Schloß Wolfsburg, 1958.
Auf der Suche nach einem neuen Namen für die Stadt des KdF-Wagens besann
man sich 1945 auf den des Renaissance-Schlosses der Grafen Schulenburg
(Photo: Heinrich Heidersberger) |
Gemessen an der Geschichte
der Ortsnamen generell, gemessen aber auch an deren jeweiliger Lokalgeschichte,
sind Wolfsburg und Eisenhüttenstadt "späte" Namen. Beide Städte sind auf
dem Reißbrett entstanden - in der Mitte dieses Jahrhunderts, das Karl
Dietrich Bracher "Zeit der Ideologien" genannt hat. (1)
Und tatsächlich waren es die politischen Ideologien dieses Jahrhunderts,
auf die die wechselvolle Benennungsgeschichte beider Städte und so auch
deren "späte" Namen zurückzuführen ist. Vor der endgültigen Namensfestlegung
- im Falle Wolfsburg 1945, im Falle Eisenhüttenstadt 1961 - trugen beide
Kommunen Bezeichnungen, die auf ökonomisch-stadtörtliche und / oder
auf politisch-programmatische Gegebenheiten bezogen waren. In beiden Fällen
spiegeln die frühen Namen die wirtschafts- und sozialplanerische Logik
der politischen Systeme, in denen die Benennungsobjekte projektiert und
mit Mitteln der Semantik und Symbolik ideologisch modelliert wurden. In
beiden Fällen waren die Benennungsobjekte zunächst nichts anderes als
Werksiedlungen und Fabrikanlagen: Vorstufen industrieller Stadtneugründungen.
Der Name Wolfsburg folgte der Bezeichnung Stadt des KdF-Wagens, die 1938
bei der Gründung des Volkswagenwerks als Provisorium gewählt worden war
und durch die explizite Bindung an das sozialpolitische Programm des NS-Systems
eine eindeutige politische Botschaft vermittelte. Daß die Bezeichnung
in der Tat ein Provisorium war, geht hervor aus einer zwischen 1939 und
1945 auf verschiedenen administrativen Ebenen geführten Namensdebatte,
die aufgrund eines umfangreichen Konvoluts von Briefen, Stellungnahmen
und Notizen, das im Stadtarchiv Wolfsburg liegt, präzise rekonstruiert
werden kann. (2)
An dieser Debatte waren die Kommune, die Stadtrechte übrigens vor ihrem
Namen erhalten hatte, der Landrat in Gifhorn, der Regierungspräsident
in Lüneburg, das Reichsamt "Kraft durch Freude", die Reichsbahn und diverse
andere Instanzen beteiligt. In einer Mitteilung des Oberpräsidenten von
Hannover an das Regierungspräsidium vom 20. Juni 1938 heißt es, daß sich
der "Führer selbst die Namengebung für die neue Gemeinde" vorbehalten
habe. Nachdem jedoch der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF),
Robert Ley, anläßlich einer Begehung des Werks- und Siedlungsgeländes
Anfang August 1938 erklärt hatte, daß "der Führer" seinen eigenen Namen
nicht zur Verfügung stellen werde, waren auf Orts-, Werks- und Kreisebene
verschiedene Namensvorschläge erörtert worden. "Wolfsburg" befand sich
zwar auch darunter, nahm aber keineswegs eine favorisierte Position ein:
Der heutige Name stand in einer Reihe mit Fallersleben, Volkswagenstadt
und Klieversberg. Fallersleben war übrigens ein Vorschlag von Ley gewesen,
der mit dem "weltbekannten Namen" (der Dichter des "Deutschlandliedes"
war gemeint) das geplante Automobil gewissermaßen über das "Volkslied
der Deutschen" symbolisch aufwerten wollte. (3)
Das KdF-Werk, dessen Verwaltung damals noch in Berlin-Wilmersdorf saß,
hatte für Volkswagenstadt plädiert. Wolfsburg war vor allem desha!b in
die Debatte gekommen, weil es zusammen mit Rothenfelde der offizielle
Name des Haltepunkts an der Reichsbahnstrecke Hannover - Oebisfelde war.
