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Am Übergang in das dritte
Jahrtausend zeichnet sich in Architektur und Städteplanung eine radikale
Umwertung jener Werte ab, die über ein Jahrhundert lang den Reformbewegungen
und Entwurfskonzepten moderner Stadtplanung Antrieb gaben. In der Sehnsucht
nach dem retrospektiv verklärten Bild der großen Städte des neunzehnten
Jahrhunderts mit ihren dichten Baustrukturen und vielfältiger Mischung
unterschiedlicher Nutzungen erscheint die untergegangene Schönheit der
Städte als ein unwiederbringlich verlorenes Gut, von dem allenfalls durch
Rekonstruktion zerstörter Bauten und verwischter Stadtgrundrisse noch
ein ferner Abglanz zu gewinnen sei. Gegen über diesem imaginierten Glanz
der Vergangenheit wird die gebaute Wirklichkeit der von Funktionstrennungen
durchzogenen, in unförmige Peripherien auswuchernden Agglomerationen zum
tristen Schreckbild einer gescheiterten Moderne stilisiert - ohne Blick
auf die Bedingungen, unter denen vor einem Jahrhundert die Auflösung der
großen Städte in überschaubare Siedlungseinheiten zwischen offenen Landschaftsräumen
zum Wunschbild der Planer wurde. Will man Wachstum und Umbau, vor allem
aber: die Gründung neuer Städte in diesem Jahrhundert im historischen
Kontext verstehen und in ihrer gegenwärtigen Gestalt begreifen, muß an
diese Voraussetzungen erinnert werden.
Die Abkehr von der großen Stadt
Wie eine schwere Last lagen die Lebensverhältnisse industrieller Großstädte
auf den Zukunftserwartungen, die sich hoffnungsvoll auf das zwanzigste
Jahrhundert richteten. (1)
Mit Blick auf dringend erforderliche, durchgreifende Reformen in der Entwicklung
der Städte wurden zahllose Siedlungsmodelle und Idealstadtkonzepte entworfen,
unter denen die Idee der Gartenstadt prominent hervortrat und rasch weltweite
Verbreitung fand. In seiner epochalen Schrift "To-morrow: A Peaceful Path
to Real Reform" gab Ebenezer Howard 1393 einem neuen Leitbild Konturen,
das in vielerlei Varianten die Planungsdebatten des zwanzigsten Jahrhunderts
prägte, in später wechselnden Formulierungen den jeweils herrschenden
politischen Zuständen angepaßt. "Wie ein Schreckgespenst verfolgt mich
die Ungeheuerlichkeit Londons" (2)
- in diesem Zitat faßte Howard die weit verbreitete Abscheu seiner Zeitgenossen
vor den großen Städten zusammen; nicht nur in Deutschland richteten sich
zur gleichen Zeit Großstadtkritik und Agrarromantik mit vernichtendem
Urteil gegen den "Moloch" Stadt, in Erwartung einer ganz neuen, anderen
Siedlungsform als Versöhnung von Stadt und Natur, in gelungener Symbiose
von Siedlung und Landschaft, wie Howard hoffte: "Stadt und Land müssen
sich vermählen, und aus dieser erfreulichen Vereinigung werden neue Hoffnung,
neues Leben und neue Kultur entstehen." (3)
In Deutschland wurde solche Hoffnung durch die 1902 gegründete Gartenstadtgesellschaft
genährt und verbreitet. Einflußreiche Architekten und Stadtplaner schlossen
sich dieser Bewegung an, die sich mit Initiativen zur Lebensreform und
für Heimatschutz verband, in merkwürdigen Bündnissen von revolutionären
wie konservativen Kräften weitergetragen. (4)
Denn das Konzept der Gartenstadt ließ unterschiedliche Deutungen und politische
Absichten zu, erschöpfte sich nicht in einem schlichten >Zurück zur Natur<.
Von Howard als zukunftsoffenes "working model" entworfen, gab es sozialen
Reformen Perspektive und Rahmen, schloß auch weitere Industrialisierung
mit ein - unter der Prämisse, daß die neuen Städte auf rund 33 000 Einwohner
zu begrenzen und in überschaubare Einheiten zu gliedern, vorhandene Großstädte
künftig nach gleichen Zielen umzuformen seien.
Während Howards Buch in ganz Europa begeistert aufgenommen und einer neuen
Generation von Planern zum Lehrbuch wird, legt ein junger Architekt aus
Paris während seines Studienaufenthalts in Rom von 1899 bis 1904 ähnliche
Gedanken in einem umfassenden Planwerk dar, das unter dem Titel "Une cite
industrielle" die Gestalt und die Bauten einer idealen Industriestadt
anschaulich zu antizipieren versucht. In der optimistischen Annahme, technische
Fortschritte in Bauproduktion und industrieller Fertigung Grundlage der
Stadtwirtschaft ist die Metallindustrie mit Hochöfen, Montagewerken, Schlossereien
und einer Schiffswerft - mit sozialen Reformen zu verbinden, geht Tony
Garnier von einer umfassenden Vergesellschaftung des Bodens, durchgreifender
Planwirtschaft und einer Begrenzung der Stadt auf 35 000 Einwohner aus.
1899 hatte Garnier in Paris den Grand Prix de Rome erhalten, der mit einem
Stipendium verbunden war; bis 1904 ist die Vision der neuen Stadt in Aquarellen
und Zeichnungen festgehalten, die mit ergänzenden Entwürfen 1917 publiziert
werden.
