Jörn Schütrumpf | Werk
- Stadt - Partei. |
Bei
der Festlegung des Wohngebietes für das EKO standen fünf Standorte zur Auswahl,
zwei von ihnen gelangten in die engere Auswahl. Vieles sprach für die landschaftlich
reizvolle Gegend an den Pohlitzer Seen. Doch dort hätte - wie 1938 am Mittellandkanal
bei Fallersleben - eine völlig neue Stadt errichtet werden müssen. Das war aber nicht die Aufgabe, vor die sich die Architekten und Funktionäre des Ministeriums für Aufbau, Kurt Liebknecht und Kurt Junghanns (Institut für Städtebau und Hochbau), die Hauptabteilungsleiter Alois Pisternik und Stegmann, Paul Wolf von der Hauptabteilung Städtebau und - vom Projektierungsbüro Berlin - Richard Linneke gestellt sahen, als sie sich am 20. Oktober 1950 nach Fürstenberg zur Ortsbesichtigung begaben. Gefordert von ihnen war lediglich, die künftigen Arbeitskräfte des EKO so dicht wie möglich am Werk und zugleich kostengünstig unterzubringen. Deshalb wurde entschieden: "Nachdem zunächst als Baugelände das Gebiet westlich der Pohlitzer Seen und nördlich des Pohlitzer Mühlfliesses vorgesehen war, kamen bei näherer Untersuchung Bedenken wegen der durch diese Lage bedingten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Isolierung der neuen Stadt von Fürstenberg. Es wurden deshalb die als Wohngebiete in Frage kommenden Plätze erneut untersucht. [...] Als Ergebnis wurde das Gelände südlich Schönfließ [...] festgestellt." (1) Dafür sprach nicht zuletzt: "5. Anschluß an Fürstenberg möglich. 6. Alle Folgeeinrichtungen (Verwaltungen, Schulen usw.) können in Fürstenberg bezw. Schönfließ zunächst benutzt werden." (2) Fürstenberg / Oder war ein kleines Städtchen, knapp einhundert Kilometer südöstlich Berlins an der Mündung des Oder-Spree-Kanals in die Oder und der Eisenbahn Berlin - Breslau gelegen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs waren hier Oder-Schiffahrt, Korbflechterei, Holzindustrie und Glashütten strukturbestimmend gewesen. Während des Krieges hatte die Stadt - durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen - kurzzeitig an der Rüstungskonjunktur partizipiert. In dieser Zeit konnte sich die Stadt auch territorial ausdehnen. Auf Erlaß des Reichsministers des Innern vom 21. September 1943 wurden die Dörfer Vogelsang und Schönfließ eingemeindet. Bei dem reichen Dorf Schönfließ, das infolge dieses Verwaltungsaktes 80 000 RM in bar an den Fürstenberger Stadtkämmerer verlor, geschah dies "mit der Begründung: die Rüstungsindustrie Borsig-Rheinmetallwerke (genannt Odergerätebau), welche zum grössten Teil auf Schönfliesser Gelände erbaut wurde und noch weiter ausgebaut werden sollte, einheitlich zu verwalten". (3) Nach dem Krieg mußte Fürstenberg nicht nur die Demontage und vollständige Zerstörung der zum Teil noch nicht einmal fertiggestellten Betriebe verkraften; wesentlicher war der Verlust des traditionellen Hinterlandes östlich der Oder, für dessen landwirtschaftliche Produkte Fürstenberg seit Jahrhunderten als Umschlagplatz gedient hatte. Die Entscheidung, die Kurt Liebknecht und die anderen fünf Personen an diesem Vormittag fällten, war für die Nachkriegszeit nicht außergewöhnlich. Denn Siedlungen mit billigen Zeilenbauten - orientiert am Sozialwohnungsbau der Weimarer Republik - wurden an verschiedenen Orten der SBZ und frühen DDR geplant und gebaut. Daraus erklärt sich auch, warum sich kein namhafter Politiker in diesem Gremium befand; die Akteure handelten nicht im Bewußtsein, eine neue Stadt, gar die "erste sozialistische Stadt Deutschlands" zu gründen. In den überlieferten Papieren ist deshalb auch fast durchgängig nicht von einer "Stadt", sondern von einem "Wohngebiet" beziehungsweise einer "Wohnstadt" die Rede. Und deshalb ist es auch nicht überraschend, daß sich in der ersten Bezeichnung für das spätere Eisenhüttenstadt diese ursprüngliche Intention spiegelte. Sie lautete "Wohnstadt des EKO". Später ist nicht nur oft versucht