Die endgültige Namengebung erfolgte erst nach dem Krieg: Im Mai 1945 schlug
der von der Militärregierung eingesetzte Stadtdirektor dem Landrat in
Gifhorn im Zusammenhang mit der "Entfernung von nationalsozialistischen
Abzeichen, Hoheitszeichen, sowie der Umbenennung von Straßen und Plätzen"
den Namen Wolfsburg vor und wies darauf hin, daß "dieser auch dem Empfinden
der Einwohnerschaft in vollem Umfang Rechnung trägt". Die neue Stadtbezeichnung
war hergeleitet von dem gleichnamigen Renaissance-Schloß der Grafen Schulenburg,
das in Sichtweite des Werks und der im Aufbau geplanten Wohnareale lag.
Nachdem die vorgeordneten Instanzen dem Namen zugestimmt hatten, wurde
die offizielle Umbenennung in der Stadtversammlung am 22. Juni 1945 vorgenommen.
Ab Dezember war Wolfsburg auch der alleinige Name des Bahnhofs.
Der Rückgriff auf den Namen von Schloß Wolfsburg, das schon 1694 in Merians
"Topographia Germaniae" eine ehrenvolle Erwähnung gefunden hatte, wurde
durch ein neues Stadtwappen bekräftigt. Es zeigt eine befestigte Burg,
zwischen deren beiden Wehrtürmen der namengebende Wolf steht: das Wappentier
der ehemaligen Schloßherren
von Bartensleben. Nicht ohne Stolz weist eine lokale Wappenstudie von
1993 darauf hin, daß es "kaum ein Wappen [gibt], das weltweit so bekannt
wäre wie das Wolfsburger. Es ist, auf dem Lenkradknopf des Volkswagens,
in alle Erdteile gewandert und wirkt dort für die Stadt, in der der "Käfer"
seinen Ursprung nahm" (4).
Der stilisierte Wappenwolf, der dem neuen Ortsnamen heraldische, historische
und fast so etwas wie mythologische Dignität verlieh und so auch als "Gegenname"
zu der politisch funktionalen Erstbezeichnung figurierte, wurde zudem
zum Ausgangspunkt einer repräsentativen Ikone, die bis heute im Foyer
des Rathauses ausgestellt ist: eine aus Kupfer getriebene Wolfsskulptur
des Bildhauers Jochen Kramer (sie war 1959 mit dem kurz zuvor gestifteten
Kunstpreis der Stadt ausgezeichnet worden). Weniger repräsentativ gibt
sich, heute jedenfalls, ein ausgestopfter Wolf im Heimatmuseum der VW-Stadt.
Er soll, einem Ondit zufolge, Mitte der fünfziger Jahre aus lokalpädagogischen
Gründen in Auftrag gegeben worden sein, um den neuen Namen der Stadt mit
einem didaktisch-plausiblen Anschauungsobjekt zu beglaubigen.
Ein ähnlicher Konnex zwischen Stadtwappen und Stadtnamen, zwischen visueller
und sprachlicher Symbolik, läßt sich auch für Eisenhüttenstadt belegen.
Im Unterschied zum Wolfsburger Wappen (und auch Namen) gibt sich Eisenhüttenstadt
in seinem Signet von 1975 äußerst modern und gegenwartsbezogen. Das Wappen
zeigt die Silhouette eines Hochhauses und des stadtbildbestimmenden Stahlwerks.
