Startseite Inhaltsverzeichnis Ausstellung Inhaltsverzeichnis Katalog Impressum Kontakt DHM homepage
Wulf Tessin

"Was gut ist für das Werk, ist gut für die Stadt". Kommunalpolitik in der Volkswagenstadt

  Die Stadt Wolfsburg verdankt ihre Gründung im Jahre 1938 der Entscheidung der nationalsozialistischen Machthaber, einen Volkswagen "für alle Deutschen" bauen und diesen nicht in vorhandenen Automobilwerken herstellen zu lassen, sondern in einem eigens dafür neu gegründeten Werk. Als Standort für dieses Werk wurde keine schon existierende Gemeinde oder Stadt ausgewählt, sondern es wurde in der Nähe von Fallersleben, mitten im damaligen Deutschen Reich, sozusagen auf der "grünen Wiese", erst - politisch eine neue Gemeinde konstituiert, dann - städtebaulich - eine neue Stadt geschaffen. Wolfsburg ist als Stadt des KdF-Wagens gegründet worden, und sie ist bis heute die "Stadt des Volkswagens" geblieben.

Es ist offenkundig, daß die Wolfsburger Kommunalpolitik durch das VW-Werk determiniert wurde und strukturell von ihm abhängig war; das Werk setzte von Beginn an bis heute die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung, es produziert die zentralen Problemstellungen der Stadt, die die Kommunalpolitik aufzuarbeiten hat, es eröffnet oder schafft aber zugleich auch Problemlösungskapazitäten, derer sich die Kommunalpolitik bedienen kann (und um die andere Kommunen Wolfsburg eventuell beneiden). Dies soll an einigen ausgewählten Beispielen illustriert werden.

Wohnungsbaupolitik
Die Bevölkerungsentwicklung Wolfsburgs, die von knapp 20 000 Einwohnern (1946) auf über 84 000 Einwohner (1966) anstieg (heute gut 125 000 Einwohner aufgrund umfänglicher Eingemeindungen im Jahre 1972), ist mehr oder weniger Folge der Belegschaftsentwicklung beim VW-Werk, die sich von 8000 (1946) auf knapp unter 50 000 (1966), dann auf über 60 000 (Ende der achtziger Jahre) erhöhte. Es versteht sich, daß die Stadt dieser durch den Arbeitskräftebedarf beim VW-Werk ausgelösten Zuwanderung und Bevölkerungsentwicklung stets "hinterherbauen" mußte. Jährliche Wachstumsraten der Bevölkerung von 5 bis 15 Prozent in den fünfziger Jahren machten den Wohnungsbau zu einer dringenden Angelegenheit; jährlich wurden zwischen 500 und 1 500 Wohneinheiten fertiggestellt. Schon 1953 sah sich das VW-Werk gezwungen (entgegen der Meinung der Stadtverwaltung), eine eigene Wohnungsbaugesellschaft zu gründen, und erwarb Anfang der sechziger Jahre noch Anteile an der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Da nur diese beiden Gesellschaften Wohnungen in Wolfsburg erstellten, zudem das VW-Werk zum Beispiel über Baudarlehen und Mietzuschüsse den Wohnungsbau unterstützte und damit auch Belegungsrechte erwarb, hatte das VW-Werk vor allem bis in die sechziger Jahre hinein eine zentrale Stellung im Wohnungswesen inne. "Dieses Übergewicht des Volkwagenwerkes konnte der Leiter des Werkswohnungbauwesens nutzen, indem er als Ratsmitglied, Verwaltungsausschußmitglied und zeitweiliger Bürgermeister eine Stellung einnahm, die ihn praktisch zum uneingeschränkten Herren über die Wohnungen in Wolfsburg machte. [...] Die Entscheidungen über Wohnungen fielen nicht im Wohnungsausschuß bzw. im Wohnungsamt der Stadt, sondern im Volkswagenwerk." (1) Das VW-Werk baute oder förderte dort Wohnungen, wo es preislich günstig war, und damit auch im damaligen Umland der Stadt - sehr zum Leidwesen der Kommune, die es lieber gesehen hätte, den Wohnungsbau auf das damalige Stadtgebiet zu konzentrieren. Wenn Anfang der sechziger Jahre 80 Prozent der Wolfsburger Wohnungen mit Fernwärme versorgt wurden, dann ist auch dieser Wohnkomfort dem VW-Werk zu verdanken, denn das werkseigene Kraftwerk versorgt nicht nur das Werk, sondern auch die Stadt mit Energie (Strom, Fernheizung). Im Energiebereich der Stadt geht auch heute also nichts ohne das VW-Werk!