Erstmals liegt damit die Idealplanung für eine Stadtgründung vor, in der
ein modernes Industriewerk als Basis planmäßiger Stadtentwicklung in systematischen
Bezug zu öffentlichen Bauten und Wohnsiedlungen gebracht wird, die ihrerseits
wieder auf Gedanken der Gartenstadt verweisen. Indem nämlich jedes Gebäude
auf dem - nach strenger Vorschrift! - nicht zu bebauenden Teil seiner
Parzelle eine Passage für öffentlichen Durchgang mit Grünanlagen freigibt,
wird die "Durchquerung der Stadt in jedweder Richtung unabhängig von den
Straßen" möglich: "Der Boden der Stadt wird somit, insgesamt betrachtet,
gleichsam zu einem großen Park, ohne irgendeine Trennmauer, um die einzelnen
Gebäude voneinander abzugrenzen." (5)
Der Gedanke, die Stadt als Park, als öffentlich zugängliche, beliebig
durchquerbare Landschaft zu gestalten und damit die überkommene Trennung
von Stadt und Land zumindest partiell aufzuheben - und dabei zugleich
unter hygienischen Aspekten eine Trennung der städtischen Funktionen in
einzelne Zonen einzuleiten -, wird in den folgenden Jahrzehnten die internationale
Planungsdiskussion prägen. Mit revolutionärem Pathos wird in Deutschland
nach dem Umbruch von 1918 radikal die Auflösung der Städte gefordert,
denn: "Steinhäuser machen Steinherzen!" Mit seiner 1920 publizierten Programmschrift
"Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung" läßt Bruno
Taut Perspektiven einer alle Stadt- und Staatsgrenzen überschreitenden
Planung aufscheinen, die in einem lockeren Verbund landschaftlich geformte
Siedlungen auf floralen Grundrissen miteinander verbindet. Im Kern der
neuen Siedlungen finden sich "notwendige Arbeitszentren - Werften, Hütten,
Zechen u. dgl."; mit Blick auf die erwartete sozialistische Gesellschaftsordnung
behauptet Taut emphatisch: "Die großen Spinnen - die Städte - sind nur
noch Erinnerungen aus einer Vorzeit, und mit ihnen die Staaten. Stadt
und Staat sind eins mit dem anderen gestorben. - An die Stelle des Vaterlandes
ist die Heimat getreten - und sie findet jeder überall, wenn er arbeitet."
(6)
Die >AIte Stadt< scheint endgültig überwunden zu sein; scheinbar
zwangsläufig mündet der Erkenntnisfortschritt im Städtebau schließlich
im Glücksversprechen einer egalitären Gesellschaft - egalitär zumindest
den Wohnformen nach. In Würdigung der bisherigen Reformversuche schreibt
Taut in seinem Buch "Die Stadtkrone", das in den Stadtplanungen
der folgenden Jahrzehnte nachhaltige Wirkung zeigt: "Wenn man die
Gartenstadtbewegung und dazu alle die städtebaulichen Arbeiten, die im
Anschluß an bestehende Städte Erweiterungen und in diesen Städten Verbesserungen
vornahmen, ferner die vielen fruchtbaren Anregungen in diesem Gebiete
überschaut, so kann man sagen: alle diese Arbeiten folgen einer neuen
Vorstellung, die, wenn auch durch Kompromisse vielfach verschleiert, in
ihnen lebt. Eine neue Idee lenkt alle diese Köpfe und Hände, es ist die
Idee der neuen Stadt." (7)
Die radikale Absage an die überkommenen Stadtstrukturen mit ihrer wilden
Konfusion der Funktionen in Mietskasernen, Korridorstraßen und Hinterhöfen
führt auf der Suche nach einer ganz anderen, "Neuen Stadt" zu programmatischen
Kontrasten, wie sie ab 1922 beispielsweise Le Corbusier - der sich in
seinen Publikationen explizit auch auf das Werk Tony Garniers bezieht
zum Umbau von Paris vorschlägt. Dort wird einem gigantischen Verwaltungszentrum
mit Schnellstraßen und Luftlandeplätzen eine Wohnstadt zugeordnet. In
seinem 1925 erschienenen Buch "Städtebau" erscheint der Planer als Demiurg,
der vom Reißbrett her das Glück der Massen lenkt. Im selben Jahr 1925
publiziert Ludwig Hilberseimer, wenig später Städtebau-Lehrer am Baubaus,
in Auseinandersetzung mit den Thesen Le Corbusiers, seine Vision einer
funktionell bereinigten Großstadt am Beispiel der ausgeräumten Mitte Berlins.
(8) Doch mehr
als das Zentrum der Metropole wird ihn in seinem weiteren Werk die Anlage
optimal belichteter und verkehrstechnisch bestens erschlossener Zeilen
gleichförmiger Reihenhäuser interessieren: Das Bild der Siedlung tritt
an die Stelle der großen Stadt, die künftig als Geflecht überschaubarer
Einheiten vorgestellt wird als wohlgeordnete Überlagerung von Landschaftsraum
und Siedlungsstruktur. (9)
Stadtlandschaft und Volksgemeinschaft
"Diese neuen Städte einer neuen Volksgemeinschaft werden der sichtbarste
und dauerndste Ausdruck eines neuen Gemeinschaftswillens sein [...]. Eine
neue Wissenschaft einer neuen Stadtplanungskunst konnte und kann nur erwachsen
auf dem Boden neuer weltanschaulicher Grundgedanken." Mit diesen Worten
leitet Gottfried Feder, seit 1930 als maßgeblicher Programmatiker Mitglied
der Reichsleitung der NSDAP und ab 1934 Reichskommissar für das Wohnungswesen,
sein voluminöses Buch "Die neue Stadt« ein, das auch nach 1945 in Fachkreisen
noch lange als Standardwerk geschätzt wird. (10)Trotz
polemischer Ablehnung der sachlichen Formen moderner Architektur, die
in den politischen Polarisierungen seit Ende der zwanziger Jahre als Ausdruck
eines zersetzenden "Kulturbolschewismus" denunziert worden waren (11),
übernahmen die Nationalsozialisten nach Verfolgung und Vertreibung der
politisch exponierten Protagonisten der Moderne wesentliche Grundzüge
der seit der Jahrhundertwende entwickelten Konzepte des Neuen Bauens -
nun freilich eng eingebunden in eine völkische und rassistische Ideologie,
die bis in die Terminologie der "neuen Stadtplanungskunst" eine durchgreifende
Biologisierung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse widerspiegelt:
"Dieser Stadtorganismus wird sich zusammensetzen aus einer ganzen Reihe
von Zellen, die sich dann zu Zellenverbänden innerhalb verschiedener Unterkerne
um den Stadtmittelpunkt herum gruppieren. Oft werden mehrere Unterkerne
zu einem Zellverband höherer Ordnung zusammentreten, um dann erst die
verschiedenen Zellverbände höherer Ordnung zum Gesamtorganismus zusammenzuschließen,
in dem dann die der ganzen Gemeinde dienenden Einrichtungen Platz finden."