Der Mythos der neuen Stadt, der "ersten sozialistischen Stadt" der DDR,
wird im endgültigen Namen festgeklopft und im Wappen bildhaft zum Ausdruck
gebracht. Die für das städtische Selbstbild konstitutiven Werte (das für
die ostdeutsche Staatswirtschaft zentrale Roheisenwerk an der deutsch-polnischen
Grenze) werden sprachlich und emblematisch fixiert: Die in einem Teilumriß
stilisierte Friedenstaube weist auf die Oder-Neiße-Grenze, die im politisch-offiziellen
Jargon der DDR emphatisch zur "Friedensgrenze" gesteigert war. (5)
Wie der Wolf im Rathaus der VW-Stadt ist auch die Friedenstaube noch
heute im öffentlichen Raum präsent: auf einem Wandbild des Berliner Malers
Walter Womacka an der Nordfassade des Kaufhauses Magnet in der ehemaligen
Leninallee. An Picassos Friedensemblem erinnernd, dominiert die Taube
die Stadtallegorie des monumentalen Mosaiks mit dem Titel "Deutsch-polnisch-sowjetische
Freundschaft".
Eisenhüttenstadt ist der dritte Name der Stadt. Er stammt aus dem Jahre
1961 und ist eine Konsequenz des XXII. Parteitages der KPdSU, der mit
seiner deutlichen Absage an den Stalinkult eine Änderung des zweiten
Namens der Stadt erzwungen hatte. Als Folge der Parteitagsbeschlüsse war
es im November 1961 fast überall in der DDR zur Demontage von Stalindenkmälern
in Form von Namen, Bildern oder auch Skulpturen gekommen. Maoz Azaryahu
hat der Entstalinisierung der DDR-Namen eine Studie gewidmet und dabei
auch auf den Fall Eisenhüttenstadt hingewiesen: Dort sei es gelungen,
die Namensänderung als bloße Verwaltungsmaßnahme darzustellen und der
Öffentlichkeit gegenüber als Tribut an eine Gebietsreform, in der die
Zusammenlegung des alten Oderstädtchens Fürstenberg, der Gemeinde Schönfließ
und des neuen Stalinstadt erfolgte, auszugeben. (6)
Die örtlichen Akten lassen jedoch vermuten, daß es im unmittelbaren Vorfeld
der offiziellen Umbenennung am 13. November 1961 Scheindebatten über einen
politisch-ideologisch motivierten Namenswechsel - als Absage an den Personenkult,
der schon in der ersten, "kleineren" Entstalinisierung von 1953 verordnet
worden war - gegeben hatte. In zweifelsohne fingierten Briefen an den
"Genossen Oberbürgermeister" und an "die Stadtverordnetenversammlung"
war mit Hinweis auf die Moskauer Beschlüsse ein Namenswechsel gefordert
worden. Das "Kollektiv C von Ofen V" hatte etwa geschrieben:
"In Auswertung des XXII. Parteitages der KPdSU wurde auch bei uns über
die Verletzung der Leninschen Normen des Parteilebens, insbesondere über
den Personenkult, diskutiert.
Wir am Ofen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft treten besonders für
die Freundschaft mit der Sowjetunion ein. Wir verstehen die Beschlüsse
des XXII. Parteitages um Stalin und stellen an die Stadtverordnetenversammlung
die Forderung, zu überprüfen, inwiefern der Name Stalin für Werk und Stadt
noch gerechtfertigt ist. Wir stellen den Antrag, Werk und Stadt umzubenennen."
Die sozialistische Brigade "Clara Zetkin" hatte ähnliche Bedenken vorgebracht:
"Mit großer Begeisterung haben die Kollegen der Brigade "Clara Zetkin"
die Beratungen des XXII. Parteitages verfolgt. Durch Auswertung und Diskussion
in der Brigade fühlen und erkennen wir: dem Kommunismus gehört die Zukunft.
Klar erkannt haben wir auch, daß mit dem Personenkult Schluß gemacht werden
muß. Wir fordern, daß die erste sozialistische Stadt in der Deutschen
Demokratischen Republik umbenannt wird und einen würdigen Namen erhält."