Haushaltspolitik
Das VW-Werk sichert nicht nur die einkommensmäßige Basis von rund 60 oder gar 70 Prozent der Wolfsburger Privathaushalte, sondern es ist zugleich rahmensetzend für die finanzielle Lage der Stadt. Wolfsburg stand hinsichtlich der Gewerbesteuer-Aufbringungskraft im Jahre 1961 mit 792,36 DM je Einwohner an der Spitze von 87 kreisfreien Städten in der Bundesrepublik. Zum Vergleich: An zweiter Stelle lag die Stadt Schweinfurt mit knapp 480 DM pro Einwohner. Die Gewerbesteuereinnahmen hatten sich von sieben Millionen DM (1950) auf über 70 Millionen DM (1964) erhöht. Wolfsburg war spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre also eine "reiche" Stadt, wenn auch eine mit hohem Investitionsbedarf, denn es galt ja noch, die Stadt überhaupt erst auf- und auszubauen. Dennoch hat die enorme VW-bedingte Finanzkraft die Stadt nicht nur in die Lage versetzt, diese Investitionsaufgaben, sondern darüber hinaus viele politische Probleme zu lösen. Zugleich aber war durch diese gewerbesteuermäßige Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk die Haushaltslage der Stadt auch immer geprägt von der Automobilkonjunktur. Das war bis in die sechziger Jahre hinein jedoch kein reales Problem, insofern als das VW-Werk fast ununterbrochen Wachstumsraten auswies. Erst die Krisen von 1966 / 67 und 1971 / 72 machten die gesamte Tragweite der finanziellen Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk deutlich: Die Gewerbesteuereinnahmen sanken von rund 74 Millionen DM (1964) auf 42 Millionen DM (1968), um dann aber schon 1969 wieder auf die Rekordhöhe von fast 94 Millionen DM hochzuschnellen. Trotz der dann bundesweit durchgeführten Gemeindefinanzreform, die im Prinzip die Abhängigkeit der Gemeinden von der Gewerbesteuer milderte, blieb Wolfsburg den Schwankungen der Gewerbesteuer in durchaus gravierender Weise unterworfen: 1974 zum Beispiel betrugen die Einnahmen aus der Gewerbesteuer (nach Abzug der Gewerbesteuerumlage) rund fünf Millionen DM, 1978 knapp 60 Millionen DM, 1991: 155 Millionen DM und im Jahr darauf nur noch 50 Millionen DM (bei einem Gesamthaushaltsvolumen von 600 bis 700 Millionen DM)!

