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Christoph Kleßmann

Zwei deutsche Städte -
zwei deutsche Nachkriegsgesellschaften



Der Hochofen I des Eisenhüttenkombinats Ost

Mit den Namen Wolfsburg und Stalinstadt verbinden sich völlig unterschiedliche Assoziationen. Wolfsburg steht als Symbol für die weltweite Erfolgsgeschichte eines Automobils, das als "Käfer" seinen Triumphzug in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik und der westlichen Welt begann - ein Symbol für westdeutschen Exportboom, "Wirtschaftswunder" und eine vermeintlich nivellierte Mittelstandsgesellschaft, deren große Mehrheit den Wagen des Volkes zwar noch nicht fuhr, aber zumindest danach strebte. Über die Herkunft des Autos und die Geschichte seiner Stadt machte man sich wenig Gedanken. Der Kübelwagen der großdeutschen Wehrmacht lag in weiter Ferne und fuhr allenfalls im Film gelegentlich durch erobertes Gelände.

Was aber läßt sich über die Stalinstadt sagen, die diesen Namen nur wenige Jahre lang trug, in DDR-Enzyklopädien nicht mehr unter ihrem Ursprungsnamen auftauchte und jüngeren Generationen im Westen heute bestenfalls vom Hörensagen bekannt ist? Inwiefern lassen sich beide Städte überhaupt vergleichen? Sie entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen politischen Systemen und mit unterschiedlichen politischen Zielvorgaben.

Der Kontrast fällt viel stärker ins Auge als Ähnlichkeiten der Funktion und der Symbolik im Gesellschaftssystem. Gleichwohl gibt es deutliche Parallelen und funktionale Äquivalente. Beide Städte verkörpern in ihrem Ursprung den Anspruch zweier Diktaturen auf gesellschaftliche Modernität, auf Neuschöpfung, auf neuartige Lösungen städtebaulicher, architektonischer und sozialer Probleme. Beide entstanden traditionslos im ländlichen Umfeld, aber in verkehrsgünstiger Lage. Während Wolfsburg jedoch zu den zwei Namen, die es im Laufe seiner Entwicklung trug, auch zwei Geschichten hat, die durch den Bruch von 1945 getrennt sind, hatte das heutige Eisenhüttenstadt zwar zwei Namen, die unterschiedliche Phasen der politischen Entwicklung markieren, weist aber bis heute eine vergleichsweise kontinuierliche innere Entwicklung auf. Läßt man die Ideologiegeschichte einmal beiseite, bleibt die Frage, was die Struktur und die Expansion dieser beiden in den fünfziger Jahren an der Peripherie gelegenen Kleinstädte mit hohem Wachstumstempo über die gesellschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten aussagen. In "Meyers Neues Lexikon" (Leipzig) aus den siebziger Jahren sind nur wenige dürre Daten zu finden: "Wolfsburg: kreisfreie Stadt in Niedersachsen (BRD), an Aller und Mittellandkanal; (1974) 135 000 Ew.; Volkswagenwerk mit (1974) 56 000 Beschäftigten; Bekleidungs-, Konservenindustrie; Stadtgründung 1938 (Name W. seit 1945), wesentlicher Aufbau ab 1950." - "Eisenhüttenstadt: Stadtkreis und Kreisstadt im Bezirk Frankfurt (Oder), erste sozialistische Stadt der DDR (Grundsteinlegung am 21. 8. 1950), an der Einmündung des Oder-Spree-Kanals in die Oder; (1971) 45 194 Ew.; Eisenhüttenkombinat 0st, Schiffswerft, Betonwerk, Fleischkombinat, Großbäckerei; Binnenhafen; Medizinische Fachschule; Friedrich-Wolf-Theater, Freilichtbühne, Sportanlagen." Der in der Bundesrepublik erschienene "Brockhaus" aus derselben Zeit äußert sich etwas ausführlicher, läßt aber ebenfalls historische Hintergründe und gesellschaftliche Funktion kaum erkennen.