(12)
Neben dem Umbau bestehender Städte nach streng hierarchisch ordnenden
Gliederungsprinzipien strebte Feder vor allem die Neugründung zahlreicher
"Landstädte" an, wie er schon im Mai 1934 in seiner Rede vor dem Preußischen
Herrenhaus gefordert hatte: "AIs entscheidender Wendepunkt für das deutsche
Siedlungswerk schwebt mir der Gedanke vor, neue Land- und Kleinstädte
als neue soziale Lebewesen zu gründen und zu bauen und diesen neuen Städtchen
auch die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu sichern." Dabei weiß Feder:
"Die Standortfrage tritt in den Vordergrund. Notwendigerweise verbindet
sich damit ein überaus wichtiges Gebiet: die Industrieverlagerung. So
werden Reichsplanung und Industrieverlagerung zu einer eminent wichtigen
Aufgabe." (13)
Innerhalb weniger Jahre wird durch die Mittel und Ämter der Deutschen
Arbeitsfront der Siedlungsbau vorangetrieben; Mustersiedlungen wie Mascherode
bei Braunschweig verkörpern exemplarisch die vom Heimatschutz-Propagandisten
Paul Schultze-Naumburg auch im Bauen geforderte "Kunst aus Blut und Boden"
im Sinne vergegenständlichter Großstadtkritik. (14)
Doch erst mit dem Vierjahresplan Görings kann die Gründung neuer Industriestädte
vorbereitet werden, wobei bezeichnenderweise die "Wohnstadt" räumlich
und zeitlich getrennt von den Industrieanlagen geplant wird. Nach Gründung
der Reichswerke Hermann Göring am 15. Juli 1937 erhält der Architekt Herbert
Rimpl, der kurz zuvor den Bau der neuen Heinkel-Flugzeugwerke bei Oranienburg
erfolgreich durchgeführt hatte, den Auftrag, im Gebiet von Salzgitter
die Wohn- und Verwaltungsbauten der Reichswerke zu entwerfen. (15)
Ein erstes Musterhaus kann schon zum 1. Mai 1938 bezogen werden, im selben
Monat erfolgt der Baubeginn für eine nördlich von Salzgitter-Kniestedt
gelegene Siedlung, in der später 5000 Bergleute, Arbeiter und Beamte leben
sollen; die Infrastruktur für diese Siedlung entwirft Fritz Rechenberg,
der als Assistent von Gottfried Feder gleichzeitig an dessen Buch "Die
neue Stadt" mitwirkt. Die in größerem Maßstab für 130 000 Einwohner geplante
neue Stadt der HermannGöring-Werke zeigt paradigmatisch die Überlagerung
und Transformation der aus den Reformdebatten der zwanziger Jahre selektiv
übernommenen Stadtkonzepte, indem drei unterschiedliche Entwicklungslinien
in einer weiträumig angelegten Gesamtfigur zusammengebunden werden: Als
Zentrum und Rückgrat der Stadt sind entlang der beherrschenden Achse monumentale
Großbauten als "Stadtkrone" mit Aufmarschplatz und Sportstadion verbunden;
seitlich dieser Achse sind mit aufgelockerter und zu den Rändern hin abnehmender
Baudichte und -höhe Siedlungsgebiete angelegt, die durch Grünzüge voneinander
getrennt und im Sinne kleiner Gartenstädte ausgeformt sind. (16)
Umgriffen und durchdrungen wird die neue Stadtfigur durch breite, in weiten
Schwüngen geführte Straßen bis hin zur nahegelegenen Reichsautobahn, wobei
das gesamte Verkehrsnetz auf eine rasche Motorisierung der "Volksgenossen"
hin dimensioniert ist.
Mit Blick auf die zuvor für drei alternative Standorte im Raum von Salzgitter
erarbeiteten Konzepte betont Herbert Rimpl, daß sämtliche "PIäne und Modelle
zeigen, wie stark hier die Natur die Planung beeinflußt". Geradezu mustergültig
wird hier jener >Gedanke der Stadtlandschaft< zu konkreter Form gebracht,
der um 1940 die Leitidee künftigen Städtebaus in Deutschland vorgibt.
(17)
Dieser "Stadt im Grünen" werden alle jene Eigenschaften fehlen, die traditionell
Großstädte prägten: die bauliche Dichte, Vielfalt der Nutzungen, Heterogenität
der Bewohner und die Dynamik des freien Marktes. Durch die zentralen Großbauten,
die gleichsam als Identifikationsangebote aus dem Stadtgefüge hervorgehoben
werden, sollen die Bewohner auf Staat und Volk verpflichtet werden.
In der städtebaulichen Grundform wird Großstadt simuliert, doch werden
selbst die Verkehrsfunktionen aus der Mitte der Stadt herausgenommen:
Der automobile Verkehr wird durch zwei parallel zur zentralen Achse geführte
Straßen aufgenommen, dazwischen liegt "der 90 m breite Straßenzug, der
normalerweise für den Fahrverkehr gesperrt ist und in Form einer breiten
Promenade angelegt ist". (18)
Das Primat der Landschaft gibt auch der Planung für die Stadt des KdF-Wagens
von Anbeginn die Bedingungen vor. Bei engerer Verbindung von Industriewerk
und Stadt werden hier die einzelnen Baugebiete "unter möglichster Schonung
der schönen Waldgebiete so ausgewiesen, daß gut besonnte und windgeschützte
Wohnanlagen" entstehen können: "Die einzelnen Stadtteile konnten um die
beherrschende Höhe des Klieversberges gruppiert werden, der die Stadtkrone
tragen soll. Von dort aus kann das gesamte Tal mit dem Werk und den Waldkulissen
der nördlichen Heidelandschaft weit überschaut werden." (19)
Wie eine umgrünte Burganlage überragt die verkehrsfreie "Stadtkrone" die
umliegenden Baugebiete; die nördlich gelegene Hauptstraße ist zwischen
zwei Verkehrskreiseln mit breiten Grünstreifen ausgebildet, von Durchgangs-
und Schwerverkehr entlastet. Entlang allen Hauptstraßen ist eine Blockbebauung
von lediglich drei bis vier Geschossen mit Geschäften und Büroräumen vorgesehen,
gleich "hinter diesen Blocks schließt dreigeschossige Bebauung an". Kaum
begonnen, findet die Stadt schon ihr vorgeordnetes räumliches Ende: "Die
zweigeschossige geschlossene und offene Bauweise bildet dann den Übergang
zu den Grünflächen." (20)
Das naturnahe, landschaftsbezogene
Wohnen in kulturell gleichgeschalteter Privatheit bildet den Gegenpol
zur industriellen Arbeit im Werk. Die Stadtmitte als öffentlicher Ort
und Treffpunkt hingegen ist primär politisch besetzt und dient neben der
baulichen Repräsentation der "Volksgemeinschaft" allenfalls der Versorgung
des alltäglichen Bedarfs. Der solcher Planung zugrundeliegende Fachkonsens
der Architekten im Dritten Reich wird unter Betonung der rassistisch getönten,
"volksbiologischen" Aspekte des Wohnens in zahlreichen Publikationen erläutert,
programmatisch zusammengefaßt in Wilhelm Wortmanns Beitrag "Der Gedanke
der Stadtlandschaft" in der Zeitschrift "Raumforschung und Raumordnung"
vom Frühjahr 1941. "Die Aufgabe heißt, die in der Stadt gegebene Häufung
von Menschen und Arbeitsstätten so zu gestalten, daß die gegen die Stadt
erhobenen Vorwürfe entkräftet werden; das Leben des Städters muß wieder
gesund und lebenswert werden. Der Gedanke der Stadtlandschaft will diese
Forderung erfüllen. Dieser Begriff ist mit Herabzonung der Baudichte und
-höhe, mit Auflockerung und reicher Durchsetzung der Baugebiete mit Grünzügen
nicht erfaßt. Die Stadtlandschaft will einen neuen zellenförmigen Aufbau
der Stadt in bewußter Anlehnung an die politische Gliederung unseres Volkes,
im Gedanken der Volksgemeinschaft und in lebendiger Beziehung zur Landschaft.
