Neue Leitbilder: Der
Stadtteil Rabenberg entstand Ende der fünfziger Jahre nach skandinavischen
Vorbildern, 1970 (Photo: Willi Luther) |
Die Stadt
des KdF-Wagens. Entwuf und Aufbau
Die Auftraggeber verlangten 1937 eine "richtige Stadt"
mit klarer Beziehung zum Volkswagenwerk, dessen Bauplatz bereits festgelegt
war. (1) Stadtplaner
Peter Koller schlug dafür auf die beiden Werkeingänge zulaufende Straßenspangen
sowie eine Gegenüberstellung von Schaufront des Werkes und "Stadtkrone"
auf dem Klieversberg vor und kombinierte topographische Bedingungen mit
Entwurfselementen aus den bekannten Plänen Albert Speers zur Neugestaltung
Berlins. So sollte zum Beispiel am Fuße der "Stadtkrone", wo die Gemeinschaftsbauten
der Partei Platz finden sollten, eine einhundert Meter breite Aufmarsch"Achse"
vorbeiführen. Der parteiamtlichen Propaganda für die "Verkraftung" des
Verkehrs wurde durch Flußdiagramme entsprochen, die am Stadtrand beginnend
zu den Werkeingängen hin wachsende Verkehrsmengen im geplanten Straßennetz
veranschaulichen sollten. Kollers Generalbebauungsplan war für eine 90
000 Einwohner fassende Stadt ausgelegt, mit Erweiterungsmöglichkeiten
auf 140 000 Einwohner. Hitler gab Kollers Entwurf anläßlich der Grundsteinlegung
für das Werk des KdF-Wagens am 26. Mai 1938 zur Ausführung frei und versprach
eine "vorbildliche deutsche Arbeiterstadt", die "eine Lehrstätte sowohl
der Stadtbaukunst wie der sozialen Siedlung werden" solle.
Kollers Generalbebauungsplan war Grundlage zur Rodung der Waldschneisen,
zum Ausbau von Wasser-, Abwasser-, Strom- und Fernheizleitungen sowie
zur Trassierung der Hauptstraßen. Wie die übrige Infrastruktur zur Versorgung
der Bevölkerung zu bemessen sei, war mangels empirischer Grundlagen erst
im Entstehen und war überdies ideologisch umstritten. Koller entschied
sich als Leiter des für den Stadtaufbau zuständigen Stadtbaubüros für
ein pragmatisches Vorgehen. An weit voneinander entfernten Standorten
innerhalb der künftigen Großstadt sollten unterschiedliche Wohn- und Siedlungsformen
entstehen, um ein allmähliches Zusammenwachsen der Stadt ebenso zu ermöglichen
wie den fortlaufend korrekturfähigen Ausbau öffentlicher und privater
Dienstleistungen zur Versorgung der Bevölkerung mit Kindergärten, Schulen,
Kirchen, Läden, Dienstleistungs- und Kleingewerbebetrieben. Entgegen den
in der damaligen Fachliteratur vorgestellten Planungen (2)
spielte die NS-Parteigliederung nach Ortsgruppen bei der städtebaulichen
Gliederung der Stadt des KdF-Wagens nachweislich keine Rolle. Autoren
wie Reichow, Culemann und andere hatten propagiert, die Größe einzelner
Baublocks, Siedlungszellen, Stadtviertel nach den Größenordnungen der
hierarchisch aufgebauten NS-Parteigliederungen zu bemessen. In gleicher
Weise erstaunt, daß die von der Partei immer wieder propagierte "Kleinsiedlung
mit Landzulage" für den "mit der Scholle verbundenen Arbeiter" (3)
nicht zur Ausführung kam; ein entsprechender Vorentwurf für das Kleinsiedlungsgebiet
Teichbreite mit 200 Siedlerstellen wurde im Stadtbaubüro erst Ende Februar
1942 fertiggestellt und fiel dann der kriegsbedingten Baueinstellung zum
Opfer. Der Plan, Stammarbeiter dort anzusiedeln, war offensichtlich schon
vorher verworfen worden, weil die Werkleitung kein Interesse an zeitund
kraftraubender Nebentätigkeit ihrer Arbeitskräfte haben konnte.