worden, diesen Ausgangspunkt vergessen zu machen. Das Verschweigen der ursprünglichen Konzeption wurde auch zur politischen Denunziation benutzt, so zum Beispiel 1953 von Richard Paulick: "Bei der Ausarbeitung der ersten Vorentwürfe für die städtebauliche Gestaltung dieser Stadt mussten stark formalistische Entwürfe, wie die des Architekten Ehrlich und des Architekten Geiler abgelehnt werden. Diese Entwürfe waren keine Weiterentwicklung, sondern gaben dem überholten Reihenhaus-Charakter und konstruktivistischen Absichten dieser Architekten den Inhalt." (4) Ehrlich und Geiler hatten, wie von ihnen verlangt und auch anderswo in der DDR üblich, eine Industrie-Siedlung geplant. Hieraus erklärt sich auch, warum für die Errichtung der Wohnbauten kein eigenständiger Stab gebildet wurde; dessen Aufgaben sollte die Aufbauleitung des EKO miterfüllen. Das blieb zunächst auch so, als Kurt W. Leucht Anfang 1951 die Idee einer Stadt ins Spiel brachte und sich mit ihr gegen den Gedanken einer Siedlung durchsetzte. (5) Oberhaupt von Werk und Stadt war bis 1952 der Aufbauleiter des EKO, Otto Ringel. Da das EKO Priorität hatte und dort ständig neue Schwierigkeiten auftraten, blieben für die Wohnbauten weder genügend Arbeitskräfte noch Baumaterial übrig. Da daran auch der Besuch von Walter Ulbricht am 13. Januar 1952 nichts änderte, erhoffte man sich von der Einsetzung eines "Generalprojektanten" für die Stadt zum 1. September 1952 eine Wende - wurde doch die Belegschaft des EKO unruhig. Seiner Berufung in diese Funktion, die Kurt W. Leucht anfangs ablehnte, stimmte er erst zu, als ihm auch die materielle und finanzielle Verfügungsgewalt zugestanden wurde. Leucht hatte mit den sowjetischen Aufbau-Städten argumentiert, bei denen ähnlich verfahren wurde. Erfolgreiche Militärs, vor allem Generäle, erhielten die Verantwortung für jeweils eine kriegszerstörte Stadt, die sie erst nach dem Wiederaufbau an die kommunale Verwaltung zur Nutzung übergaben. Ein solches Verfahren konnte Leucht auch für sich durchsetzen; (6) nominell wurde er so zum ersten Stadtoberhaupt der Wohnstadt des EKO. Für das Leben in der Wohnstadt blieb das allerdings ohne Belang. Die Verwaltung, soweit notwendig, wurde von der Stadt Fürstenberg miterledigt. Noch bevor Leucht am 19. April 1953 von Minister Bolz wieder von dieser Aufgabe entbunden wurde - auch er hatte weder den Zeitverzug beim Aufbau der Stadt wesentlich reduzieren noch das Problem des Mangels an Material und Arbeitskräften lösen können -, ging die Leitung der Stadt an einen "Oberbürgermeister" über. Dieser Titel eines Großstadt-Oberhauptes für Albert Wettengel war ein reiner Euphemismus. Denn die Mehrheit der beim Aufbau des EKO sowie im EKO Beschäftigten lebte noch in Baracken; erst wenige Neubau-Blöcke waren bezogen. Für diese Entscheidung war keineswegs der erreichte Stand des Stadtaufbaus ausschlaggebend, ja er war letztlich nebensächlich. Den Hintergrund bildete vielmehr das "Karl-Marx-Jahr 1953", mit dessen Proklamierung die SED-Führung die im Sommer 1952 eingeleitete "Schaffung der Grundlagen des Sozialismus" weiter beschleunigen wollte. Im vorgesehenen Szenario sollte der Wohnstadt des EKO eine besondere Rolle zukommen. Für den 14. März 1953, den 70. Todestag von Marx, war die Namensgebung der Stadt, die fortan "Karl-Marx-Stadt" heißen sollte, geplant. (7) Deshalb wurde am 23. Februar 1953 in der Kulturhalle des EKO eine "konstituierende Stadtverordnetenversammlung" abgehalten, die "ein besonderes Gepräge durch die Anwesenheit von Vertretern des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Staatsfunktionären und leitenden Wirtschaftsfunktionären der Betriebe" erfuhr. (8) Neben Wettengel und seinen beiden Stellvertretern (Heinz-Joachim Lange, Erich Krüger) und dem Sekretär des Rates (Joachim Müller) wurden sechs Mitglieder in den Rat der Stadt gewählt, die alle Angehörige des EKO waren: mit dem Aufbauleiter Otto Ringel, dem