In der Siedlungszelle steht der einzelne Mensch wieder in einem für ihn
erfühlbaren Zusammenhang mit dem Ganzen." (21)
Im selben Heft fordert der Architekt Hans Bernhard Reichow mit Blick auf
die Gründung neuer Städte in den eroberten Ostgebieten, "im Städtebau
die Voraussetzungen zu schaffen für die Wiedergewinnung einer auf einheitlicher
Weltanschauung und politischer Zielsetzung beruhenden Lebenseinheit des
deutschen Menschen, die als Grundlage jeder Kultur mit allen uns gebotenen
Mitteln erreicht werden muß". Zur Kolonisierung des Ostens entwirft Reichow
mitten im Krieg schematisch angelegte Pläne zur Gründung von Städten,
die sich "durch einheitliche Ausrichtung von der Siedlungszelle her" auszeichnen
und damit auch räumlich die politische Gliederung der NSDAP in "Ortsgruppen"
widerspiegeln sollen: Gemeinsam mit dem Hamburger Architekten Konstanty
Gutschow und dem Bremer Planer Wilhelm Wortmann erarbeitet Reichow das
Konzept für die "Ortsgruppe als Siedlungszelle", das eine durchgreifende
politische Kontrolle und damit zugleich die ideologische Funktion des
neuen Leitbildes erkennen läßt: "Die Stadtlandschaft stellt, wie schon
angedeutet, keine neue Idealstadt formaler Art dar, sondern ist zunächst
eine abstrakte Organisationsidee im Dienste der >Lebenseinheit< auf der
Grundlage einer neuen weltanschaulichen und politischen Ausrichtung."
(22)
Diese "weltanschauliche Ausrichtung" wird das Denken maßgeblicher Architekten
und Planer auch über das Ende des Dritten Reiches hinaus noch lange bestimmen,
auch wenn der entsprechende Fachjargon nun terminologisch entnazifiziert
und die Pläne von den Hoheitszeichen bereinigt werden. (23)
Kontinuierlich arbeitet Reichow an seinen Vorstellungen zur künftigen
Stadt, die 1948 im ersten grundlegenden Lehrbuch des Städtebaus, das nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland erscheint, materialreich
dargelegt werden. Unter dem Titel "Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt
zur Stadtlandschaft" schildert der Autor das Entstehen der nun auch im
Wiederaufbau zerstörter Städte geforderten Stadtlandschaft als einen gleichsam
natürlichen Evolutionsprozeß, in dem - wie zuvor - die Biologisierung
der Gesellschaft die Sichtweise der Architekten prägt. Auch wenn die "Ortsgruppe
als Siedlungszelle" nun im Sprachgebrauch der westlichen Alliierten als
"Nachbarschaft" bezeichnet ist, wird an der Behauptung festgehalten, daß
allein die Idee der Stadtlandschaft zur Einheit einer neuen, "organischen"
Stadtbaukunst führt.
Illustriert werden solche markigen Sätze auf der gegenüberliegenden Seite
im Lehrbuch durch Abbildungen des Stadtgrundrisses von Wolfsburg, die
mit dem Ausruf: "Keine vollendete Einheit!" kommentiert sind: "Das Fahrverkehrsnetz
der nicht durchgeführten Planung der ehemaligen Volkswagenstadt Wolfsburg
mit der unterschiedlichen Verkehrsbelastung zeige, daß hier "das Optimum
nicht erreicht wird". In Korrektur solcher "Fehlleistung" durch "eine
einheitliche organische Planung" stellt Reichow 1948 seinen Vorschlag
zur bandartig ausgreifenden Stadterweiterung Wolfsburgs vor, die er im
Rahmen eines Planungauftrags ab Februar 1947 erarbeitet hatte. (24)
Nach dem vorübergehenden Rückzug von Peter Koller aus Wolfsburg sollte
nun ausgerechnet der ideologisch ungleich radikalere Reichow als politisch
scheinbar unverdächtiger Fachmann "für ein neues Image sorgen, das nichts
mehr mit der von Speer inspirierten Koller-Planung zu tun haben sollte".
Tatsächlich gelingt Reichow mit seinem "Zauberwort" von der angeblich
zeitlos "organischen" Planung der "Brückenschlag über die Zeiten"; Anfänge
der Siedlungsentwicklung in der Nachkriegszeit künden bis heute von seinem
Wirken in Wolfsburg, in das wenig später Peter Koller als Stadtbaurat
wieder in bewährter Kontinuität eintrat. (25)
Mit seinen Planungen wird Reichow in vielen Orten der Bundesrepublik die
Züge der künftigen Stadtgestalt prägen, und mit dem Titel seines neuen
Buches gibt Reichow 1959 noch dem kommenden Jahrzehnt ein verbal schlagkräftiges
Motto für die nächste Phase bundesrepublikanischer Stadtentwicklungen
vor: "Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos" verallgemeinert
die in der Planung für die "Volkswagenstadt" gewonnenen Einsichten und
wird damit zur weiteren Zerstörung der historisch überkommenen Stadtstrukturen
beitragen.