(7)
In nicht wenigen der offensichtlich "bestellten", von keinerlei Systemzweifel
geprägten Stellungnahmen wurden neue Namensvorschläge gemacht: Friedensstadt,
Leninstadt, Gagarinstadt, Stahlstadt, Oderstadt, Oderhütte, Thälmannstadt
etc. Der Beschluß, die Stadt "nach der Hauptrichtung ihrer Produktion"
zu benennen, wie es später in einer "Heimatkunde" hieß, und den neuen
Namen so neutral wie möglich zu halten, gründete sicher auch in einer
Aversion gegen die massive politische Symbolik, die in der ideologischen
Ausstattung und Formierung der Renommierstadt eine dominante, in die alltägliche
Lebenswelt hineinreichende Rolle gespielt hatte.
Nach Stalin war die Stadt kurz nach dessen Tod (5. März 1953) in einem
aufwendigen Staatsakt am 7. Mai 1953 benannt worden - nach dem Vorbild
ähnlicher Industriestädte in der UdSSR und in den benachbarten Volksrepubliken.
Außer dem sozialistischen Internationalismus, der aus wirtschaftspolitischen
und technologiepragmatischen Gründungen den Anstoß für die Benennung gegeben
hatte, spielte möglicherweise auch die symbolische Aufwertung der Reißbrettplanung
in der "Sand- und Kiefernheide" eine wichtige Rolle. Mit dem neuen Namen
war die "neue Stadt am alten Strom" in die Nähe des Renommierprojekts
der Berliner Stalinallee gebracht und so mit der "der Zukunft zugewandten"
Hauptstadt des neuen Staats
verbunden worden. "Das größte und schönste Sinnbild dieses unerschütterlichen
Glaubens an die Zukunft ist der Aufbau der ersten sozialistischen Stadt
Deutschlands und der ersten sozialistischen Straße der deutschen Hauptstadt",
hatte das Neue Deutschland am 3. Mai 1953 geschrieben und den Bericht
überschwänglich geschlossen: "Daher tragen sie beide den Namen Stalins.
Stalin, das bedeutet Hoffnung, das bedeutet Sieg."
Die DEFA-Wochenschau "Der Augenzeuge" übertrug die "festliche Namensgebung",
bei der Ulbricht an die städtebaulichen Imperative Stalins erinnerte und
insbesondere auf das Wechselverhältnis von Erziehung und Stadt hinwies.
Die Benennung wurde als quasi religiöser Hoheitsakt zelebriert. "Unter
orkanartigem Beifall", so hieß es am 9. Mai 1953 im Neuen Tag, "nahm Walter
Ulbricht [...] im Auftrag der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik
feierlich die Namensgebung der Stalinstadt und des Eisenhüttenkombinats
J. W. Stalin vor".
Die Benennung nach Stalin war durch dessen Sterbedatum im März 1953 verursacht
worden, denn noch im Februar 1953 war im Politbüro des Zentralkomitees
der SED der Name Karl-Marx-Stadt für die Neugründung beschlossen worden.
Er sollte der Stadt am 5. Mai 1953 offiziell verliehen werden, doch der
Tod Stalins am 5. März erzwang eine Neudisposition: Aus der namenlosen
Stahl-Stadt an der Oder wurde Stalinstadt, und aus dem sächsischen Chemnitz
wurde ein Karl-Marx-Stadt.
Der erste Name der projektierten Gemeinde war eine reine Planbezeichnung
gewesen: "Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost". Trotz der räumlichen
Nähe zu Fürstenberg war ein wirtschaftstopographischer Funktionsname gewählt
worden, um das Neue "der nach sozialistischen Planungen gestaltenden Siedlungen"
deutlich hervorzuheben und so zum "Zeugen einer neuen Stufe menschlicher
Kultur" zu machen. Zwar erscheint auch in einigen Planpapieren des Jahres
1952 die Bezeichnung "Wohnstadt Fürstenberg"; sie konnte sich jedoch,
vermutlich wegen des ideologischen Elans der Industrialisierungspolitik
der jungen DDR, nicht durchsetzen.