Wirtschaftspolitik
So gut es sich für Wolfsburg finanziell mit dem VW-Werk leben läßt, so einleuchtend ist andererseits, daß die gleichsam totale ökonomische Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk Risiken birgt. Ziel der kommunalen Wirtschaftsförderungspolitik war und ist es, die VW-bestimmte Monostruktur der Stadt zu überwinden. Deren Problem war es aber von Anfang an, daß im Schatten des VW-Werks kein anderer Industriebetrieb gedeihen kann, denn das Lohnniveau und die Sozialleistungen im VW-Werk sind überdurchschnittlich. Selbst eine VW-bezogene Zuliefererindustrie hat sich im Wolfsburger Raum nur ansatzweise entwickelt. Dieser Rahmenbedingungen eingedenk, hat sich die Wolfsburger Wirtschaftspolitik auf zwei Perspektiven konzentriert. Zum einen, als absolute Priorität, die Förderung des VW-Werkes am Standort Wolfsburg, wenn auch hier die Möglichkeiten der Stadt gering sind; um so größer die Angst, wenn das VW-Werk Zweigwerke an anderen Orten gründet(e). Dieser Prozeß begann bereits Mitte der fünfziger Jahre (1955 in Hannover, 1957 in Kassel, 1963 in Emden). Später verlegte das VW-Werk die Produktion sogar ins Ausland. Da aber dieser Prozeß nicht zu Lasten des Produktionsstandortes Wolfsburg ging, vielmehr dort die Beschäftigtenzahlen weiter stetig anstiegen, war das aus Wolfsburger Sicht zu verschmerzen. Wenn städtischerseits in bezug auf das VW-Werk nicht allzu viel zu tun war, so war es - als zweites Ziel der Wolfsburger Wirtschaftspolitik - um so wichtiger, den Dienstleistungsbereich in der Stadt zu fördern. Der Ausbau der Innenstadt, die Ansiedlung von Behörden und Ausbildungsstätten wurden immer mit großem Nachdruck, wenn auch ohne großen nachhaltigen Erfolg betrieben. 1961 waren zum Beispiel 3 600 Personen im Handel beschäftigt, 1988 waren es nur 1100 mehr. Anfang der neunziger Jahre belief sich in Wolfsburg der Anteil der im Dienstleistungssektor Beschäftigten noch immer auf bloß 25 Prozent! Wie dramatisch die ökonomische Abhängigkeit vom VW-Werk noch immer ist, zeigte sich abermals Mitte der neunziger Jahre, als das VW-Werk in Wolfsburg innerhalb weniger Jahre rund 16 000 Arbeitsplätze abbaute, damals mehr als 20 Prozent aller Arbeitsplätze in Wolfsburg!

Infrastrukturpolitik
Das VW-Werk bestimmt als Industriebetrieb die Sozialstruktur der Stadt ("Arbeiterstadt" mit einem auch heute noch fast 60-prozentigen Arbeiteranteil an den Erwerbstätigen!) und ist damit rahmensetzend für die kommunale Politik im Schul-, Kultur- und Freizeitbereich. Es galt, für die beim Werk Beschäftigten optimale Reproduktionsmöglichkeiten zu schaffen und ein spezifisches Kultur- und Bildungsprogramm zu entwickeln, das von "breiten Schichten der Bevölkerung" akzeptiert wird; zugleich war es aber auch notwendig, gerade für die höheren Angestellten des VW-Werkes, bestimmte Schul-, Kultur- und Freizeitstandards zu erfüllen, sollte es gelingen, diese Gruppen längerfristig an das Werk beziehungsweise die Stadt zu binden und die Standortnachteile Wolfsburgs (vor der Wiedervereinigung Zonenrandlage, keine attraktive Großstadt, keine Universität) etwas abzumildern. Das VW-Werk hat denn auch nie einen Zweifel an der Bedeutung gelassen, die man diesem Bereich beimißt, und wichtige Infrastruktureinrichtungen der Stadt finanziell unterstützt oder ihr geschenkt (wie zum Beispiel Stadthalle, Theater, VW-Bad, Planetarium, Kulturzentrum). Älteren Wolfsburgern sind noch die vom Volkswagenwerk finanzierten Konzerte mit den Berliner Philharmonikern (Volksmund: "Karajans Wüstenritte") und die großen Kunstausstellungen in guter Erinnerung. "Sie sind", so Hilterscheid, "ein gutes Beispiel modernen industriellen Mäzenatentums." (2) Dafür nahm das VW-Werk in den fünfziger Jahren aber durchaus Einfluß auf das Kulturprogramm: Sozialkritische Bühnenstücke - zum Beispiel von Brecht lehnte die Werkleitung als für das Wolfsburger Publikum ungeeignet ab. "Das Volkswagenwerk erwartete zum Beispiel als Gegenleistung für die Spende von 1 Million DM zum Bau des Kulturzentrums, daß in diesem Hause nichts Negatives über das Volkswagenwerk gesagt wurde und daß keine Vorträge oder Arbeitsgemeinschaften der Volkshochschule stattfanden, >die sozialen und geistigen Unfrieden bringen könnten<". (3) Eine beiläufige oder gar nur kolportierte Bemerkung des damaligen VW-Generaldirektors Nordhoff konnte den Kauf einer Henry-Moore-Plastik verhindern.