Die Eigenheim-Siedlung Steimker Berg
Zur Unterbringung von Führungskräften war als erste Siedlung der KdF-Stadt
im März 1940 der Steimker Berg bezugsfertig. 483 Wohnungen, 250 davon
als Eigenheime, waren mit Wohnflächen von 60 bis 118 m² erstellt
worden. Zwanzig verschiedene Wohnungstypen sowie vier um einen kleinen
Platz angeordnete Geschäftsblocks für "Zwecke der Geschäftsleute und Handwerker"
kamen zur Ausführung. Die Infrastruktur der Siedlung war sehr gut, so
gab es zum Beispiel eine Gemeinschaftswaschküche. Am Nordrand der Siedlung
waren zwei Großgaragen mit Kraftfahrzeugdienst geplant, weil davon ausgegangen
wurde, daß der Volkswagen ohnehin nur zu Sonntagsfahrten benutzt werden
würde.
"Über allen Firsten stehen die Wipfel der Bäume", beschrieb Chefarchitekt
Titus Taeschner den hohen Stimmungswert der Siedlung, deren traufständig
angeordnete ein- bis zweigeschossige Einzel-, Doppel- und Reihenhäuser
im Stile Heinrich Tessenows an leicht gekrümmten Straßen mit behutsam
verschwenkten Baufluchten abwechslungsreiche Straßenräume bilden. Jalousie-Klappläden,
unterschiedlich ausgeformte Dachgauben, Risalite, Blumenfenster und Hauseingänge
sowie die sparsame Verwendung von Naturstein oder Sichtmauerwerk entsprachen
den damaligen bürgerlichen Wohnvorstellungen in der Gartenstadt. Albert
Speer, als Hitlers Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt für die
Demonstration der Macht zuständig, wollte sich mit dem Steimker Berg nicht
identifizieren anders als der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert
Ley, der sich lobend über Torbogenhaus und Uhrtürmchen ausgesprochen hatte,
ganz im Sinne traditionalistisch-völkischer Vorstellungen, die mit dem
"Heimatschutzstil" einhergingen.
Carlo Schmid, seit 1949 erster Vizepräsident des Deutschen Bundestags,
bezeichnete den Steimker Berg in den fünfziger Jahren treffend als "Siediung
mit Eichenlaub und Schwertern". Sie blieb bis heute bevorzugte Wohnlage;
auch VW-Generaldirektor Nordhoff wohnte dort. Anfang der achtziger Jahre
führte eine Bürgerinitiative dazu, daß der Steimker Berg unter Denkmalschutz
gestellt wurde.
Volkswohnungen in der Stadtmitte
Bis 1942 sollten unterhalb des Klieversbergs in der Ausbaustufe A im künftig
zentralen Teil der Stadt 6747 Wohnungen für schätzungsweise 25 300
Bewohner entstehen. Durch den Mangel an Bauarbeitern und Material konnten
jedoch nur Teilgebiete bis Mitte 1940 fertiggestellt werden: 1 900 Wohnungen
im Gebiet Wellekamp, 600 am Schillerteich. Städtebaulich war die Erschließung
durch überbreite Straßen und die nicht allseits geschlossene, zwei- bis
dreigeschossige Blockrandbebauung - ebenso wie der einzuhaltende Mindestabstand
von 500 Metern zwischen Werk und Wohnbebauung - auch als Sicherungsmaßnahme
für den Fall eines Bombardements während eines Luftkrieges (4)
gedacht.
Einheitlichen Baufluchten und Gebäudebreiten mit durchlaufenden Traufen
entsprach im Innern die "Typung der Volkswohnungen", die zu Mehrfamilienhäusern
zusammengefaßt und durch gelegentliche Ausformung von "Sonderbauteilen"
wie Kopfbauten, Treppenhäusern oder Erkern gegliedert wurden. An wichtigen
Straßenkreuzungen wurden Arkaden ausgeführt. Das Stadtbaubüro hatte dazu
eigenständig Grundrisse in Anlehnung an den Führererlaß entwickelt und
die Fassaden entsprechend den Empfehlungen des Reichsheimstättenamtes
im Sinne eines Regionalstiles dekoriert. Eine Besonderheit war die Zugänglichkeit
der Treppenhäuser von der Straße wie auch von den hofseitigen Mietergärten
aus.
Achsen und deren Randbebauung sind in der Stadt des KdF-Wagens nur bruchstückhaft
entstanden; für die große Aufmarschstraße konnte nur noch die Rohplanierung
durchgeführt werden, auch "Kreisplätze" oder Hauptgeschäftsstraße fehlten.
Dank der nur fragmentarischen Ausführung der für die Innenstadt ursprünglich
geplanten Vollüberbauung mit "Volkswohnungen" ist die diesen Bauten innewohnende,
durch das Übermaß der Straßenbreiten gesteigerte Monotonie nicht
zur Geltung gekommen.
|
Barackenunterkünfte
im "Reislinger Lager", 1957.