Die Politik der Namengebung in Stalinstadt betraf nicht nur den Orts-
und Kombinatsnamen, sondern auch die Straßen und Plätze der einzelnen
Wohnkomplexe. Dabei folgte die Benennung einem System, welches an das
vom Planungsarchitekten Kurt W. Leucht vorgesehene urbanistische Kompositionsschema
angelehnt war und dieses akzentuierte. Die städtebaulich besonders wichtigen
Linien und Punkte wurden mit "starken" Namen hervorgehoben, "normale"
Straßen, Plätze und Gebäude, die keine gesamtstädtische Orientierungsaufgabe
hatten, erhielten zwar auch Namen, die sich in die bewußtseinsmodellierende
politische Symbolik fügten, waren aber in ihrer Appellwirkung zurückhaltender.
Lenin, Stalin, Zetkin, Deutsch-Sowjetische Freundschaft waren die Namen,
nach denen die großen, stadtbildprägenden Achsen benannt wurden; die Straßen
in den Wohnvierteln jedoch hießen nach Wissenschaftlern, Schriftstellern
oder Arbeiterführern. Die Namengebung war systematisch vom Rat der Stadt
geplant worden, allerdings nach zentralen Vorgaben des Ministerrats. (8)
Im März 1954 war beschlossen worden, den bis dato mit Buchstaben gekennzeichneten
Straßen "richtige" Namen zu geben, einerseits um die lebensweltliche Orientierung
zu erleichtern, andererseits um den "sozialistischen Charakter unserer
Stadt" deutlich hervorzuheben. Aus der A-Straße in Wohnkomplex 1 wurde
die Karl-Marx-Straße, aus der B-Straße die Klement-Gottwald-Straße, aus
der D-Straße die Rosa-Luxemburg-Straße etc. (9)
Insgesamt fünfzehn Straßen, Höfe und Plätze wurden in
dieser Weise benannt, wobei sie dem Prinzip der "klassenmäßigen Erziehung
und sozialistischen Bewußtseinsbildung" entsprechend lehrhaft kommentiert
wurden; die Verwaltungsakten jedenfalls enthalten Kurzbiographien der
zitierten Persönlichkeiten, die auch von der örtlichen Presse veröffentlicht
wurden.
Die kommunal-administrative Symbolordnung und die private Lebenswelt wurden
qua Ritual und vermittels kollektiv geübter Aneignungsformen ineinander
verschränkt; mit den Straßennamen kamen Haus- und Wohnanschriften in die
am Reißbrett entworfene Stadt. Die Sozialutopie wurde konkret; die Straßennamen
verbanden das kleine Milieu mit dem Großprojekt Sozialismus. "Bis zum
1. Mai", schrieb 1954 die "Heimatzeitung für Stalinstadt", "wurden in
einer ganzen Anzahl von Straßen die Namensschilder angebracht, die nicht
nur die Orientierung erleichtern, sondern der gesamten Stadt ein würdiges
Gepräge geben. [...] Es ist doch bestimmt schöner zu sagen >Georgij-Dimitroff-Straße
4< als >BIock 29, Aufgang I<". (10)
Die kollektive Einprägung der Namen ins politisch-gesellschaftliche Bewußtsein
der Neubürger von Eisenhüttenstadt erfolgte nicht nur über Massenveranstaltungen
wie der pompösen Feier zur Namensverleihung am 7. Mai 1953, sondern auch
über kleine, nachbarschaftliche Feste, Feiern und Wettbewerbe in den Hausgemeinschaften
und Wohnblockkollektiven. Die Rituale waren nicht nur ein Instrument der
"impliziten Pädagogik" des Sozialismus, indem sie gesellschaftliches Wissen
alltäglich machten, sondern auch ein Mittel zur Festigung des Ortsbewußtseins,
das im Falle einer Planstadt erst geschaffen werden mußte: So wurde etwa
in feierlicher Form die Benennung des Platzes der Deutsch-Sowjetischen
Freundschaft am 36. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution
am Vorabend des 7. November 1953 begangen, und an Gedenktagen der "Namenspatrone"
von Straßen, Plätzen und Höfen
veranstalteten Hauskollektive Wettbewerbe, Sammelaktionen und Diskussionsrunden.