>Außenpolitik<
Eine Kommune hat zur Regelung ihrer örtlichen Angelegenheiten auch mit Nachbargemeinden, mit staatlichen Behörden, mit der Bezirks- und Landesregierung zu tun. Ob sie in diesen Kontakten und Verhandlungen ihre Interessen durchsetzen kann, hängt sehr wesentlich von ihrer >bargaining-power< ab. Hier nun spielte das VW-Werk direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt, eine bisweilen entscheidende Rolle. Als durch das VW-Werk >reiche< Stadt konnte sich Wolfsburg viele Dinge einfach >erkaufen< (zum Beispiel die Auskreisung 1951, die sogenannten kommerziellen Umgemeindungen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, die Zustimmung vieler Gemeinden zur großen Gebietsreform 1972 (4)); Wolfsburg war als VW-Stadt im unterindustrialisierten Regierungsbezirk Lüneburg ein >Juwel<, den es regierungsbezirklicherseits zu hegen und zu pflegen galt. Der Bund und das Land Niedersachsen hielten seit 1960 zusammen 40 Prozent des VW-Aktienkapitals; der jeweilige niedersächsische Ministerpräsident sitzt stets im Aufsichtsrat bei VW. Daß die Stadt Wolfsburg schließlich oft als gebietskörperschaftliche Interessenvertretung des VW-Werks und seiner von ihm ausgelösten >Sachzwänge< in die Verhandlungen mit wem auch immer eintreten konnte, hat die Position Wolfsburgs zusätzlich gestärkt. Der Autobahnanschluß Wolfsburgs, die geplante Aufwertung der Stadt zum Intercity-Haltepunkt auf der Strecke Hannover-Berlin, die Gründung der Fachhochschule für Fahrzeugbau und Betriebswirtschaftslehre in Wolfsburg wären ohne (Hinweis auf) das VW-Werk wohl nicht denkbar gewesen.

Das VW-Werk ist nicht zuletzt auch >ideologisch< prägend für die Kommunalpolitik. Es ist weltweit bekannter als die Stadt Wolfsburg, die deshalb immer versucht hat, das Image einer >Werkssiedlung< abzulegen und städtische Identifikationspunkte außerhalb des VW-Werkes zu schaffen (wie zum Beispiel City, Kulturbauten). Die Befürchtung war auf Seiten der Stadt immer groß, daß sich die Wolfsburger mehr mit dem VW-Werk identifizieren, sich mehr als >VW-Ier< sehen denn als >Wolfsburger<. Das VW-Werk ist darüber hinaus als großzügiger und perfekt organisierter Betrieb prägend für die - so ein Ratsmitglied - "enorm hohe Anspruchshaltung der Wolfsburger Bevölkerung auch gegenüber der Stadt". Das Verhältnis der Mehrheit der Wolfsburger zum Rathaus ist, ein Zitat von J. Habermas aufnehmend, "nicht in erster Linie politische Beteiligung, sondern eine allgemeine Forderungshaltung, die Versorgung erwartet" (5). Die Gemeinde als Dienstleistungsbetrieb! (6) Natürlich ist Wolfsburg als Stadt des Volkswagens "Autostadt". Das VW-Werk ist über den hohen Motorisierungsgrad seiner Beschäftigten und die damit verknüpfte >Autofahrerideologie< rahmensetzend für die städtische Verkehrspolitik, die mehr noch und vor allem früher als andernorts auf den Vorrang des Individualverkehrs vor dem Öffentlichen Nahverkehr (ÖNV) setzte. Nicht nur war der Vater des Konzeptes der "autogerechten Stadt", Hans Bernhard Reichow, Anfang der fünfziger Jahre maßgeblich an der Erarbeitung des Flächennutzungsplanes von Wolfsburg beteiligt, nicht nur lag die Stadt noch 1977 hinsichtlich seiner ÖNV Ausstattung und -Auslastung deutlich gegenüber anderen Städten vergleichbarer Größe zurück, sondern der Stellenwert des Autos wird auch daran deutlich, daß dem Bahnhof der Stadt Wolfsburg über Jahrzehnte hinweg keine große Bedeutung zukam. Ja, das VW-Werk, das ursprünglich eine Lage des Bahnhofes direkt vor seinen Werkstoren befürwortet hatte (die Stadt zog einen anderen, "städtischeren" Standort vor), gab seinen Widerstand erst auf, als erkennbar wurde, daß >seine< Pendler zunehmend Fahrgemeinschaften bildeten oder einen eigenen PKW erwarben, also nur noch ein kleiner Prozentsatz von ihnen per Bahn zur Arbeit ins VW-Werk kam. (7)