Das "Reislinger Lager" gehörte zum Lagersystem der Stadt
des KdF-Wagens und diente der Unterbringung deutscher und italienischer
Bauarbeiter. Seit Kriegsende wurden die Baracken von Vertriebenen, Flüchtlingen
und Kriegsheimkehrern bewohnt (Photo: Willi Luther) |
Barackenlager
Anfang 1944 erreichte die Bevölkerung ein Maximum mit über 21 000 Einwohnern;
über die Hälfte von ihnen lebte in vom VW-Werk errichteten Baracken, davon
über 11 000 dienstverpflichtete Deutsche, ausländische Zwangsarbeiter
und KZ-Häftlinge. Die Baracken und Arbeitslager waren planvoller Teil
und wirtschaftliche Basis des Stadtaufbaus im Dritten Reich. (5)
Gegenüber dem Werkstor ersetzte eine Ladenzeile aus Holzbaracken, durch
zurückgesetzte Längswände arkadenartig mit Wetterschutz versehen, das
fehlende Stadtzentrum. Auch Krankenhaus und Schulen waren in Holzbaracken
untergebracht; die einzige Versammlungshalle: ein hölzernes Provisorium.
Alle Gebäude trugen Tarnfarben. Zwischen den weit auseinanderliegenden
besiedelten Flächen hatten die Bewohner Mietergärten und Kleintierställe
angelegt: Kriegsende.
Wolfsburg und die Bodenfrage
Weil die zum Aufbau von Stadt und Werk benötigten Grundstücke 1933 aus
widerrechtlich angeeignetem Vermögen der Gewerkschaften finanziert worden
waren, hatte die Militärregierung nach dem Krieg alle Grundstücke in der
ehemaligen Stadt des KdF-Wagens, die inzwischen Wolfsburg hieß, unter
Treuhandverwaltung gestellt. Auch nach der Rückführung der Displaced persons
blieben die Barackenlager der Stadt überfüllt, da der Flüchtlingsstrom
über Jahre anhielt.
Da das bürgerliche Gesetzbuch, auf römisches Recht zurückgehend, normalerweise
alle fest mit dem Grundstück verbundenen Sachen ausschließlich dem Eigentümer
des Grundstücks zuordnet, verweigerte die Militärverwaltung ungeklärter
Eigentumsverhältnisse wegen jegliche Bebauung. Erst das dem germanischen
Recht nachgebildete, in England weit verbreitete, im Bürgerlichen Gesetzbuch
(BGB) als untergeordnete Rechtsform geregelte Erbbaurecht (6)
ermöglichte dem britischen Kontrolloffizier, weitere Bebauung mittels
Erbbaurechtsverträgen zuzulassen. Beim Erbbaurecht können nämlich Finanzierung,
Beleihung und Wertentwicklung baulicher und gewerblicher Investitionen
losgelöst vom Eigentum am Grundstück sowie von der Wertentwicklung des
Grundstücks erfolgen, so daß die Frage des künftigen Eigentümers des Treuhandvermögens
an den Grundstücken zunächst weiter offen bleiben konnte.
Das Erbbaurecht hat - mehr noch als die im gleichen Jahr durchgeführte
Währungsreform die bauliche Weiterentwicklung Wolfsburgs ermöglicht und
in der Folge bestimmt.
Die Wolfsburger Stadtverwaltung nutzte die Verträge mit den Erbbauberechtigten,
um mit diesen städtebauliche Festlegungen zur baulichen Gestaltung sowie
Regelungen zur Erschließung privatrechtlich zu vereinbaren, was zur Beschleunigung
von Bauvorhaben beigetragen hat, wenn Bebauungspläne und Zuschnitte von
Grundstücken noch nicht ausreichend konkretisiert vorlagen, später angepaßt
werden mußten oder auch öffentlich-rechtliche Regelungsmöglichkeiten nicht
ausreichten.
Als 1955 die Treuhandverwaltungen aufgelöst wurden und die Stadt Wolfsburg
fast die gesamte Gemarkungsfläche als "Erstausstattung" ins Eigentum übertragen
bekam, wurde von der Stadt die Vergabe von Bauplätzen im Erbbaurecht grundsätzlich
beibehalten und im Sinne einer gewollten Stadtentwicklung davon Gebrauch
gemacht, so zum Beispiel durch vertragliche Festlegung des Branchenmix
im künftigen Geschäftszentrum Porschestraße.