Tageszeitungen und Zeitschriften der Massenorganisationen gaben dem sozialistischen
Bewußtsein Impulse mit Informationen zu Namengebern und Benennungsanlässen.
"Als die schönste Straße unserer ersten sozialistischen Stadt wird die
"Straße der Jugend" bezeichnet. Wird sie am Sonntag zur Eröffnung des
Monats der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft wieder in Fahnenschmuck sein?
Was haben sich die Hausgemeinschaften im Freundschaftsmonat für Aufgaben
gestellt?", fragte am 24. Oktober 1954 die Lokalzeitung, deren Signet
suggestiv die "neue Heimat" Stalinstadt ins Bild setzte, indem es Hochöfen,
Wohnblocks und ein Stahlkocherpaar zu einer Ortsikone verband und diese
zudem unmißverständlich durch eine "inscriptio" definierte.
Mit den neu vergebenen Straßennamen waren Beheimatungsstrategien verbunden,
darüber hinaus jedoch auch eine politische Pädagogik, mit der gesellschaftliche
Grundorientierungen modelliert werden sollten. Ungleich massiver als in
"civil societies" mit ihren pluralen Orientierungen wurden in der DDR
Namen, Denkmäler, Bilder und Rituale als "stumme Lehrer" eingesetzt. Daß
diese Formen einer "Pädagogik der Umgebung"(11)
insbesondere in Stalinstadt zum Einsatz kamen, lag in der Logik des ideologischen
Anspruchs, den die SED an das urbanistische Musterprojekt stellte.
Das pädagogische Rüstzeug und die didaktische Wirkweise der Namenspolitik
wurden von der in der DDR stark entwickelten sprach- und sozialwissenschaftlichen
Namensforschung gelenkt. An der Universität Leipzig gab es ein eigenes
Institut, das sich in seinen Forschungen, vor allem in seinen "Namenkundlichen
Informationen", mit der ideologischen Relevanz und weitreichenden Wirkung
der Benennungspolitik beschäftigte. (12)
Straßennamen, so war die Lehre der Leipziger Forschungsstelle, seien "Vorstellungssuggestive",
die die "Totalvergegenwärtigung einer Person, Sache, Institution, Lokalität
usw." möglich machten. Bei Namen von Straßen, Plätzen und Gebäuden handele
es sich um so etwas wie "Bezugshersteller, Bezugsmittel, Vergegenwärtiger
für Personen oder Sachen, über die weiteres erst ausgesagt werden soll"
(13). Die
politisch-pädagogische Bedeutung des Namens beruhe derauf, daß er "mehr
als andere sprachliche Zeichen Konnotationen zugänglich [sei], die eine
steuernde Wirkung des Namens auf das Bewußtsein der Sprachbenutzer ausüben".
Dem Akt der Namensverleihung als motivierendes Ritual wurde (im Gegensatz
zum "aufmerksamkeitsarmen Namengebrauch") ebenso Beachtung geschenkt wie
der Frage der Namenfelder (Kosmonauten- und Dichterviertel) oder der nach
dem "sozialen Kolorit" der Namen. (14)
Trotz der zentraldirigistischen Vorgaben, wie sie im Ministerialblatt
46 / 1953 fixiert waren, wurde den Vorschlags-, Diskussions-
und Auswahlverfahren bei den Benennungsmanövern (wegen ihres motivierenden
Charakters) nicht wenig Raum gewährt. Das war bei der Verleihung der Straßennamen
1954 der Fall, aber auch bei der Abschaffung des Namens Stalinstadt, der
zwar der Vorwurf einer Nacht- und Nebelaktion anhaftet, die aber - wie
scheindemokratisch auch immer - durch meinungsbildende Beteiligungsprozesse
vorbereitet war.
Als Stalinstadt seine "Maßnahmen" zur Straßenbenennung in Gang setzte,
hatte Wolfsburg seine erste und bisher einzige Änderungswelle hinter sich.