technischen Direktor und dem Betriebsleiter der Wärmestelle des EKO drei Führungskräfte sowie zwei Hochöfner und eine Arbeiterin. Das EKO behielt also auch nach der Bildung einer eigenständigen Stadtverwaltung Einfluß auf die Belange der Stadt. Am symbiotischen Charakter der Beziehungen zwischen Werk und Stadt änderte sich in den folgenden Jahrzehnten im grundsätzlichen nichts. Beide dehnten sich aus, ohne miteinander in Konflikt zu geraten, da bei der Festlegung der zu nutzenden Flächen 1950 großzügig verfahren worden war. Das Werk konnte sich ungehindert nördlich der Straße Fürstenberg - Schönfließ entfalten, während das südliche Gelände der Stadt zur Verfügung stand. Solange das Werk wuchs - und das geschah bis zur Wende« von 1989 / 90 -, traten Konflikte zwischen beiden Seiten vor allem immer wieder bei der Wohnungsvergabe auf. Plante die Stadt zum Beispiel den Bau von eintausend Wohnungen, hatte die EKO-Führung meist wenig Verständnis dafür, daß ihr "lediglich" achthundert zur Verfügung gestellt wurden. Doch die Stadt benötigte die restlichen zweihundert Wohnungen - nicht zuletzt im Interesse des Werkes -, um Arbeitskräfte für die Unterhaltung der mitwachsenden Infrastruktur an die Oder ziehen zu können. (9) Denn anderes als neue Wohnungen hatte die Stadt Zuzugswilligen nicht zu bieten. Anders als in Wolfsburg, wo das VW-Werk stets deutlich gegenüber der Stadt im finanziellen Vorteil war, herrschte in Stalinstadt / Eisenhüttenstadt zwischen Stadt und Werk eine gewisse Balance. Denn während das VW-Werk über seine Ausgaben völlig autonom verfügen konnte und dabei letztlich nur von der eigenen Ertragslage abhängig war, hatte das EKO als Bestandteil einer zentralen Planwirtschaft einen Großteil seiner Gewinne - so sie erzielt wurden - an den Staat abzuführen. Auch die Stadt konnte sich - wie alle DDR-Städte - nicht primär aus Steuereinnahmen finanzieren, sondern war auf die Zuteilungen des Rates des Bezirkes Frankfurt / Oder, genauer der Staatlichen Plankommission der DDR-Regierung angewiesen. Außerdem lag in jeder DDR-Kommune ein wichtiger Teil der Kompetenzen nicht bei der kommunalen Verwaltung oder einer dominierenden wirtschaftlichen Einrichtung, sondern bei der jeweiligen Struktur der SED. Im Falle des Stadtkreises Stalinstadt / Eisenhüttenstadt war das die Kreisleitung der SED beziehungsweise deren 1. Sekretär. Zweifellos ist die Aussage des langjährigen Oberbürgermeisters von Eisenhüttenstadt, Werner Viertel, richtig, daß der Generaldirektor des EKO nicht der "Ober-Oberbürgermeister" war. (10) Trotzdem gab es einen solchen. Es war der 1. SED Kreissekretär, der abhängig vom Verständnis seiner eigenen Rolle - die Angelegenheiten von Werk und Stadt mit seinen Mitteln befördern beziehungsweise behindern konnte. Doch auch dessen Spielraum war bei weitem nicht so groß wie der des VW-Generaldirektors, verfügte er doch über keinerlei Zugriff auf nennenswerte Finanzen. Werk, Stadt und SED-Kreisleitung waren aufeinander angewiesen, auch und nicht zuletzt, weil alle drei Partner übergeordneten Leitungen rechenschaftspflichtig waren. So wie der Generaldirektor des EKO gegenüber dem entsprechenden Ministerium und der Staatlichen Plankommission dafür verantwortlich zeichnete, daß das Werk seine Planauflagen erfüllte, sahen sich der Oberbürgermeister gegenüber dem Rat des Bezirkes und der DDR-Regierung und der 1. Kreissekretär gegenüber der Bezirksleitung der SED Frankfurt / Oder und dem Zentralkomitee der SED gegenüber in der Pflicht. In dieser Hinsicht waren die Zustände in Stalinstadt / Eisenhüttenstadt nicht anders als in jeder anderen Stadt der DDR. Die Führungskräfte - ganz gleich ob in der Wirtschaft, ob in der Hierarchie der SED oder in der kommunalen und staatlichen Verwaltung - konnten sich nur dann in ihren Funktionen halten und weitere Sprossen auf der Karriereleiter erklimmen, wenn es ihnen gelang, das allen gemeinsame "Problem Nr. 1" stets aufs