Freilich: Die Kommunalisierung des Bodens und das Erbbaurecht haben städtebauliche
Leitbilder nicht verändert. Die gesellschaftlichen Auffassungen und die
wirtschaftlichen Möglichkeiten haben auch in Wolfsburg Siedlungen nach
denselben Leitbildern wie sonst in der Bundesrepublik entstehen lassen,
nur konnten diese in der "Volkswagenstadt" rascher umgesetzt, komfortabler
ausgestattet und günstiger finanziert werden. Das gebaute Ergebnis bildet
in Wolfsburg um so klarer die zur jeweiligen Entstehungszeit maßgeblichen
städtebaulichen Handlungsspielräume ab.
Ein neuer Generalbebauungsplan
Nach mühsamer Fertigstellung der noch während des Krieges begonnenen Bauten
und erfolgter Bestandsaufnahme erhielt Hans Bernhard Reichow von der Stadt
Wolfsburg im Februar 1947 den Auftrag, einen neuen Generalbebauungsplan
auszuarbeiten. Dieser beschränkte sich auf die Unterstadt zwischen Mittellandkanal
und Klieversberg und sollte zunächst auf 35 000 Einwohner ausgelegt
werden, was 1948 dann auf 65 000 Einwohner erweitert wurde.
Unter Verwendung bereits im Gelände trassierter Straßen verlängerte Reichow
die Haupterschließung im Zuge der Goethestraße aus der Stadtmitte heraus
zu einer Ost-West-Achse, als deren östlicher Abschluß und "Stadtkrone"
eine kleine Insel im Schillerteich dienen sollte. Auf dem Klieversberg
plante Reichow ein hochgelegenes Sportstadion. Die Porschestraße, von
Koller zuvor als beidseitig bebaute, mit einer Folge von Platzaufweitungen
versehene Hauptgeschäftsstraße geplant, wollte Reichow auf der Ostseite
weitgehend zur Stadtlandschaft öffnen. Weit nach außen verlegte "Siedlungszellen"
mit kammartiger Erschließung - getrennt für Fahrverkehr und Fußgänger
- als Wohnbaugebiete sowie ähnlich erschlossene "Gewerbe-Zellen" den Mittellandkanal
entlang hatte Reichow ganz im Sinne der von ihm propagierten "organischen
Stadtbaukunst" (7)
vorgesehen.
Auch wenn der neue, am 30. Juni 1953 genehmigte Generalbebauungsplan lange
Zeit wie die "Entnazifizierung" des ursprünglich von Koller vorgelegten
Stadtentwurfs verstanden worden ist, war er doch mit neuen Schlagworten
die verkleinerte Ausgabe des alten Leitbildes der aufgelockerten Stadt
- "Achse", "Siedlungszelle" und "Stadtkrone" eingeschlossen.
Die ersten Neubaugebiete der Nachkriegszeit
Nur ein Teil des Gebietes Köhlerberg (1950 bis 1953) und die Siedlung
Hohenstein (1953/ 54) sind als "organische Siedlungszellen" nach
Reichows Plänen bebaut worden. Bei den übrigen Neubebauungen war wieder
Peter Koller - inzwischen freiberuflich - für die Stadtplanung verantwortlich.
Bei der für Flüchtlinge gebauten "Ostsiedlung" lebte das städtebauliche
Schema der Kleinsiedlung wieder auf. Bei sparsamster Erschließung entstanden
dort ein- bis zweigeschossige Doppel- und Reihenhäuser in spartanischer
Ausführung. Ziegelgedeckte Steildächer und Jalousie-Klappläden waren der
einzige Schmuck. Neuartig war Kollers Versuch, die Bauherren am Planungsprozeß
zu beteiligen.
Die Größe der Baugebiete wurde inzwischen nicht nur nach den Finanzierungsbedingungen
der staatlichen Programme für den sozialen Wohnungsbau ausgelegt, sondern
möglichst auf die Größe von Grundschulbezirken zugeschnitten; dafür hatte
man aus dem angelsächsischen Städtebau den Begriff "Nachbarschaft" übernommen.
