Der Hochofen I des Eisenhüttenkombinats Ost |
Mit den Namen Wolfsburg und
Stalinstadt verbinden sich völlig unterschiedliche Assoziationen. Wolfsburg
steht als Symbol für die weltweite Erfolgsgeschichte eines Automobils,
das als "Käfer" seinen Triumphzug in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik
und der westlichen Welt begann - ein Symbol für westdeutschen Exportboom,
"Wirtschaftswunder" und eine vermeintlich nivellierte Mittelstandsgesellschaft,
deren große Mehrheit den Wagen des Volkes zwar noch nicht fuhr, aber zumindest
danach strebte. Über die Herkunft des Autos und die Geschichte seiner
Stadt machte man sich wenig Gedanken. Der Kübelwagen der großdeutschen
Wehrmacht lag in weiter Ferne und fuhr allenfalls im Film gelegentlich
durch erobertes Gelände.
Was aber läßt sich über die Stalinstadt sagen, die diesen Namen nur wenige
Jahre lang trug, in DDR-Enzyklopädien nicht mehr unter ihrem Ursprungsnamen
auftauchte und jüngeren Generationen im Westen heute bestenfalls vom Hörensagen
bekannt ist? Inwiefern lassen sich beide Städte überhaupt vergleichen?
Sie entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen politischen
Systemen und mit unterschiedlichen politischen Zielvorgaben.
Der Kontrast fällt viel stärker ins Auge als Ähnlichkeiten der Funktion
und der Symbolik im Gesellschaftssystem. Gleichwohl gibt es deutliche
Parallelen und funktionale Äquivalente. Beide Städte verkörpern in
ihrem Ursprung den Anspruch zweier Diktaturen auf gesellschaftliche Modernität,
auf Neuschöpfung, auf neuartige Lösungen städtebaulicher, architektonischer
und sozialer Probleme. Beide entstanden traditionslos im ländlichen Umfeld,
aber in verkehrsgünstiger Lage. Während Wolfsburg jedoch zu den zwei Namen,
die es im Laufe seiner Entwicklung trug, auch zwei Geschichten hat, die
durch den Bruch von 1945 getrennt sind, hatte das heutige Eisenhüttenstadt
zwar zwei Namen, die unterschiedliche Phasen der politischen Entwicklung
markieren, weist aber bis heute eine vergleichsweise kontinuierliche innere
Entwicklung auf. Läßt man die Ideologiegeschichte einmal beiseite, bleibt
die Frage, was die Struktur und die Expansion dieser beiden in den fünfziger
Jahren an der Peripherie gelegenen Kleinstädte mit hohem Wachstumstempo
über die gesellschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten
aussagen. In "Meyers Neues Lexikon" (Leipzig) aus den siebziger
Jahren sind nur wenige dürre Daten zu finden: "Wolfsburg: kreisfreie Stadt
in Niedersachsen (BRD), an Aller und Mittellandkanal; (1974) 135 000
Ew.; Volkswagenwerk mit (1974) 56 000 Beschäftigten; Bekleidungs-,
Konservenindustrie; Stadtgründung 1938 (Name W. seit 1945), wesentlicher
Aufbau ab 1950." - "Eisenhüttenstadt: Stadtkreis und Kreisstadt im
Bezirk Frankfurt (Oder), erste sozialistische Stadt der DDR (Grundsteinlegung
am 21. 8. 1950), an der Einmündung des Oder-Spree-Kanals in die Oder;
(1971) 45 194 Ew.; Eisenhüttenkombinat 0st, Schiffswerft, Betonwerk,
Fleischkombinat, Großbäckerei; Binnenhafen; Medizinische Fachschule; Friedrich-Wolf-Theater,
Freilichtbühne, Sportanlagen." Der in der Bundesrepublik erschienene "Brockhaus"
aus derselben Zeit äußert sich etwas ausführlicher, läßt aber ebenfalls
historische Hintergründe und gesellschaftliche Funktion kaum erkennen.