Die Ausgangspunkte sind höchst unterschiedlich. Wolfsburg, der ehemaligen Stadt des KdF-Wagens, drohte nach 1945 der Ruin, falls das VW-Werk demontiert würde. Nach der Werkslegende entging das Unternehmen der Demontage, weil britische Experten zu dem Ergebnis kamen, der Volkswagen genüge nicht den "grundlegenden Ansprüchen eines Kraftfahrzeuges". In Leistung und Ausführung sei er völlig uninteressant, weil "viel zu häßlich und zu laut". Den Wagen kommerziell herzustellen, erschien als "ein ganz unrentables Unterfangen" (1).

Tatsächlich begann aber 1948 mit der Übernahme der Leitung durch den heute legendären Generaldirektor Nordhoff der rasante Aufstieg nicht nur des Werkes und des Autos, sondern auch der Stadt. Das westdeutsche "Wirtschaftswunder" war zu einem erheblichen Teil vom Export abhängig. Dieser induzierte den Aufschwung, schuf - zunächst sehr bescheidenen - Wohlstand, führte zur zweiten Welle von Migration und Mobilität und ließ die Städte und den Städtebau expandieren. Die sozialen Folgen des "Wirtschaftswunders" bestanden in einem in sei
ner Tragweite zunächst kaum wahrgenommenen "Modernisierungsschub unter konservativem Vorzeichen" (2). Die existentielle Erfahrung von Unsicherheit in den Kriegs- und Nachkriegsjahren setzte ungeahnte Aufbauenergien frei.

Einige Zahlen können den Trend wirtschaftlichen Wachstums und sozialer Veränderungen verdeutlichen. Die Bevölkerungszahl Wolfsburgs stieg von 25 422 (1950) auf 45 384 (1956) und 83 328 (1965). Stalinstadt hatte 1953 rund 2 400 Einwohner, 1960 bereits 24 000; infolge der Zusammenlegung mit Fürstenberg und Schönfließ im Jahre 1961 betrug die Gesamtzahl plötzlich 34 585 (1962) und stieg auf 45 461 im Jahr 1971. Signifikant war das außerordentlich niedrige Durchschnittsalter, das 1955 bei 28 Jahren lag. Über die Berufsstruktur in Stalinstadt gibt es merkwürdigerweise in den einschlägigen Veröffentlichungen keine Angaben. Ein überdurchschnittlich hoher Arbeiteranteil steht jedoch aufgrund der engen Bindung an das Eisenhüttenkombinat 0st (EKO) außer Frage. Auch in Wolfsburg lag er deutlich über dem Durchschnitt der Bundesrepublik. Nach der Berufszählung von 1962 waren von den insgesamt 34 094 Berufstätigen 56,6 Prozent Arbeiter, davon 32,8 Prozent ungelernte und angelernte und 23,8 Prozent Facharbeiter.

Die ökonomischen Folgen der deutschen Teilung machten es der DDR unter den Bedingungen sowjetischer Reparationspolitik besonders schwer, im Wettbewerb mit dem großen Nachbarn im Westen mitzuhalten. Die schwerindustrielle Basis der deutschen Wirtschaft lag im Westen, an der Ruhr. Die verarbeitende Industrie der DDR mußte sich nach eigenen Möglichkeiten für den Aufbau einer Stahlindustrie umsehen. Das wäre im Verbund der ostmitteleuropäischen Staaten im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) prinzipiell möglich gewesen, besonders in enger Kooperation mit der nun polnisch gewordenen Schwerindustrie Oberschlesiens. Aber dem standen nicht nur starke politische Eigen- und Autarkie-lnteressen entgegen, sondern auch ein ideologisches Dogma, das Stalin den kommunistischen Staaten verordnet hatte. Der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie galt als unerschütterliche Basis nicht nur der wirtschaftlichen Ordnung, sondern auch der sozialen Fundamentierung einer klassenbewußten sozialistischen Arbeiterschaft. Beide Elemente laufen in der Planung und Entwicklung der "ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden" zusammen.