neue wenigstens so weit zu lösen, daß es nicht zu ernsthaften Auseinandersetzungen in der Gesellschaft kam: die tagtägliche Verwaltung des Mangels. Wer hierbei versagte, dem halfen über kurz oder lang weder besondere ideologische Treue und Straffheit noch Intrigen und Denunziantentum. Erfolgreich waren nur diejenigen Führungskräfte, die es verstanden, das überall herrschende Chaos des Mangels in dem von ihnen verantworteten Bereich zumindest so weit zu moderieren, daß es nicht zu nennenswerten Zwischenfällen und Blockierungen kam. Auf Dauer war eine solche Moderation aber nur dort möglich, wo es gelang, den Mangel durch das Einwerben von zusätzlichen Mitteln bei den übergeordneten Stellen partiell beziehungsweise zeitweilig zu mildern. Das konnte jedoch ein einzelner über einen längeren Zeitraum hinweg nicht leisten. Nur wenn die verschiedenen Bereiche im Falle von Stalinstadt / Eisenhüttenstadt also Werk, Stadt und Partei - ihre Interessen miteinander abglichen und gemeinsam gegenüber ihren jeweilig übergeordneten Strukturen vertraten, hatten sie längerfristig eine Chance, den Mangel nicht übermächtig werden zu lassen und so sich selbst zu behaupten. Auch als führende Kräfte des EKO - anders als in der Frühzeit der Aufbauleiter Otto Ringel nicht mehr direkt im Rat der Stadt vertreten waren, fand zwischen Werkleitung und Stadtverwaltung eine regelmäßige Kommunikation statt. Einmal im Monat trafen sich die Spitzen beider Seiten zu einer informellen Runde, in der das gemeinsame Vorgehen abgestimmt wurde. In dringenden Fällen kam man auch außerhalb dieses Turnus zusammen. Da der Oberbürgermeister von Stalinstadt / Eisenhüttenstadt nicht nur stets Mitglied der SED, sondern auch ihrer Kreisleitung, meistens sogar ihres eigentlichen Machtzentrums, des Sekretariats, war, konnte er dort auf den wöchentlichen Sitzungen seine Probleme zu Sprache bringen. Nach diesem Grundmuster funktionierte die Verwaltung überall in der DDR. Dieser hohe Grad an interner Kommunikation war eine Konsequenz aus dem Aufstand vom 17. Juni 1953, die die SED-Führung zur Aufrechterhaltung und Ausgestaltung ihrer Diktatur gezogen hatte. Schrittweise wandelten sich die Ideologen in ideologisch treue Verwaltungstechniker - oder sie wurden in minder relevante Bereiche wie Gewerkschaft oder andere "Massenorganisationen" abgedrängt. Alle Beteiligten waren vom Bewußtsein durchdrungen, einer Elite anzugehören. So offen nach innen über alle Probleme verhandelt wurde und bei Strafe der eigenen Existenz verhandelt werden mußte natürlich nur soweit man sie begriff oder glaubte, begreifen zu dürfen, so radikal wurde die Nachrichtensperre eingehalten, die gegenüber der Gesellschaft verhängt war. Diese wurde mit gestanzten Ideologie-Formeln überflutet und lange Zeit erfolgreich paralysiert. Wer von den Führungskräften die Nachrichtensperre verletzte, machte sich des schwersten Sakrilegs schuldig - für ihn blieb nur der Ausschluß aus dem Gral für ewig. Stalinstadt / Eisenhüttenstadt gehörte bis Ende der siebziger Jahre zu den materiell bevorzugten Kommunen der DDR. Seit Anfang der achtziger Jahre bekam aber auch die dortige Stadtverwaltung den sich allgemein ausbreitenden Mangel immer heftiger zu spüren. Wie viele DDR Bürgermeister geriet auch der Oberbürgermeister von Eisenhüttenstadt auf Einwohnerversammlungen zunehmend unter den Druck der Bevölkerung. Doch als er aufhörte, die offizielle Politik zu verteidigen, und statt dessen über die Probleme der Stadt sprach, hatte er seinen Posten verwirkt. Ohne Begründung wurde er 1985 auf Anordnung der SED Bezirksleitung Frank furt / Oder während eines Krankenhausaufenthaltes seines Amtes enthoben. Die Leitung des EKO und der SED-Kreisleitung hatten zwar mit ähnlichen, zum Teil sogar mit denselben Problemen zu kämpfen. Doch ihre Rolle war weit anonymer damit waren sie auch weit weniger angreifbar. |
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