Die Ausgangspunkte sind höchst unterschiedlich. Wolfsburg, der ehemaligen
Stadt des KdF-Wagens, drohte nach 1945 der Ruin, falls das VW-Werk demontiert
würde. Nach der Werkslegende entging das Unternehmen der Demontage, weil
britische Experten zu dem Ergebnis kamen, der Volkswagen genüge nicht
den "grundlegenden Ansprüchen eines Kraftfahrzeuges". In Leistung und
Ausführung sei er völlig uninteressant, weil "viel zu häßlich und zu laut".
Den Wagen kommerziell herzustellen, erschien als "ein ganz unrentables
Unterfangen" (1).
Tatsächlich begann aber 1948 mit der Übernahme der Leitung durch
den heute legendären Generaldirektor Nordhoff der rasante Aufstieg nicht
nur des Werkes und des Autos, sondern auch der Stadt. Das westdeutsche
"Wirtschaftswunder" war zu einem erheblichen Teil vom Export
abhängig. Dieser induzierte den Aufschwung, schuf - zunächst sehr bescheidenen
- Wohlstand, führte zur zweiten Welle von Migration und Mobilität und
ließ die Städte und den Städtebau expandieren. Die sozialen Folgen des
"Wirtschaftswunders" bestanden in einem in seiner
Tragweite zunächst kaum wahrgenommenen "Modernisierungsschub unter konservativem
Vorzeichen" (2).
Die existentielle Erfahrung von Unsicherheit in den Kriegs- und Nachkriegsjahren
setzte ungeahnte Aufbauenergien frei.
Einige Zahlen können den Trend wirtschaftlichen Wachstums und sozialer
Veränderungen verdeutlichen. Die Bevölkerungszahl Wolfsburgs stieg von
25 422 (1950) auf 45 384 (1956) und 83 328 (1965). Stalinstadt
hatte 1953 rund 2 400 Einwohner, 1960 bereits 24 000; infolge
der Zusammenlegung mit Fürstenberg und Schönfließ im Jahre 1961 betrug
die Gesamtzahl plötzlich 34 585 (1962) und stieg auf 45 461
im Jahr 1971. Signifikant war das außerordentlich niedrige Durchschnittsalter,
das 1955 bei 28 Jahren lag. Über die Berufsstruktur in Stalinstadt
gibt es merkwürdigerweise in den einschlägigen Veröffentlichungen keine
Angaben. Ein überdurchschnittlich hoher Arbeiteranteil steht jedoch aufgrund
der engen Bindung an das Eisenhüttenkombinat 0st (EKO) außer Frage. Auch
in Wolfsburg lag er deutlich über dem Durchschnitt der Bundesrepublik.
Nach der Berufszählung von 1962 waren von den insgesamt 34 094 Berufstätigen
56,6 Prozent Arbeiter, davon 32,8 Prozent ungelernte und angelernte und
23,8 Prozent Facharbeiter.
Die ökonomischen Folgen der deutschen Teilung machten es der DDR unter
den Bedingungen sowjetischer Reparationspolitik besonders schwer, im Wettbewerb
mit dem großen Nachbarn im Westen mitzuhalten. Die schwerindustrielle
Basis der deutschen Wirtschaft lag im Westen, an der Ruhr. Die verarbeitende
Industrie der DDR mußte sich nach eigenen Möglichkeiten für den Aufbau
einer Stahlindustrie umsehen. Das wäre im Verbund der ostmitteleuropäischen
Staaten im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) prinzipiell
möglich gewesen, besonders in enger Kooperation mit der nun polnisch gewordenen
Schwerindustrie Oberschlesiens. Aber dem standen nicht nur starke politische
Eigen- und Autarkie-lnteressen entgegen, sondern auch ein ideologisches
Dogma, das Stalin den kommunistischen Staaten verordnet hatte. Der Aufbau
einer eigenen Schwerindustrie galt als unerschütterliche Basis nicht nur
der wirtschaftlichen Ordnung, sondern auch der sozialen Fundamentierung
einer klassenbewußten sozialistischen Arbeiterschaft. Beide Elemente laufen
in der Planung und Entwicklung der "ersten sozialistischen Stadt auf deutschem
Boden" zusammen.