Der Aufbau von Stalinstadt gebört in den Kontext des ersten Fünfjahrplans, der 1950 verabschiedet wurde und in einer großen Kraftanstrengung die Überwindung der Kriegsfolgen mit der Grundlegung einer neuen Gesellschaft als Antwort auf die angebliche "Spaltungspolitik der Imperialisten" verbinden sollte. Städtebauplanung war aber noch kaum wirklich in diesen Fünfjahrplan integriert. Die ebenfalls 1950 auf der Basis sowjetischer Erfahrungen verabschiedeten "16 Grundsätze des Städtebaus" boten nur vage Orientierung. Der Druck zum großzügigen Neubau von Städten und Trabantenstädten war angesichts der demographischen Entwicklung in der DDR deutlich geringer als in der Bundesrepublik. Andererseits faszinierte die politische Möglichkeit zum sozialistischen Experiment. Das Bodenrecht
erleichterte solche Experimente, die ideologisch in die Tradition der progressiven Rolle gehörten, die Karl Marx wie ebenso Lenin der Stadt zugewiesen hatten, um die Bevölkerung dem "ldiotismus des Landlebens" zu entreißen. (3) Walter Ulbricht formulierte diese Fortschrittsphilosophie am 7. Mai 1953, dem Tag, an dem die Wohnstadt des EKO den Namen Stalinstadt erhielt: "Mehr Eisen und Stahl durch die Arbeit im Kombinat bedeutet, daß wir mit der Produktion von Mähdreschern, Rübenkombines usw. beginnen werden, das bedeutet, daß wir es fertigbringen, die fortschrittlichste Bodenbearbeitung durchzuführen und die kapitalistischen Länder in zwei bis drei Jahren zu überholen." (4)

Das "Pionierbewußtsein" verband beide Städte. Beide waren ökonomisch und architektonisch auf die dominierende Werksanlage hin ausgerichtet. Das VW-Werk konnte bald ebenso wie das EKO über eine Stammbelegschaft verfügen und wirkte zugleich als Magnet für Arbeitssuchende weit über die engere Region hinaus. Die durchweg junge Belegschaft entwickelte andere Verhaltensweisen als die aus der traditionellen Arbeiterbewegung bekannten. Eigene sozialpolitische Programme wurden forciert, um die Werksbindung zu erhöhen. Eine schnelle Entwicklung des Wohnungsbaus und der Infrastruktur waren nötig, um die Zuzügler einzubinden und den negativen Folgen eines "zusammengewürfelten Haufens" zu begegnen. Der Wohnungsbau für die Arbeiterschaft erhielt so in beiden Städten eine Schlüsselstellung in der Stadtgeschichte. Schlafstädte sollten vermieden werden, aber Urbanität
herzustellen war schwierig angesichts der monostrukturellen Abhängigkeit vom jeweiligen Großunternehmen.

Die Folgen dürften für die Bewohner lange Zeit ähnlich gewesen sein: die Arbeiterstadt als Provisorium. So hat sich Wolfsburg als Stadt eingeprägt, "die in raschem Tempo aus dem Barackenzustand herauswuchs, in der die Großbaustelle zum gewohnten Bild gehörte, in der Jahr für Jahr neue Anlagen, Straßen und Viertel entstanden und das Bild des Ortes um neue Züge bereicherten" (5). In Stalinstadt war es nicht prinzipiell anders. Die Eigendynamik des Wachstums sprengte die Planungen. Während in anderen Städten die Tendenz zu beobachten war, daß die Randgemeinden zu den eigentlichen Wachstumszonen wurden, nahmen hier die Kernbereiche den größten Teil der Zuzügler auf.

Schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre endete jedoch die "Pionierzeit", und es begann die Normalisierung. Die aufwendige Planung und der Sinn für das Detail im Wohnungsbau in Stalinstadt mußten zurücktreten zugunsten einer schnellen Stadterweiterung und der Errichtung neuer, preiswerter Wohnungen. Wolfsburg schuf sich 1958 einen aufwendigen Rathausbau und bald mit dem eigenwilligen Kulturzentrum einen architektonischen Schwerpunkt. Stalinstadt fehlt bis heute ein solcher eindeutiger Mittelpunkt.