Mit diesen Hinweisen sollte deutlich geworden sein, daß die Frage nach dem >Einfluß< des VW-Werks auf die Stadtentwicklungs- und Kommunalpolitik in Wolfsburg, sofern damit nur die persönliche werksseitige Einflußnahme auf kommunale Entscheidungsprozesse gemeint ist, zu kurz greift. Tatsächlich wirkt das Werk nicht sozusagen >von außen< auf die Wolfsburger Kommunalpolitik ein, sondern es ist immer schon von vorn herein deren integraler Bestandteil, das heißt, in den sich entwickelnden materiellen und normativen Strukturen der Stadt ist das Werksinteresse immer schon enthalten und aufgehoben und braucht nur von Fall zu Fall durch direkte, persönliche Intervention >von außen< in die Kommunalpolitik eingebracht zu werden: "Was gut ist für das Werk, ist gut für die Stadt" - das ist ganz allgemeine Auffassung in Wolfsburg.

Selbstverständlich gibt es jedoch diese persönliche, direkte Einflußnahme der Werkleitung auf die Stadtentwicklung und Kommunalpolitik. Der zentrale Befund der auf diesen Aspekt abzielenden Studie von 1977 lautete jedoch: Das Unternehmen beziehungsweise seine Angestellten haben nur die Entscheidungen beeinflußt, an denen sie interessiert waren. "AIIe übrigen Entscheidungen der Stadt Wolfsburg - und das waren zahlenmäßig die weitaus meisten - wurden vom Volkswagenwerk nicht beeinflußt." (8) Diese Aussage ist nach wie vor zutreffend. Aber während es in der Zeit, die Hilterscheid untersuchte, in der "Nordhoff-Ära" (1948 bis 1968), noch eklatante Beispiele dafür gab, daß sich das Werk in Dinge >einmischte<, die ihm eigentlich hätten egal sein können. Hilterscheid berichtet von der >Herrschaft der kleinen Könige<, die als VW-Abteilungsleiter oder einflußreiche VW-Ratsherren, mit dem Werk im Rücken, versucht hätten, über das sachliche Werksinteresse hinausgehend individuelle Interessen durchzusetzen (9) -, so ist hiervon heute immer weniger zu spüren. Die Bevölkerung ist überwiegend der Auffassung, daß der Einfluß des VW-Werkes auf die Kommunalpolitik in erster Linie mit der Person Nordhoffs in Verbindung zu bringen sei:

"Nordhoff war ja der Bonze; diese Ära ist vorbei." Oder: "Nordhoff, das war schon der >König von Wolfsburg<: er hat halt die Stadt aus dem Nichts gemacht. Er war aber auch der letzte VW-Chef, der als >Herrscher aller Reußen< auftrat. Die Nachfolger hatten keine Resonanz in der Bevölkerung, waren Fremde und blieben der Stadt und der Politik, die dort gemacht wurde, fremd." (10)