Kontrastprogramme
Noch vor der politischen Wende von 1933 richteten junge Architekten und
Planer in Deutschland am Ende der zwanziger Jahre ihre Zukunftshoffnungen
auf Ereignisse weit im Osten Europas. Da im Westen die Bautätigkeit infolge
der Weltwirtschaftskrise ab 1929 nahezu zum Erliegen kam, wurde die Gründung
neuer Industriestädte in der Sowjetunion als verlockendes Aufgabenfeld
betrachtet. Erfahrene Architekten wie Ernst May und Bruno Taut berichteten
enthusiastisch von den neuen Möglichkeiten, im Rahmen staatlich gesicherter
Wirtschaftsplanung nach den Prinzipien modernster Siedlungsgestaltung
ganze Großstädte entwerfen zu können. In Berlin war von der sowjetischen
Regierung eigens eine Stelle zur Anwerbung deutscher Fachkräfte eingerichtet
worden, und angesichts der heraufziehenden Arbeitslosigkeit sowie dramatischer
Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Deutschland bewarben sich ab
1929 Hunderte von Interessenten. (26)
Auf Grundlage des in der Sowjetunion proklamierten Fünfjahrplanes und
einer neuen politischen Ökonomie sollte der Ausbau der Schwerindustrie
durch den Bau neuer Städte mit industriellen Produktionsmethoden begleitet
werden. Dazu waren die deutschen Erfahrungen auf diesem Gebiet besonders
gefragt, und bald arbeiteten im Verbund mit staatlichen Projektierungsbüros
zahlreiche deutsche Architekten in der Sowjetunion.
Doch kaum waren die ersten Stadtteile in Magnitogorsk und anderen neu
gegründeten Städten in Zeilenbauweise und sachlicher Architektur entstanden,
da meldete sich schon die Kritik an den gebauten Ergebnissen der aus dem
Westen importierten Planung. "Wir planten diese Städte als eine zwar richtige
Aneinanderreihung von Siedlungen im Zeilenbau, chemisch rein und geordnet
nach besten Erkenntnissen", erinnert Werner Hebebrand, der 1930 mit Ernst
May von Frankfurt am Main in die Sowjetunion ging und ab 1938 als Mitarbeiter
von Herbert Rimpl maßgeblich die Planung der Stadt der Hermann-Göring-Werke
bestimmt: "Und was sagten die Russen? Sie fragten: >Wo ist denn Eure Friedrichstraße?<
Das war im Jahr 1932 in Sibirien, als mir persönlich die verschwundene
Urbanität klar wurde, lange bevor die Soziologen dieses Wort erfunden
hatten." (27)
Bald wurde die aus Deutschland importierte neue Architektur der Sachlichkeit
sowohl von weiten Teilen der Bevölkerung als auch von einflußreichen Politikern
abgelehnt, die sich mit diesen unpopulären Bauten nicht zu identifizieren
vermochten. Und auch die entsprechenden Konzepte der funktionellen Stadt
wurden scharf kritisiert, zumal sie als Ausdruck einer internationalen
Reformbewegung, die ihren Anfang in den Ländern des kapitalistischen Westens
genommen hatte, in Widerspruch gerieten zu den mit nationalem Pathos getönten
Programmen zum "Aufbau des Sozialismus in einem Land".
Mit der programmatischen Rückwendung zum Herrschaftsanspruch autokratischer
Planung, die nun zunehmend von Stalin selbst übernommen oder zumindest
kontrolliert wurde, und mit der Hinwendung zum populären Formenrepertoire
traditionellen Städtebaus des neunzehnten Jahrhunderts war allen Hoffnungen
auf eine sichtbare Entsprechung von sozialistischer Gesellschaftsform
und radikal moderner Stadtplanung eine klare Absage erteilt. Statt der
Auflösung Moskaus in einzelne Trabanten und Wohnbezirke, wie sie kurz
zuvor noch Le Corbusier und Ernst May für die Hauptstadt der Sowjetunion
geplant hatten, wurden nun nach dem Idealbild einer streng hieratisch
geordneten Stadtstruktur breite Ringstraßen und Magistralen mit herrschaftlicher
Wohnbebauung angelegt, wobei nun unter Bezug auf das "Erbe der Weltkultur"
demonstrativ auf Gestaltungsprinzipien der Renaissance und des Barocks
zurückgegriffen wurde. (28)
In Massen zogen sich ab 1933 ausländische Experten aus der Sowjetunion
zurück, und nur wenige unter denen, die blieben - wie beispielsweise Werner
Hebebrand, Gerhard Kosel, Kurt Liebknecht und andere -, überlebten die
folgenden Jahre des mörderischen Terrors, der euphemistisch als "Säuberungen"
Stalins in die Geschichtsschreibung einging.
Zur sinnlich eindrucksvollen Verklärung der historischen Größe Stalins,
seines Ordnungs- und Machtanspruchs, der nun durch praktische Politik
zugleich die Geschichte des zaristischen Rußlands sowie den starken Einfluß
der Kirche beenden und in einen Zustand ewigen Glücks überführen sollte,
wurden mit der Planung für die Rekonstruktion Moskaus, mit Entwürfen für
den monumentalen Sowjetpalast und die umgebenden Hochhaushauten erste
Zeichen gesetzt. Demonstrativ überragen die Kathedralen gleichenden Wohnpaläste
mit vergoldetem Sowjetstern auf der Spitze die mit Kreuzen gekrönten Türme
des Kreml - gebaute Glücksversprechen, die mit allem Formen- und Bilderreichtum
die Erlösung der Menschen im Paradies auf Erden erwarten lassen sollten.
Während Albert Speer in Berlin die gigantische Halle des Volkes zur Versammlung
von 200 000 Menschen entwarf, wurde in Moskau mit dem Bau des Sowjetpalastes
begonnen. Und während Berlin wenig später in Trümmer fällt, wachsen in
Moskau als Zeichen des Sieges gewaltige Bauten in adaptierten historischen
Stilkleidern dem Himmel entgegen - im Bauen wird zugleich der Sieg des
Sozialismus als Ende aller Klassenkämpfe und damit auch als kommendes
Ende der Geschichte gefeiert.
Vor den strahlenden Bauten eines neuen Moskau stehen voller Staunen und
Bewunderung im Frühjahr 1950 jene Architekten und Planer aus Deutschland,
die auf Einladung der KPdSU zu einer Studienreise in die Sowjetunion kamen.
Auch in der Sowjetischen Besatzungszone hatte man nach 1945 im Sinne des
Konzeptes der gegliederten und aufgelockerten Stadtlandschaft Entwürfe
zum Wiederaufbau vorgelegt; die radikalste Planung war von dem Planungskollektiv
um Hans Scharoun für Berlin erarbeitet worden. (29)
Die ehemalige Reichshauptstadt sollte auf völlig neuem Grundriß in eine
Bandstadt mit getrennten Streifen für Wohnen, Handel und Gewerbe verwandelt
werden: In dem von Bauten freigelegten Urstromtal der Spree würden sich
locker eingestreute "Wohnzellen" mit schlichter Bebauung einer grünen
Mitte einschmiegen - und in der Gleichwertigkeit der Stadtteile die demokratischen
Prinzipien einer neuen Gesellschaftsordnung sinnfällig Ausdruck finden.