Im Zusammenhang mit der Entnazifizierung war es zu zahlreichen Um- und
Neubenennungen in der jungen VW-Stadt gekommen. Schon in der unter der
Aufsicht britischer Besatzungsoffiziere im Mai stattfindenden ersten Stadtverordnetensitzung
waren die Namen der Schlieffen-, Richthofen-, Moltke-, Ludendorff- und
Litzmannstraße geändert worden; sie tragen bis heute die Namen "klassischer"
deutscher Dichter. Ein in derselben Sitzung gebildeter Ausschuß bereitete
die Änderung noch anderer Straßennamen vor; neu benannt wurden ebenfalls
die Blücher-, Graf-Spee-, Manteuffel-, Scharnhorst- und Arndtstraße. Auch
ihnen wurden in aller Regel Dichter und Schriftstellernamen gegeben (Lessing,
Löns oder Wilhelm Busch). Bei den meisten der Umbenennungsmaßnahmen des
Jahres 1945 handelte es sich um eine symbolische Entmilitarisierung. Konsequent
zielte sie auf die Abschaffung der preußischen Generalsnamen, Namen, die
bis 1945 die Rüstungsproduktion
im VW-Werk und dessen Rolle in der Kriegswirtschaft ideologisch gestützt
hatten. (15)
Einige Umbenennungen der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden später allerdings
noch einmal geändert, um ein von jeder politischen Färbung freies Namenssystem
zu bieten. So wurde aus der Adminal-Scheer-Straße zunächst eine Liebknecht-,
später eine Fichtestraße, aus der Clausewitz- vorübergehend eine Ernst-Toller-
und dann eine Kleiststraße, aus der Gneisenau- eine Gustav-Freytag-Straße,
nachdem mit ihr zwischenzeitlich Erich Mühsam geehrt worden war. Schon
bei den ersten administrativen Namenswechseln Mitte der vierziger und
Anfang der fünfziger Jahre deutet sich eine Tendenz an, die später zur
offenkundigen Grundregel der Benennungen (insbesondere der neuen Siedlungsgebiete)
wurde: Sie sollten politisch-ideologisch neutral sein. Benannt wurde zumeist
nach dem Prinzip des "Namenbündels", einer bundesrepublikanischen Entsprechung
des "DDR-Namensfeldes": Arzt-, Philosophen-, Blumen-, Baum- und Tierviertel
bestimmten die symbolisch mentale Topographie der rasch wachsenden Stadt.
Bezeichnend ist die Mitteilung aus einer Ratssitzung im Juni 1955: "Für
die auf dem Südhang des Klieversberges geplanten Straßen sind die Namen
von namhaften Ärzten in Aussicht genommen worden [...] Hufeland-Straße,
Röntgen-Straße, Sebastian-Kneipp-Straße, Helmholtz-Straße, Rudolf-Virchow-Straße,
Ferdinand-Sauerbruch-Straße, Ernst-von-Bergmann-Straße sowie August-Bier-Weg,
Paracelsus-Weg und Albert-Schweitzer-Weg. [...] Schließlich werden die
im Reichinger Bezirk vorhandenen "BIumenwege" um den Enzian- und den Gladiolen-Weg
vermehrt." (16)
Der starke Bevölkerungszuwachs in den fünfziger Jahren, der sich vor allem
auch dem Zuzug großer Gruppen von Vertriebenen und Flüchtlingen verdankte
(mehr als 50 Prozent der Neu-Wolfsburger), führte zu zahlreichen "gesamtdeutschen
Namensbündels". Aus Anlaß der Benennung der Saarstraße 1952 war darauf
hingewiesen worden, daß "Wolfsburg durch die Vielfalt der landsmannschaftlichen
Abstammung seiner Einwohner zum >Deutschland im kleinen< geworden" sei.