In der Zeit zunehmender Wirtschaftskraft und wieder beginnender Mechanisierung
des Bauhandwerks folgte Koller mit Einführung der Zeilenbauweise in bis
zu fünf Geschossen den Anforderungen kranbahnbedienter Baustellen. Zwangsläufig
war damit eine Abwendung von Reichows Generalbebauungsplan verbunden:
Die städtebauliche Anordnung gegeneinander versetzter Zeilenbauten und
deren Einfügung in die umgebende Landschaft ebenso wie neuartige Wohnungsgrundrisse
und eine vollkommen neuartige äußere Gestaltung der Gebäude entsprachen
der neuen Bauauffassung, wie sie insbesondere durch den 1951 vom Bundeswohnungsbauministerium
mit Mitteln des Marshallplanes ausgelobten ECA-Realisierungs-Wettbewerb
(8) für Architekten
und Baufirmen gefördert worden war. Mit Kaltdächern flach eingedeckte
Geschoßwohnbauten, auskragende Balkone, vorgezogene und verglaste Treppenhäuser
("Thermometerfassaden"), breite sprossenlose Fensterflügel und pastellfarbene
Putzfassaden waren die Stilmittel einer sich bewußt modern gebenden Architektur.
Die Wohltberg-Siedlung (1952 bis 1955), die Bebauungen an der Braunschweiger
Straße und an der Saarstraße spiegeln diese Entwicklung, die mit Wolfsburgs
erstem Hochhaus als elfgeschossige "städtebauliche Dominante" 1954 ihren
Abschluß gefunden hatte.
Erste öffentliche Bauten
Die Architekten der Schulbauten suchten als erste den Anschluß an das
Neue Bauen der zwanziger Jahre; dies gilt auch für den Krankenhausneubau
durch Stadtbaurat Kruschewski. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurden in
der Innenstadt eine katholische und eine evangelische Kirche erstellt,
die beide nur zaghaft auf neue liturgische und architektonische Anforderungen
Antwort gaben. Auch das nach einem Architektenwettbewerb vom ersten Preisträger
Titus Taeschner erbaute Rathaus verzichtete nicht auf Hergebrachtes: Ein
dreigeschossiger Flachbau für Ratssaal und publikumsintensive Bereiche
wird von einem Hochhaus überragt, das mit dem schon von den Nationalsozialisten
geschätzten Material Travertin verkleidet ist.
Städtebaulich war mit dem Rathaus der Marktplatz definiert, wie das Preisgericht
die Zukunft vorwegnehmend formuliert hatte: "Der Platzraum besitzt noch
alle Aussicht, zu einem städtebaulichen Höhepunkt der ganzen Stadtanlage
zu werden und durch seine großartigen Beziehungen zu der [...] Landschaft
das Gesicht der Stadt in entscheidender und einzigartiger Weise zu prägen."
Die Stadt des "Wirtschaftswunders"
Das Jahr 1955 brachte für die junge, 38 253 Einwohner zählende Stadt
neue Perspektiven: Mit der "Erstausstattung" war eine solide Grundlage
für die Stadtfinanzen geschaffen worden. Der Jahresumsatz des VW-Werks
hatte die Milliardengrenze überschritten, der millionste VW-"Käfer" war
vom Band gelaufen, das Volkswagenwerk plante erstmals ein Werk außerhalb
der Stadt und begann damit seine Entwicklung zum Konzern. Damit waren
die Voraussetzungen für eine Entwicklung Wolfburgs zur Großstadt gegeben.
Noch als freier Architekt tätig, hatte Peter Koller im März 1955 das bei
ihm angeforderte Gutachten zur Bebauung des Stadtzentrums Porschestraße
vorgelegt, anschließend war er beauftragt worden, eine Gesamtplanung für
die Stadt auszuarbeiten. Am 1. Oktober 1955 wurde Koller von der neukonstituierten
Stadtverordnetenversammlung zum Stadtbaurat gewählt.
In rascher Folge legte Koller nun Deckbätter zum Flächennutzungsplan vor.
Er folgte weiterhin dem Leitbild der gegliederten, aufgelockerten Stadt
mit jeweils selbständig in die Landschaft eingebundenen "Nachbarschaften".
Als besonders schwierig erwies es sich dabei, größere Eingriffe in den
Stadtwald bei Behörden, dem Rat der Stadt und nicht zuletzt bei VW-Generaldirektor
Nordhoff durchzusetzen.
Verkehrsplanung
Verkehrsfragen gewannen nun eine entscheidende Bedeutung für die Stadtplanung.
Nach jahrzehntelangem Ringen konnte die Standortfrage für den Wolfsburger
Bahnhof geklärt und danach ein funktionalistischer Architektur folgender
Bahnhofsneubau entworfen werden. VW-Werk und Zeitgeist forderten überdies
die "autogerechte Stadt", weshalb erstmals ein auf Zählungen und Verkehrsprognosen
beruhender Generalverkehrsplan erstellt wurde, der mehrspurige Hauptverkehrsstraßen
teils mit niveaufreien Kreuzungsbauwerken innerhalb der Stadt vorsah.