Dafür, daß sich die Führungsschicht des VW-Werks gegenüber den fünfziger und frühen sechziger Jahren kommunalpolitisch heute weniger engagiert beziehungsweise >einmischt<, gibt es weitere Gründe: Das VW-Werk hat sich zu einem weltweiten Konzern entwickelt, seine Probleme haben sich globalisiert, mit der Folge, daß die Stadt Wolfsburg nur noch ein Standort von vielen ist, die Stadt also an Relevanz für den Konzern verloren hat. Die Manager des VW-Werks sind heute überdies beruflich viel zu eingespannt, als daß viel Zeit bliebe für kommunalpolitisches Engagement, geschweige denn großes Interesse aufkäme, auf diese Ebene der >Dorfpolitik< herabzusteigen. Die Stadt Wolfsburg selbst hat sich inzwischen zu einer >vollständigen< Stadt entwickelt und wirft nicht mehr so viele kommunalpolitisch zu lösende Standortprobleme auf wie noch in den fünfziger und sechziger Jahren, als Wohnungsknappheit herrschte und kultureller >Notstand<. Auch hat sich die Wolfsburger Verwaltung gegenüber den fünfziger Jahren professionalisiert. Verschiedene amerikanische Studien konnten feststellen, daß die ökonomischen Eliten sich aus der Kommunalpolitik zurückziehen, wenn die Gesellschaften >absentee-owned< oder stark in den nationalen oder gar internationalen Markt integriert sind. Das scheint genau das zu sein, was in Wolfsburg im Zuge des Aufstiegs des VW-Werks zu einem >global player< passiert ist.

Insgesamt haben sich die Beziehungen zwischen Stadt und Werk entkrampft, versachlicht. Dabei wendet sich das VW-Werk immer an die Verwaltung der Stadt. Das VW-Werk hat eigentlich nie versucht, über die >Stadtrats-Schiene< Druck auf die Wolfsburger Kommunalpolitik auszuüben. Das Werk nahm weder Einfluß auf die Kandidatenaufstellung noch auf das Wahlverhalten seiner Beschäftigten. Dennoch war in den fünfziger und sechziger Jahren die Mehrheit der Ratsmitglieder bei VW beschäftigt; aber das ergab sich gleichsam zwangsläufig, weil eben auch die Mehrheit der Wolfsburger Bevölkerung bei VW beschäftigt war und ist. Der Gemeinderat war für das VW-Werk auch insofern relativ uninteressant, weil bei Angelegenheiten, die das VW-Werk betrafen, die VW-Ratsmitglieder ohnehin aufgrund von § 26 >wegen Befangenheit< nicht hätten mit abstimmen dürfen. In den fünfziger Jahren mußte sogar ein besonderer Erlaß für Wolfsburg sicherstellen, daß bei der Anwendung dieses Paragraphen der Niedersächßischen Gemeindeordnung (NGO) der Rat beschlußfähig blieb. Dennoch waren früher immerhin einige leitende Angestellte des VW-Werks beziehungsweise Betriebsratsmitglieder als Fraktionschefs, als Mitglied des Verwaltungsausschusses, ja, sogar als Bürgermeister auch in verantwortlichen Positionen in der Wolfsburger Kommunalpolitik tätig. Das ist schon seit längerer Zeit nicht mehr so.

Die persönliche, direkte Einflußnahme des Werks auf die Kommunalpolitik reduziert sich also heute auf die Angelegenheiten, die für VW direkt relevant sind. Man beschränkt sich dabei in seinen Kontakten auf die jeweils zuständigen Dezernenten oder Abteilungsleiter in der Wolfsburger Verwaltung. Die Kontakte werden als normal, geschäftsmäßig bezeichnet. Das Werk kann allerdings von vornherein voraussetzen, daß man sich auf Seiten der Stadt um die entsprechende Angelegenheit kümmert. Dennoch kommt es immer mal wieder zu Spannungen, Schwierigkeiten und Verstimmungen, und zwar auf beiden Seiten. Dabei lassen sich drei typische Konfliktarten unterscheiden:

1. Das VW-Werk verlangt etwas, was das lokale politisch-administrative System nicht schnell und reibungslos erfüllen kann. Diesem Konflikttypus sind jene Klagen zuzuordnen, in denen das Werk die langwierigen und bürokratischen Entscheidungsprozesse der Stadtverwaltung kritisiert; ein früheres VW-Aufsichtsratsmitglied: "Es ist für uns im Werk immer wieder schwierig, mit den langwierigen Planungs- und Entscheidungsprozessen bei der Stadt zurechtzukommen. Wir wissen, die geben sich Mühe. Aber bei uns können eben Entscheidungen von einem Tag zum anderen fallen."