Kurz nach Gründung der DDR waren im Dezember 1949 bei einem Besuch Walter
Ulbrichts anläßlich des siebzigsten Geburtstags Stalins entsprechende
Pläne für die neue Hauptstadt des "Arbeiter und Bauernstaates" im Osten
Deutschlands sowjetischen Experten vorgelegt worden und stießen auf scharfe
Kritik, wie Kurt Liebknecht später berichtet. (30)
Ganz im Sinne des inzwischen gängigen Mottos "Von Moskau lernen, heißt
siegen lernen!" wurden die Architekten in Ost-Berlin ultimativ dazu aufgefordert,
solche Vorstellungen zur Auflösung der Stadt aufzugeben und sich am Vorbild
Moskaus sowie anderer Städte wie Kiew, Minsk und Stalingrad ein Beispiel
zu nehmen. Unmittelbar nach der Rückkehr Ulbrichts wird die Reise einer
Delegation maßgeblicher Architekten und Baufunktionäre nach Moskau angeordnet,
denen unter der Leitung des Ministers für Aufbau, Lothar Bolz, Grundlagen
sowjetischer Stadtplanung vermittelt werden sollten. Neben Bolz gehörten
der Delegation unter anderen Fachleuten Kurt Liebknecht, ab 1951 Präsident
der Deutschen Bauakademie Berlin, dessen späterer Stellvertreter Edmund
Collein sowie der Dresdner Stadtplaner Kurt W. Leucht an, der im folgenden
Jahr mit der Planung für die Neugründung der Wohnstadt Fürstenberg - später:
Stalinstadt, dann Eisenhüttenstadt - betraut wird.
Nach strengem Arbeitsplan werden der deutschen Delegation im April und
Mai 1950 die Konzepte repräsentativen Städtebaus als Zeichen der "Größe
der Stalinschen Epoche" erläutert. In Vorträgen und Gesprächen werden
die bisherigen Planungen für Berlin kritisiert und Grundsätze sowjetischer
Stadtplanung als Grundlage künftiger Arbeit im Wiederaufhau ostdeutscher
Städte erörtert; unter der Forderung nach einer kompakt bebauten Stadtfigur
heißt es in einem Vortrag im Ministerium für Städtebau am 20. April 1950:
"In der Sowjetunion ist man unter allen Umständen gegen die englisch-amerikanische
Theorie von der Güte und Wirtschaftlichkeit der >aufgelösten< Stadt.
Sie ist unwirtschaftlich, sie ist auch nicht gegen Luftangriffe gesichert,
isoliert den Arbeiter vom politischen Leben und macht ihn zum Kleinbürger."
Zur künftigen "Struktur Berlins" folgt der Hinweis: "Wir sind für monumentale
Bauten, in denen sich der Bauwille und das Wollen der Bevölkerung ausdrücken.
[...] Im Gegensatz zu England, wo führende Architekten gegen die Monumentalbauten
sind, ist man in der Sowjetunion für sie." (31)
Entsprechende Großbauten, wie die Wohn- und Verwaltungshochhäuser im Kranz
um die Innenstadt Moskaus, werden von der Delegation mit rückhaltloser
Bewunderung studiert.
Unter scharfen Angriffen auf die Tätigkeit deutscher Architekten in der
Planung neuer Städte in der Sowjetunion Anfang der dreißiger Jahre werden
die Mitglieder der Delegation auf die neuen Richtlinien sowjetischer Architektur
und Stadtplanung verpflichtet, wobei in Mitschrift und Auswertung der
Vorträge und Gespräche die Tage in Moskau von der Delegation dazu genutzt
werden, die wichtigsten Aussagen in einer Reihe von Grundsätzen zusammenzufassen,
welche nach ihrer Rückkehr dem Wiederaufbau zerstörter Städte in der DDR
verbindliche Orientierungen vorgeben: Auch in Deutschland soll künftig
der Sieg einer neuen Gesellschaftsordnung in einer volkstümlichen, bildreichen
Architektur gefeiert werden, die in ihren Formen zugleich auf kulturelle
Traditionen deutscher Baukunst verweist und so eine Brücke zwischen Vergangenheit
und Zukunft schlägt. (32)
Wie in Übertragung der Lehrsätze des historischen Materialismus beginnt
der erste Grundsatz mit den Worten: "Die Stadt als Siedlungsform ist nicht
zufällig entstanden", wobei in den Erläuterungen auf die "innere Notwendigkeit"
von Stadtentwicklungen aufgrund der jeweiligen historischen Gegebenheiten
hingewiesen wird. (33)
Im zweiten Grundsatz wird als das "Ziel des Städtebaus" die "harmonische
Befriedigung des menschlichen Anspruches auf Arbeit, Wohnen, Kultur und
Erholung" vorgegeben, wobei im dritten Grundsatz unter den städtischen
Funktionen die Dominanz der industriellen Arbeit unterstrichen wird: "Städte
>an sich< entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden
in bedeutendem Umfange von der Industrie für die Industrie gebaut." (34)
Besonders dieser Grundsatz, der ergänzt wird durch den Zusatz, daß die
Bestimmung und Bestätigung der "städtebildenden Faktoren" künftig ausschließlich
Angelegenheit der Regierung sein soll, wird wenige Monate später zur Leitlinie
der Planung einer neuen Stadt, als im August 1950, kurz nach Verabschiedung
der "16 Grundsätze des Städtebaus" durch den Ministerrat der DDR am 27.
Juli 1950, eben dieser Ministerrat den Aufbau eines großen Hüttenwerkes
auf einem Gelände westlich von Fürstenberg, einem kleinen Ort an der Oder,
genehmigt. Zwei Jahre später, nach langwierigen Grundsatzentscheidungen
zur Anlage der "Wohnstadt des Eisenhüttenkombinates Ost", formuliert der
inzwischen verantwortliche Planer Kurt W. Leucht dem Minister für Aufbau
eine Rede, die im Mai 1952 den Zusammenhang von Hüttenkombinat und neuer
Stadt zur Sprache bringt: "Hier in Fürstenberg wird sowjetisches Erz mit
polnischer Kohle zu deutschem Friedensstahl geschmolzen. Hier in Fürstenberg
entsteht eine neue Stadt, deren Bewohner in unserem modernsten Hüttenwerk
vorbildliche Arbeit leisten und im Zusammenhang mit dem Werk und der Wohnstadt
in Verbindung mit sozialen und kulturellen Einrichtungen die Möglichkeit
haben werden, beispielhaft für die politische und kulturelle Gestaltung
unseres künftigen gesellschaftlichen Lebens in ganz Deutschland zu sein."