Der Aufbau von Stalinstadt gebört in den Kontext des ersten Fünfjahrplans,
der 1950 verabschiedet wurde und in einer großen Kraftanstrengung die
Überwindung der Kriegsfolgen mit der Grundlegung einer neuen Gesellschaft
als Antwort auf die angebliche "Spaltungspolitik der Imperialisten"
verbinden sollte. Städtebauplanung war aber noch kaum wirklich in diesen
Fünfjahrplan integriert. Die ebenfalls 1950 auf der Basis sowjetischer
Erfahrungen verabschiedeten "16 Grundsätze des Städtebaus" boten
nur vage Orientierung. Der Druck zum großzügigen Neubau von Städten
und Trabantenstädten war angesichts der demographischen Entwicklung in
der DDR deutlich geringer als in der Bundesrepublik. Andererseits faszinierte
die politische Möglichkeit zum sozialistischen Experiment. Das Bodenrecht
erleichterte solche Experimente,
die ideologisch in die Tradition der progressiven Rolle gehörten, die
Karl Marx wie ebenso Lenin der Stadt zugewiesen hatten, um die Bevölkerung
dem "ldiotismus des Landlebens" zu entreißen. (3)
Walter Ulbricht formulierte diese Fortschrittsphilosophie am 7. Mai 1953,
dem Tag, an dem die Wohnstadt des EKO den Namen Stalinstadt erhielt: "Mehr
Eisen und Stahl durch die Arbeit im Kombinat bedeutet, daß wir mit der
Produktion von Mähdreschern, Rübenkombines usw. beginnen werden, das bedeutet,
daß wir es fertigbringen, die fortschrittlichste Bodenbearbeitung durchzuführen
und die kapitalistischen Länder in zwei bis drei Jahren zu überholen."
(4)
Das "Pionierbewußtsein" verband beide Städte. Beide waren ökonomisch und
architektonisch auf die dominierende Werksanlage hin ausgerichtet. Das
VW-Werk konnte bald ebenso wie das EKO über eine Stammbelegschaft verfügen
und wirkte zugleich als Magnet für Arbeitssuchende weit über die engere
Region hinaus. Die durchweg junge Belegschaft entwickelte andere Verhaltensweisen
als die aus der traditionellen Arbeiterbewegung bekannten. Eigene sozialpolitische
Programme wurden forciert, um die Werksbindung zu erhöhen. Eine schnelle
Entwicklung des Wohnungsbaus und der Infrastruktur waren nötig, um die
Zuzügler einzubinden und den negativen Folgen eines "zusammengewürfelten
Haufens" zu begegnen. Der Wohnungsbau für die Arbeiterschaft erhielt so
in beiden Städten eine Schlüsselstellung in der Stadtgeschichte. Schlafstädte
sollten vermieden werden, aber Urbanität herzustellen
war schwierig angesichts der monostrukturellen Abhängigkeit vom jeweiligen
Großunternehmen.
Die Folgen dürften für die Bewohner lange Zeit ähnlich gewesen sein: die
Arbeiterstadt als Provisorium. So hat sich Wolfsburg als Stadt eingeprägt,
"die in raschem Tempo aus dem Barackenzustand herauswuchs, in der die
Großbaustelle zum gewohnten Bild gehörte, in der Jahr für Jahr neue Anlagen,
Straßen und Viertel entstanden und das Bild des Ortes um neue Züge bereicherten"
(5). In Stalinstadt
war es nicht prinzipiell anders. Die Eigendynamik des Wachstums sprengte
die Planungen. Während in anderen Städten die Tendenz zu beobachten war,
daß die Randgemeinden zu den eigentlichen Wachstumszonen wurden, nahmen
hier die Kernbereiche den größten Teil der Zuzügler auf.
Schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre endete jedoch die "Pionierzeit",
und es begann die Normalisierung. Die aufwendige Planung und der Sinn
für das Detail im Wohnungsbau in Stalinstadt mußten zurücktreten zugunsten
einer schnellen Stadterweiterung und der Errichtung neuer, preiswerter
Wohnungen. Wolfsburg schuf sich 1958 einen aufwendigen Rathausbau und
bald mit dem eigenwilligen Kulturzentrum einen architektonischen Schwerpunkt.