2. Das VW-Werk stellt unklare, widersprüchliche oder sich kurzfristig ändernde Forderungen, die die Stadtverwaltung verunsichern. Bauprojekte, die seitens des VW-Werks noch im Vorjahr "mit größtem Nachdruck" geplant wurden, können im nächsten Jahr schon zu den Akten gelegt sein, weil sich die Konjunktur oder die Konzernpolitik geändert hat. Dabei ist ein Problem im Umgang mit VW, daß durch informelle Kontakte zwischen Verwaltungsangehörigen und Werksangehörigen (bei Stehempfängen, im Rotary-Club, über die Betriebsrats-SPD->Schiene<) sich anbahnende Veränderungen im >Meinungsbild< des VW-Werkes schon frühzeitig deutlich werden, ehe sie auch von höchster Stelle bestätigt werden.

3. Das VW-Werk verfolgt Interessen, die mit dem >Allgemeinwohl<-Anspruch, dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem Legalitätsprinzip des lokalen politisch-administrativen Systems nicht (voll) kompatibel gemacht werden können. Gerade wenn es um ökologische Belange geht, Ausnahmegenehmigungen oder >verkürzte< Verfahren, treten diese Konflikte auf. Dabei enden solche Fälle in der Regel mit der Interessendurchsetzung des Werkes, aber keineswegs immer. Wenn jedoch einmal das Werk von seinen Plänen abrückt, dann nicht so sehr aufgrund des (ohnehin schwach ausgeprägten) Widerstandes seitens der Kommunalpolitik, sondern weil:

- Konjunkturverläufe einige Vorhaben (insbesondere im Wohnungsbau) nachrangig, wenn nicht obsolet machen,
- werksinterne (Standort-, Finanz-)Überlegungen zu neuen Erkenntnissen und Zielen geführt haben,
- (neue) Gesetze und Vorschriften der Interessendurchsetzung entgegenstehen, die weder vom Werk noch von der Genehmigungsbebörde umgangen bzw. >umgebogen< werden können.

Erst im Zusammenwirken mit diesen Faktoren können bisweilen Vorstellungen des Werks in der Wolfsburger Kommunalpolitik durchgesetzt oder Abstriche am ursprünglichen Werkskonzept erreicht werden. Ansonsten gilt nach wie vor - in den Worten des damaligen Ratsherrn: "Wenn das Werk zu einer bestimmten Meinung kommt, dann kann der Rat der Stadt letztlich nur mit dem Kopf nicken; da sollte man sich nichts vormachen. Wer das nicht akzeptiert, ist ein lllusionär oder sollte aufhören, in Wolfsburg Politik zu machen".

Das Volkswagenwerk setzt - sozusagen als >stummes Wirken gesellschaftlicher Macht< - der Stadt Wolfsburg die entscheidenden stadtentwicklungspolitischen Rahmenbedingungen, mischt sich aber sonst kaum (noch) in die Kommunalpolitik ein, vorausgesetzt: Werksinteressen sind nicht berührt. Dinge, die für das Werk (noch) relevant sind, werden >einvernehmlich<, das heißt im Werksinteresse kommunalpolitisch entschieden.
  Inhaltsverzeichnis Katalog

  Anmerkungen
1 Hilterscheid, Hermann: Industrie und Gemeinde. Die Beziehungen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin 1977, S.199.
2 Ebd., S.188.
3 Ebd., S.187f.
4 Vgl. Tessin, Wulf: Stadtwachstum und Stadt-Umland-Politik. Die politisch-administrative Subsumtion des Landes unter die Herrschaft der Stadt im Prozeß der Stadt-Umland-Entwicklung im Raum Wolfsburg, München 1986.
5 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1971, S. 250.
6 Wehling, Hans Georg: Gemeinde und politisches Lernen, in: ders. (Hg.): Kommunalpolitik, Hamburg 1975, S. 283.
7 Vgl. Hilterscheid 1977 (wie Anm.1), S.157.
8 Ebd., S. 304.
9 Ebd., S. 302.
10 Vgl. Herlyn, Ulfert u. a.: Stadt im Wandel. Eine Wiederholungsuntersuchung der Stadt Woltsburg nach 20 Jahren, Frankfurt / Main 1982, S.109ff.
    Inhaltsverzeichnis Katalog

© Wulf Tessin