Live-Schaltung. Am selben Tag geht Karl-Eduard von Schnitzlers Ära im Schwarzen Kanal zu Ende. Schnitzler hatte 1519 mal im Fernsehen der DDR Ausschnitte aus dem Westfernsehen gezeigt und kommentiert.

Die wenigen Tage bis zum 4. November 89 brachten weitere Neuigkeiten. Ein umfassender Personalwechsel in Institutionen und Organisationen war in Gang gekommen. Wie stark die Erleichterung darüber war, wird u.a. den Botschaften der Demonstration vom 4. 11. 89 zu entnehmen sein.

Harry Tisch, Politbüromitglied und Vorsitzender des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR, trat am
2. November von seinem Posten zurück, nachdem er zwei Tage zuvor auf einer Sondersitzung des Bundesvorstandes des FDGB die Vertrauensfrage gestellt hatte. Wenig später traten auch die Parteivorsitzenden der CDU, Gerald Götting, und der NDPD, Heinrich Homann, zurück. Margot Honecker gab ihren Posten als Volksbildungsministerin ab, nachdem sie laut ADN bereits am 20. Oktober den Ministerrat um Entbindung von ihrer Funktion gebeten hatte. Auch Gerhard Nennstiel, Vorsitzender der IG Metall im FDGB, mußte zurücktreten. Nennstiel hatte nach Zeitungsmeldungen privaten Villenbau mit betrieblichen Mitteln betrieben.

Am 3. November
kündigte Egon Krenz im DDR-Fernsehen den Rücktritt weiterer Politbüro-Mitglieder an: Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Alfred Neumann and Erich Mückenberger. Darüber hinaus sprach Krenz von einem Aktionsprogramm, welches die Schaffung eines Verfassungsgerichtes und die Einführung des zivilen Wehrersatzdienstes gewährleisten sollte. Wiederum muß man sagen: zu spät, um politische Kompetenz zu legitimieren.

Die Demonstration, welche am nächsten Tag in Ostberlin stattfinden sollte, wird zeigen, wie groß das Mißtrauen zwischen Volk und Regierung war und wie sehr alle Vorschläge von oben bereits als status quo von unten galten.

Die Situation war paradox: die DDR-Regierung hätte verkünden können, was immer sie wolle. Niemand hätte ihr ernsthaft die Hände gereicht. Zu stark war das Gefühl, daß einem sowieso zustehe, was jetzt tröpfchenweise nachgereicht wurde. Zu stark auch das Gefühl, alles schaffen zu können, wenn nur genügend Leute mobilisiert würden, auf der Straße für ihren Willen einzutreten.

Im Herbst '89 gab es keine Konventionen zur Verständigung zwischen Regierten und Regierenden mehr. Im Kontext der Ausreisewelle hatte der Prozeß der Ablösung der SED-Herrschaft bereits im Sommer eine solche Eigendynamik entwickelt, daß die Führungsriege in Partei und Staat allenfalls einen galanteren Rücktritt hätte inszenieren können.

Frank Beuth

 
  7 Jens Reich: Tagebuch der Wende, Die Zeit, Nr. 38, 16.September 1994
  8 Was das für die Initiatoren bedeutet haben muß, kann der Unbeteiligte kaum ermessen. Der Schreck war so groß, dass es wohl nicht übertrieben war, über Illegalität und Untertauchen nachzudenken. Dazu, Jens Reich: Tagebuch der Wende, Die Zeit, Nr. 38, 16.September 1994 und folgende Ausgaben.
  9 Immerhin nahmen etwa 100 000 FDJler am Fackelzug teil.
  10 Erlebnisberichte wurden gesammelt und in mehreren Fällen auch publiziert. Am 23. Oktober informierten kirchliche und andere Gruppen in Ost-Berlin über die Übergriffe vom 7. und 8. Oktober und übergaben dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt der DDR Klaus Voß eine über hundertseitige Dokumentation.
  11 Harry Tisch , Vorsitzender des FDGB und Günter Mittag, Politbüro-Mitglied und verantwortlich für Wirtschaft waren am 4.11.89 bereits von ihren Funktionen entbunden. Egon Krenz noch nicht.
  12 Die SED war damals auf keinen Fall einig. Es gab zahlreiche Demonstrationen von SED-Mitgliedern, die sich gegen die Entscheidungen der eigenen Partei richteten.