Stalinstadt fehlt bis heute ein solcher eindeutiger Mittelpunkt.
Die Stadt erhielt 1961 einen neuen Namen und hängte den Anspruch auf exemplarische
Neugestaltung deutlich niedriger. Daß die nicht zufällig in dieser Stadt
entstandenen "Grundsätze und Erfahrungen bei der Gestaltung sozialistischer
Feierlichkeiten um Geburt, Eheschließung und Tod" niemals für die ganze
DDR verbindlich gemacht wurden, verweist auf die abnehmende Faszination
des "Aufbruchs" und den Zwang, sich zu arrangieren. "Der Sozialismus verlor
den Charme der Utopie
und wurde real-existierend." (6)
Im Stadtbild schlug sich das deutlich sichtbar nieder, wenngleich die
Trostlosigkeit des sozialistischen Plattenbaues der siebziger Jahre bis
heute nicht den Eindruck interessanter stilistischer Experimente verdrängt
hat, den die frühen Wohnkomplexe bieten. Eisenhüttenstadt hat auch gegenüber
anderen Neugründungen wie Schwedt und Hoyerswerda sein eigenes Profil
behalten.
Mit dem Mauerbau schienen die Teilung Deutschlands und die Eigenentwicklung
beider Staaten auf absehbare Zeit unvermeidlich zu sein. Der deutsch-deutsche
Handel behielt zwar immer eine große Bedeutung für die DDR (insbesondere
in Engpaßbereichen), aber die jeweilige Außenhandelsorientierung innerhalb
der Blöcke nahm weiter zu. Das EKO, das auf sowjetisches Erz und polnische
Kohle angewiesen war, spiegelt diesen Prozeß. Wolfsburg festigte seine
Rolle als Symbol westdeutscher Erfolgsgeschichte. Als der "Käfer" vom
Golf verdrängt wurde, blieb diese Symbolfunktion, wenn auch geringer ausgeprägt,
erhalten.
Auch in der Wahrnehmung der Bundesrepublik durch die DDR-Bevölkerung spielte
die "Volkswagenstadt" stets eine wichtige Rolle. Umgekehrt ist seit dem
Scheitern der letzten großen Anstrengung der SED von 1958, Westdeutschland
"einholen und überholen" zu wollen, schwerlich irgendeine Faszination
von der DDR nach Westen ausgestrahlt. Die Beziehungsgeschichte blieb asymmetrisch,
das deutsch-deutsche Verhältnis verklemmt. Nach der Vereinigung stand
das EKO kurzzeitig zur Disposition. Mittlerweile ist jedoch deutlich geworden,
daß hier - ähnlich wie in Wolfsburg - moderne Produktion auf höchstem
technischen Niveau möglich war und fortgesetzt wird. Nach einem einschneidenden
Abbau der Belegschaft hat ein belgischer Konzern das EKO übernommen und
schreibt betriebswirtschaftlich schwarze Zahlen. Traditionselemente aus
der Aufbauphase sind
aber im Stadtbild noch unverändert sichtbar und anders als andernorts
mit positiveren Assoziationen verbunden.
Beide Städte mußten in einem gespaltenen Land das Fiasko des Dritten Reiches
bewältigen, waren davon aber auf sehr unterschiedliche Weise betroffen.
Die Herausforderungen zum Wiederaufbau hatten ähnliche Dimensionen, aber
die Lösungen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten liefen seit den frühen
fünfziger Jahren erheblich auseinander. "Wirtschaftswunder" und geplanter
"Aufbau des Sozialismus" sind Chiffren für diese entgegengesetzten Wege.
Exemplarisch lassen sie sich an der Entwicklung zweier "Retortenstädte"
verfolgen, die in ihren Ähnlichkeiten und Kontrasten auf charakteristische
Prägungen zweier politischer Systeme und Gesellschaften im geteilten Deutschland
verweisen.
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