(35)
Doch bevor dieses Unternehmen "beispielhaft" Gestalt gewinnen kann, sind
die Grundsätze der Planung durch eine breite Propaganda in der Tätigkeit
von Architekten verbindlich zu machen. In einer dichten Folge von Veranstaltungen,
zu denen der Minister für Aufbau ab Juni 1950 die maßgeblichen Architekten
und Baufunktionäre sowie die Oberbürgermeister einiger großer Städte und
ihre leitenden Mitarbeiter einlädt, werden die in Moskau formulierten
"16 Grundsätze" in Berlin >diskutiert<, wobei jeder Einwand mit Hinweis
auf das sowjetische Vorbild schroff zurückgewiesen wird. Gleichsam als
Kontrastprogramm zur im Westen verbreiteten "Charta von Athen", in der
die bis 1933 von den Congres Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM)
erhobenen Forderungen nach Auflockerung und Funktionstrennung in Lehrsätzen
moderner Stadtplanung zusammengefaßt sind, werden in den Grundsätzen für
das Gebiet der DDR architektonisch streng gefaßte Straßen- und Platzräume
insinuiert, in denen zwischen monumentalen Bauten die Massendemonstrationen
und politischen "Feiern des Volkes" großzügig Raum finden sollen.
Im Juli 1950 wird auf dem lll. Parteitag der SED die in den "16 Grundsätzen"
enthaltene Verpflichtung auf die "nationaien Traditionen" deutscher Baukunst
von Walter Ulbricht als politisches Programm erläutert und eine erste
Anwendung im Aufbau Berlins gefordert. (36)
Mit dem im Frühjahr 1951 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Stalinallee
wird ein erstes Zeichen für den neuen Städtebau im Osten Deutschlands
gesetzt: Der mit dem ersten Preis ausgezeichnete Entwurf von Egon Hartmann
unterstreicht die Absage an die räumlich aufgelockerte Zeilenbauweise.
Unter hohem Erwartungsdruck werden die Preisträger darunter auch der Dresdner
Architekt Kurt W. Leucht - zu einem Entwurfskollektiv zusammengespannt,
das nach der gemeinsamen Fertigstellung des nach ihrem Tagungsort benannten
"Kienbaumplans" die Stalinallee abschnittweise und arbeitsteilig zu entwerfen
beginnt. (37)
Während mit Egon Hartmann, Hanns Hopp, Kurt W. Leucht und Richard Paulick
die prominentesten Architekten der DDR der großen Magistrale im Osten
der Stadt, durch die 1945 die Rote Armee in Berlin einzog, eine herrschaftliche
Gestalt zu geben suchen, erhebt sich am Rand der Stalinallee ab 1951 das
Hochhaus an der Weberwiese, ein Wohnhochhaus, das nach dem Entwurf von
Hermann Henselmann errichtet wird und als erster Leitbau im Sinne der
neuen Kulturdoktrin - "National in der Form - demokratisch im Inhalt"
- betrachtet werden kann. Unter Rückverpflichtung auf die nationalen Bautraditionen
wird hier mit Bezug auf Stilelemente von Bauten Karl Friedrich Schinkels
in der stadträumlichen wie baukünstlerischen Qualität ein Maßstab für
die künftige Architektur der DDR gesetzt. (38)
Mit der Verkündung des Nationalen Aufbauprogramms 1952 werden die Berliner
Projekte auch anderen Städten der DDR zum verbindlichen Vorbild. In vielen
Städten schreibt man erneut Wettbewerbe aus, deren Ergebnisse sich, gemessen
am Beispiel der Hauptstadt, mit den historisierenden Formen der Bebauung
monumentaler Magistralen und Platzanlagen deutlich vom bescheidenen Massenwohnungstau
in der Bundesrepublik unterscheiden sollen. Die "neue Ordnung" des jungen
Arbeiter- und Bauernstaates soll indessen nicht nur im Umbau der bestehenden,
sondern auch in der Gründung einer neuen Stadt durch "einen neuen Maßstab"
in der Gestaltung des städtischen Raumes und das "festliche Gewand" einer
traditionsverbundenen Architektur zum Ausdruck kommen. Im April 1951 hatten
Kurl W. Leucht und Richard Paulick im Ministerium für Aufbau konkurrierende
Planungen für die Anlage einer Wohnstadt am Eisenhüttenkombinat 0st vorgestellt,
mit denen die umständliche Suche nach einem tragfähigen Konzept für die
neue Stadt beendet werden sollte. Die Entscheidung stand unter großem
Zeitdruck: Seitdem im Anschluß an den programmatischen lll. Parteitag
der SED schon im August 1950 der Industrieminister Fritz Selbmann eigenhändig
eine Kiefer gefällt hatte, um dem neuen Hüttenwerk mit Wohnstadt in einem
symbolischen Akt Platz zu schaffen, waren diverse Entwürfe für die Neugründung
verworfen worden, die noch deutlich von Leitgedanken des Neuen Bauens
und der Siedlungsplanung der zwanziger Jahre bestimmt waren. Im Februar
1951 war den Architekten vor Ort erklärt worden, auch die "Grundsätze
für die Errichtung der Wohnstadt" seien "vorwiegend aus den praktischen
Erfahrungen entstanden, welche die Delegation deutscher Architekten bei
ihrem Staatsbesuch in der Sowjetunion gesammelt hat" (39).