Ganz im Sinne der "Charta von Athen" sollten leistungsfähige Verkehrsadern
den bei jedem Schichtwechsel zwischen Werk und "Schlafstädten" hin- und
herflutenden Verkehr aufnehmen und raschen Zugang auch zu den räumlich
getrennt angeordneten Handels- und Dienstleistungszentren sowie den Sport-,
Kultur- und Freizeiteinrichtungen ermöglichen.
Mit nur einem PKW pro 32 Einwohner war damals die "Volkswagenstadt" im
Vergleich zu anderen Städten noch untermotorisiert. Doch wuchs mit steigender
Motorisierung das Stellplatzproblem, da die Reichsgaragenordnung bislang
kaum angewendet worden war. Aus Kostengründen entschied sich Koller, das
bisherige Parken am Straßenrand besser zu organisieren; so kam es zu der
für die Wolfsburger Baugebiete dieser Jahre typischen Anordnung von "Parktaschen"
entlang der Erschließungsstraßen und im Straßenbegleitgrün.
Wiederentdeckung des privaten Eigenheims
Kaum war die größte Wohnungsnot gelindert, erinnerten zwanzig Wolfsburger
Interessenten an das vom Bund neu propagierte Ziel der Wohnungspolitik
(9) und forderten
entsprechende Grundstücke: "Wir wollen keine Mietskasernen, Hochhäuser,
Reihenhäuser oder Genossenschaftsbauten, wir wollen unser langersehntes
Eigenheim im Grünen." (10)
Das städtebauliche Hauptproblem, die noch fehlende Stadtmitte Wolfsburgs
mit vielen zentralen Einrichtungen, war dank beginnenden "Wirtschaftswunders"
manchen Einwohnern weniger wichtig als das private Statussymbol. Auch
der Bundespolitik war vorrangig zur Heranziehung privaten Kapitals zum
Wohnungsbau - die durch das Eigenheim mögliche Eigentumsbildung wichtig,
um, wie Bundeswohnungsbauminister Paul Lücke äußerte, "breiten Schichten
des Volkes" zu ermöglichen, sich "mit dem Grund und Boden zu verbinden",
um so die "Abwehrbereitschaft gegen die kollektiven Mächte des Ostens"
(11) zu
stärken.
Die Stadt stellte daher unterhalb des neuerbauten Krankenhauses Grundstücke
für freistehende Einfamilienhäuser zur Verfügung; Architekt Jelbke entwarf
den Bebauungsplan, und bald zeigte sich, daß das Bemühen um einheitliche
Baugestaltung, das sonst die Wolfsburger Baugebiete auszeichnet, dem Herzeigen
privaten Wohlstandes in unterschiedlichen "Traumbäusern" hintangestellt
wurde.
|
Das "Reislinger Lager" weicht den Neubauten des Stadtteils Hellwinkel,
1957
(Photo: Willi Luther) |
Auf
dem Weg zur Wohnmaschine
Gleichzeitig entstanden von 1956 bis 1959 neue Baugebiete im Wald: Im Stadtteil
Hellwinkel (840 Wohneinheiten) umschreiben die viergeschossigen Zeilenbauten
mit durchlaufenden Fensterbändern und Balkonen ("Bandfassaden") und Flachdächern
sichelförmige, begrünte Wohnhöfe; die "Hochhausdominante" wurde erst später
eingefügt.
In der Siedlung Eichelkamp (950 Wohneinheiten) kamen dann größere Baukräne,
Betonmischer mit Wiegeeinrichtung sowie neue Bauverfahren zum Einsatz, was
schlankere Konstruktionen und die Ausführung von Flachdächern direkt über
beheizten Räumen zuließ. Städtebaulich betonten achtgeschossige Punkthäuser
und ein 16geschossiges Hochhaus die Hügelrippe. In Eichelkamp wurden mehrere
Familienbetriebe zur täglichen Versorgung in erdgeschossigen Ladenzeilen
zusammengefaßt; die Geschäftsinhaber hatten ihre Wohnungen in den Obergeschossen.
Der vorgelagerte Dunantplatz ist zu einem Teil als mit Brunnen versehener
Schmuckplatz aufwendig gepflastert worden, der Rest diente als Kundenparkplatz.
Die 1962 nach Plänen des finnischen Architekten Alvar Aalto östlich davon
in der Siedlung Klieversberg erstellte Heilig-Geist-Kirche ist städtebaulich-architektonischer
Glanzpunkt.