Die Stadt erhielt 1961 einen neuen Namen und hängte den Anspruch auf exemplarische Neugestaltung deutlich niedriger. Daß die nicht zufällig in dieser Stadt entstandenen "Grundsätze und Erfahrungen bei der Gestaltung sozialistischer Feierlichkeiten um Geburt, Eheschließung und Tod" niemals für die ganze DDR verbindlich gemacht wurden, verweist auf die abnehmende Faszination des "Aufbruchs" und den Zwang, sich zu arrangieren. "Der Sozialismus verlor den Charme
der Utopie und wurde real-existierend." (6) Im Stadtbild schlug sich das deutlich sichtbar nieder, wenngleich die Trostlosigkeit des sozialistischen Plattenbaues der siebziger Jahre bis heute nicht den Eindruck interessanter stilistischer Experimente verdrängt hat, den die frühen Wohnkomplexe bieten. Eisenhüttenstadt hat auch gegenüber anderen Neugründungen wie Schwedt und Hoyerswerda sein eigenes Profil behalten.

Mit dem Mauerbau schienen die Teilung Deutschlands und die Eigenentwicklung beider Staaten auf absehbare Zeit unvermeidlich zu sein. Der deutsch-deutsche Handel behielt zwar immer eine große Bedeutung für die DDR (insbesondere in Engpaßbereichen), aber die jeweilige Außenhandelsorientierung innerhalb der Blöcke nahm weiter zu. Das EKO, das auf sowjetisches Erz und polnische Kohle angewiesen war, spiegelt diesen Prozeß. Wolfsburg festigte seine Rolle als Symbol westdeutscher Erfolgsgeschichte. Als der "Käfer" vom Golf verdrängt wurde, blieb diese Symbolfunktion, wenn auch geringer ausgeprägt, erhalten.

Auch in der Wahrnehmung der Bundesrepublik durch die DDR-Bevölkerung spielte die "Volkswagenstadt" stets eine wichtige Rolle. Umgekehrt ist seit dem Scheitern der letzten großen Anstrengung der SED von 1958, Westdeutschland "einholen und überholen" zu wollen, schwerlich irgendeine Faszination von der DDR nach Westen ausgestrahlt. Die Beziehungsgeschichte blieb asymmetrisch, das deutsch-deutsche Verhältnis verklemmt. Nach der Vereinigung stand das EKO kurzzeitig zur Disposition. Mittlerweile ist jedoch deutlich geworden, daß hier - ähnlich wie in Wolfsburg - moderne Produktion auf höchstem technischen Niveau möglich war und fortgesetzt wird. Nach einem einschneidenden Abbau der Belegschaft hat ein belgischer Konzern das EKO übernommen und schreibt betriebswirtschaftlich schwarze Zahlen. Traditionselemente aus der Auf
bauphase sind aber im Stadtbild noch unverändert sichtbar und anders als andernorts mit positiveren Assoziationen verbunden.

Beide Städte mußten in einem gespaltenen Land das Fiasko des Dritten Reiches bewältigen, waren davon aber auf sehr unterschiedliche Weise betroffen. Die Herausforderungen zum Wiederaufbau hatten ähnliche Dimensionen, aber die Lösungen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten liefen seit den frühen fünfziger Jahren erheblich auseinander. "Wirtschaftswunder" und geplanter "Aufbau des Sozialismus" sind Chiffren für diese entgegengesetzten Wege. Exemplarisch lassen sie sich an der Entwicklung zweier "Retortenstädte" verfolgen, die in ihren Ähnlichkeiten und Kontrasten auf charakteristische Prägungen zweier politischer Systeme und Gesellschaften im geteilten Deutschland verweisen.

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  Anmerkungen
1

Zit. in: Kleßmann, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 1988, S. 27 .

2 Waldemann, Peter, zit. in: ebd., S. 35.
3 Zit. in: Beyme, Klaus von: Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München 1987. S. 281.
4 Neues Deutschland, 8. 5. 1953.
5 Schwonke, Martin / Herlyn, Ulfert: Wolfsburg. Soziologische Analyse einer jungen Industriestadt, Stuttgart 1967, S. 31.
6 Niethammer, Lutz: Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der GeselIschaft der DDR, in: Kaelble, Hartmut u.a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 1 09.
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