Erst der Entwurf von Kurt W. Leucht, ehemals Baurat der Luftwaffe, der
sich zu Beginn des Krieges im Büro von Ernst Sagebiel beim Bau von Flughäfen
und Wohnsiedlungen bewährt, 1950 an der Reise nach Moskau und anschließend
am Wettbewerb um die Stalinallee teilgenommen hatte, konnte den hohen
Erwartungen an die Gestalt der neuen Wohnstadt gerecht werden, die "keine
Siedlung im alten Stil (Siedlungshäuser)" sein, sondern "einen betont
städtischen Charakter mit mindestens 3geschossigen Häusern aufweisen"
sollte. (40)
Im Sommer 1951 legte Leucht in seiner Eigenschaft als Konsultant und Leiter
der Abteilung Städtebau des Ministeriums für Aufbau in Zusammenarbeit
mit Heinz Kalisch vom Landesprojektierungsbüro Berlin die Skizze eines
Stadtbebauungsplans vor, die mit monumentalem Werkseingang und davon ausgehender
Magistrale mit verschwenktem Aufmarschplatz einerseits zwar sowjetischen
Vorbildern und den in Moskau formulierten Grundsätzen des Städtebaus entsprach,
andererseits aber durch die internen Grünachsen und offenen Höfe eine
Weiträumigkeit und Durchgrünung aufwies, die in der Binnengliederung Motive
des Leitbildes der Stadtlandschaft aufnahm. Nach Überarbeitung dieser
Skizze wurde die Anlage der Stadt im Entwurf von 1952 deutlich straffer,
die Blockecken waren zugunsten des "städtischen" Erscheinungsbildes geschlossen
worden, doch übt Walter Ulbricht angesichts der vorliegenden Pläne mit
Blick auf die Umbenennung der Stadt in Stalinstadt am 7. Mai 1953
erneut Kritik. Eine eigens eingesetzte "Kommission zur Überprüfung
der städtebaulichen und architektonischen Fragen in Stalinstadt" fordert
wenig später die Architekten auf, ihre Angst "vor Türmen und Aufbauten"
sowie die "Scheu vor symmetrischen Lösungen" (41)
zu überwinden - wo bei implizit die Scheu vieler Architekten
angesprochen ist, allzu offensichtlich städtebauliche Muster zur Neugestaltung
von Gauhauptstädten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu übernehmen.
Aus der Kritik am "siedlungsmäßigen Schematismus" wird indessen die Ausschreibung
eines Wettbewerbs zur Gestaltung der Magistrale formuliert, in dem das
Ziel einer prägnanten Verbindung zwischen Arbeit und Freizeit, Industriewerk
und Wohnstadt eindeutig benannt wird. (42)
Doch während die Ergebnisse dieses Wettbewerbs mit Vorschlägen zu repräsentativer
Gestaltung von Werkseingang und Magistrale, die an barocke Schloßanlagen
erinnern, im Herbst 1953 der Öffentlichkeit vorgestellt werden, haben
sich nicht nur durch den Aufstand vom 17. Juni 1953 die politischen Voraussetzungen
zur Realisierung solcher Pläne grundsätzlich geändert (43):
Im März 1953 ist Stalin gestorben; im Kampf um seine Nachfolge beginnt
sich der Reformer Nikita Chruschtschow durchzusetzen. Im Dezember 1954
ruft Chruschtschow die maßgeblichen Architekten und Baufunktionäre
der Sowjetunion zur "AIIunionskonferenz der Bauschaffenden" zusammen,
um in aller Öffentlichkeit die Entstalinisierung der Baukultur einzuleiten,
indem er den bisher üblichen "Konservatismus in der Architektur" angreift
und unter dem Motto "Besser, billiger und schneller bauen!" eine durchgreifende
Industrialisierung des Bauwesens fordert. Ab diesem Dezember 1954 werden
die kostensparende Standardisierung und Typisierung des Bauens vorangetrieben,
entsprechende Appelle auch an die "sozialistischen Bruderländer" weitergegeben.
In der "Ersten Berliner Baukonferenz" vom April 1955 wird der sowjetische
Kurswechsel auch in der DDR durchgesetzt. Und bald wirkt sich die Abkehr
von den Maximen des nun als "Zuckerbäckerstil" verhöhnten Sozialistischen
Realismus im Bauen auch im Bild der Städte aus. Während die ersten beiden
"Wohnkomplexe" in Stalinstadt noch die Orientierung an den "Nationalen
Bautraditionen" repräsentativen Städtebaus auf kompaktem Stadtgrundriß
erkennen lassen, werden schon im dritten Wohnkomplex Übergänge zu
einer offeneren Bauweise sichtbar, die schließlich in der westlich angrenzenden
Anlage von Rosenhügel und Gartenfließ mit den zugehörigen Punkthochhäusern
und Wohnzeilen gegen Ende der fünfziger Jahre deutlich dem Konzept der
zuvor verpönten "Stadtlandschaft" nach westlichen Vorbildern folgt. In
schroffer Abkehr von den Entwürfen monumentaler Achsen mit geschlossener
Blockrandbebauung werden schließlich in farbenprächtigen Aquarellen auch
für die Gestaltung der Magistrale Kontrastprogramme vorgestellt, die mit
ihren Punkthochhäusern und Pavillonbauten jeder westdeutschen Großstadt
entlehnt sein könnten. Im Zuge "friedlicher Koexistenz" führt der Wettbewerb
der Systeme zu einer Angleichung der stadtplanerischen Konzepte, die den
gebauten Ausdruck politischer und kultureller Polarisierung in Deutschland
allmählich zu überdecken scheint.
Differenzen
Der Vergleich zweier Stadtgründungen im Westen und Osten Deutschlands
ist verlockend, wobei jedoch die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen
in verschiedenen politischen Systemen und historischen Epochen nicht übersehen
werden dürfen. Auf dem Höhepunkt nationalsozialistischer Machtentfaltung
erfolgte die Gründung der Stadt des KdF Wagens im Versuch einer Synthese
unterschiedlicher Leitvorstellungen moderner Stadtplanung, die im Begriff
der Stadtlandschaft einen übergreifenden Rahmen fanden und sich - in der
Kontinuität von Konzepten und Personen - auch über das Schwellenjahr 1945
hinaus weiter verfolgen lassen. Die Gründung der ab 1953 Stalinstadt,
seit 1961 Eisenhüttenstadt genannten neuen Stadt der DDR hingegen steht
mehr als zwölf Jahre später - von Anbeginn unter dem Diktat oktroyierter
Planungskonzepte und chronischer Mangelwirtschaft im sowjetisch besetzten
Teil Deutschlands. Während die Stadt im Westen infolge von Marshallplan
und "Wirtschaftswunder" schon in den fünziger Jahren zu neuer Blüte kam,
sind die verschiedenen Phasen der Stadtentwicklung im Osten von prekären
ideologischen Umbrüchen und wirtschaftlichen Restriktionen gekennzeichnet,
die sich bis in die Gegenwart im Bild der Stadt ablesen lassen. Wenn sich
heute die Erscheinungsbilder beider Städte infolge der Konvergenz planerischer
Leitvorstellungen ab Ende der fünfziger Jahre in weiten Teilen ähneln,
ist dies schließlich auch ein später Ausdruck jener Versuche vom Anfang
dieses Jahrhunderts, mit Prinzipien der Gliederung und Auflockerung von
Siedlungskörpern die Auflösung überkommener Stadtstrukturen in Gegen-Bilder
gelungener Vermählung von Stadt Landschaft zu verwandeln.
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