Im Gebiet Rote Sieck (530 Wohneinheiten, heute Laagberg-Süd) sind viergeschossige
Wohnzeilen mit ziegelgedeckten, nicht ausgebauten Satteldächern und Zierat
aus Sichtmauerwerk eher mit traditionellen Gestaltungsmitteln gebaut worden.
In der Siedlung Rabenberg (1370 Wohneinheiten), für deren Erbauung gegen
erhebliche Widerstände Waldflächen ausgestockt wurden, sind aufgefächerte
Gruppen von zwei bis viergeschossigen Zeilenbauten, durchaus unterschiedlich
gestaltet, durch Sackstraßen erschlossen. Die funktionalistisch-moderne
Architektur mit Zeilenbauten und Hochhäusern ist fortgesetzt, kostengünstige
Pultdächer wurden bevorzugt.
Erste Baugebiete nördlich des Mittellandkanals
Nachdem die Verlegung der Bundesstraße 188 mit vielspuriger Querung des
Mittellandkanals ausgehandelt worden war, konnte die städtebauliche Planung
und Erschließung des Wolfsburger Nordens angegangen werden. Dort liegen
das historische Schloß Wolfsburg, das als Traditionsinsel zu erhalten war,
und eine sensible Heidelandschaft. Architekt Jelbke fand eine städtebauliche
Lösung mit einer Sammelstraße, die weit östlich vom Schloß von der B 188
nach Norden abzweigt und den Neuen Teich südwestlich tangiert.
Während in der Tiergartenbreite ein breitgefächertes Programm unterschiedlichster
Wohnformen vom Eigenheim im Grünen bis zum Hochhaus realisiert wurde, entstanden
in der Teichbreite dichtgefügte Wohnzeilen, die sich um mittig angeordnete
Punkthäuser gruppieren. Eine ökologisch orientierte Landschaftsplanung berücksichtigte
Vogelschutz, Auewalderhaltung und Strandbad.
Neue Besonderheit waren Hochhäuser in Großtafelbauweise:(12)
In Fertigteilfabriken vorgefertigte, geschoßhohe Betonplatten, in welche
Leitungen für die Haustechnik sowie Wärmedämmung, Türzargen und Fenster
bereits eingebaut waren, konnten dank gewachsener Kapitalausstattung der
Bauwirtschaft nun in großen Serien hergestellt, auf die Baustelle transportiert
und mit Hilfe von Großkränen montiert werden. Damit war die industrielle
Basis für die von den Vertretern des Neuen Bauens seit langem geforderte
"Wohnmaschine" geschaffen.
Hervorzuheben ist, daß das beiden Wohngebieten direkt vorgelagerte, an der
Bundesstraße liegende Einkaufszentrum Teichbreite in Wolfsburg erstmals
einen neuen Bautyp für autogerechtes Einkaufen bei überregional tätigen
Handelsketten realisierte. Hier ist nur noch der Konsument gefragt, der,
ohne den Lieferverkehr kreuzen zu müssen, "funktionsgerecht" auf möglichst
kurzen Wegen geführt wird: Von den Parkplätzen draußen, die städtebaulich
keinen Platz, zu den Kauffluren drinnen, die architektonisch keinen Straßenraum
mehr bilden.
Urbanität durch Dichte als neues Leitbild
In der andauernden Hochkonjunktur der BRD zur "Wirtschaftswunder"-Zeit war
das VW-Werk Schlüsselindustrie, das weiteren Zuzug nach Wolfsburg auslöste.
Nach einer durch Überstunden noch verlängerten 48-Stunden-Woche hatten
nun Autobesitz und Reisen erste Priorität. Die mobile Gesellschaft verlangte
nach pflegeleichten Neubauwohnungen, die sich inzwischen dank verbesserter
Kapitalausstattung und hohen Wohnbedarfs industriell herstellen ließen.
(13) "Wachstum"
wurde in allen gesellschaftlichen Bereichen angestrebt. Auch bei Stadtplanern
und Architekten setzte sich der "Geisteszustand der Serie" (14)
durch, welcher alsbald zur Umwandlung plastischer Strenge, die das Neue
Bauen der zwanziger Jahre ausgezeichnet hatte, in Armseligkeit und vordergründige
Zweckmäßigkeit zur Steigerung der Rentabilität führte. Ende 1960 wurde in
Wolfsburg Rüdiger Recknagel als neuer Stadtbaurat gewählt, um das neue Leitbild
umzusetzen.
|
Pflegeleichte Neubauwohnungen
für eine mobile Gesellschaft: Stufenhochhaus im Stadtteil Detmerode,
1969
(Photo: Willi Luther)
Urbanität durch
Dichte: der Stadtteil Detmerode, 1969
(Photo: Willi Luther) |
Die
Satelliten-Städte im Südwesten
Die Ausweisung der neuen Stadtteile im Flächennutzungsplan mit autobahnähnlicher
Hauptzufahrt hatte noch Peter Koller veranlaßt. Der städtebauliche Entwurf
für den Stadtteil Detmerode (15000 Einwohner), welcher als "Demonstrativbauvorhaben"
des Bundes von 1960 bis 1970 durch verschiedene Architekten mit unterschiedlichen
Wohnungsgrundrissen umgesetzt wurde, stammt von Paul Baumgarten.
Entlang "fahrdynamisch" ausgebildeter Verkehrsstraßen wurden Wohnbauten
streng rechtwinklig "aufgestapelt" oder zu "Wohngebirgen" unterschiedlicher
Gebäudehöhe verkettet, um möglichst hohe Ausnutzungen zu ermöglichen. In
den Abstandsflächen schlängeln sich vom Fahrverkehr getrennte Fußwege.
Rationalisierung bei der Fertigung war Vorgabe, auch Einfamilienhäuser wurden
nach vorheriger Vermarktung verschiedener Typen auf einer Architekten-Messe
in Serie gebaut.
Stadtbaurat Recknagel ist zu verdanken, daß das streng funktionsgerechte,
auf der Fußgänger-Ebene die Sammelstraße überbrückende Einkaufszentrum,
durch das Anlegen eines Platzes mit diesem zugeordneter Kirche (Architekt
Alvar Aalto), Restaurant und Café wenigstens in Ansätzen zu einem
Stadtteil-Zentrum wurde.
Nachdem zeitgleich nördlich des Mittellandkanals zum Bau von Eigenheimen
der neue Stadtteil Kreuzheide begonnen worden war, konnte Westhagen (15000
Einwohner) seit 1966 noch weiter verdichtet werden. Dazu wurden Hochhäuser
in mäandrierender Folge raumbildend miteinander verkettet.
Im Bestreben, die beim Bau von Detmerode aufgetretenen Mängel zu korrigieren,
wurden kommerziell genutzte und öffentliche Einrichtungen zur Versorgung
des Stadtteils an einer mittig gelegenen Fußgängerzone zusammengefaßt und
von einer darunter angelegten Groß-Tiefgarage direkt erschlossen, Hochhausketten
möglichst dicht herangerückt, um "Urbanität" zu erzeugen. Die plastische
Durchformung der oberen Geschosse und kräftige Farben zeigen das Bemühen
um "urban design". Gerhard Kern, Leiter das Stadtplanungsamtes, hat mit
dieser "multifunktionalen Aktiv-Zone" die "Inszenierung der Alltagswelt"
begonnen, die er Ende der siebziger Jahre als Stadtbaurat in der Porschestraße
weiterführte.
Die Wohnung war zur Ware geworden, wobei die allgemein gestiegene wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit erstmals erlaubt hatte, Tiefgaragen anzulegen und über
Kostenanteile der Wohnungen zu finanzieren. Um die Bevölkerung rundum versorgen
können, wurden Gesamtschulen als "Bildungsfabrik" zusammengefaßt und ein
Gebiet für Handwerks- und Kleinbetriebe angelegt.
Doch die "Urbanitäter" waren mit der in Westhagen inszenierten Dichte nicht
erfolgreich. Statt der erwünschten Vielfalt stellte sich spätestens nach
ungünstiger Belegungspraxis und durch die hohen Mieten der Sozialwohnungen
"Unbehagen" ein, wie der Stadtteil zeitweise von den Wolfsburgern tituliert
wurde.
In Detmerode und Westhagen kulminierte eine Entwicklung, die - abgeleitet
von der Fließbandproduktion - Städtebau nur noch funktionalistisch betrachtete:
Diese Wohnstadtteile, deren Verbindung mit dem Werk über Schnellstraßen
erfolgte, waren als "Maschine zum Atemholen" konstruiert worden. In der
Folge wirtschaftlicher Konjunkturzyklen verlangsamte sich der Baufortschritt,
die Planung wurde verändert, was sich als neue Chance erweisen sollte.
In Wolfsburg wurden auf dem Grundprinzip der gegliederten, aufgelockerten
Stadt unterschiedliche städtebauliche Leitbilder durchaus als Ausdruck der
jeweils herrschenden - unmittelbar und daher besonders >rein ausgebildet<.
(15) Die zeitliche
Abfolge ist noch immer ablesbar, doch wächst mit zunehmender Überformung
Wolfsburgs dort eine >richtige Stadt<. |