Mit der verkehrsmäßig wichtigen Saarstraße sollte die "enge Verbundenheit
mit der Saar" zum Ausdruck gebracht werden, ("mit jenem abgetrennten deutschen
Gebiet, das inzwischen zu einem europäischen Problem geworden ist"). (17)
An die Herkunftsgebiete der Vertriebenen wurde durch ostpreußische, schlesische
und sudetendeutsche Städtenamen erinnert. Im Stadtführer Wolfsburg 1960
hatte es geheißen: "Die Namen unserer ost- und mitteldeutschen Städte,
die wir im Stadtbild festgehalten haben, sollen nicht nur daran erinnern,
daß die Hälfte unserer Einwohner als Vertriebene und Flüchtlinge sich
durch harte Arbeit hier eine neue Heimat schuf, sondern auch bei unserer
Jugend die Erinnerung wachhalten an das größere Deutschland."
Sieht man ab von diesen deutschlandpolitischen Benennungsstrategien, die
in den Neubaugebieten vieler bundesrepublikanischer Städte gang und gäbe
waren, in Wolfsburg jedoch durch eine Vielzahl landsmannschaftlicher Organisationen
besonderes Profil hatten, dann stellt sich das Namenssystem in der VW-Stadt
insgesamt eher apolitisch-neutral dar. Dies hat seinen Grund einmal in
der symbolischen Absage an die politische Vorgeschichte der Stadt, die
auch die Namen tangiert hatte, zudem aber auch in ihrer rasanten Expansion,
die in relativ kurzer Zeit zu einem immensen Bedarf an Namen, Namensgruppen
und Namensbündeln führte. Die ostpolitischen Benennungen waren durch die
Namen, die sich auf die Reglon und auf westdeutsche Herkunftsgebiete bezogen,
ebenso relativiert wie durch die Paracelsus-, Gladiolen- oder Kleewege.
Ideologisch markant - und
zwar aus vielerlei Gründen - ist die Benennung der "Porsche-" und "Nordhoffstraße".
In ihr spiegelt sich die Gründungslogik und Aufbauemphase der Stadt; sie
bindet diese an das Staats- und Gesellschaftsverständnis der jungen Westrepublik
und ruft das "Wirtschaftswunder" in Erinnerung. Porsche und Nordhoff werden
die Namen der "Magistralen", die bestimmenden Einfluß auf Bild und Selbstverständnis
der Stadt nehmen. Die Porschestraße verbindet als repräsentative Achse
die beiden wichtigen, durch Höhendominanz sich zur Geltung bringenden
Gebäudekomplexe der Stadt: das Ost-Tor des VW-Werks und das Rathaus (und
verlängert diese Achse über das Werk durch Sichtbezug auf Schloß Wolfsburg
hin). Nach Nordhoffs Tod im Jahr 1968 wurde die Fallerslebener-Straße,
auf die die Porschestraße (heute repräsentative Fußgängerzone) an zentraler
Stelle (in der Nähe des Bahnhofs) stößt, in "Heinrich-Nordhoff-Straße"
umbenannt. Die Identität der Stadt heftet sich so an die Namen derer,
die den Volkswagen zum Symbol der Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft
machten. Das Selbstbewußtsein der Stadt wird auf diese Weise mit der bundesrepublikanischen
Geschichte verkoppelt; die Wolfsburger Straßennamen ermöglichten so Markierungen,
die für eine "Identität des Ortes" sorgen sollten, die nach Mitscherlich
Voraussetzung für die Stadt als "Heimat" waren und die - übrigens am Beispiel
Wolfsburg - erstmals in einer der frühen soziologischen Studien analysiert
worden waren. (18)
In beiden Städten waren die Straßennamen Instrumente der Beheimatung.
Mit ihnen konnte auf wirkungsvolle Weise das hergestellt werden, was der
Soziologe Heiner Treinen Anfang der sechziger Jahre als "symbolische Ortsbezogenheit"
beschrieben hatte. (19)
Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems seit 1989 bewirkte in Eisenhüttenstadt
zahlreiche Namensänderungen, die bis Mitte des Jahres 1992 zu teilweise
erregten lokalpolitischen Auseinandersetzungen führten. Dabei waren "Rückbenennungen"
(also das Anknüpfen an ehemalige Bezeichnungen) nur in dem "alten" Fürstenberg
möglich, in der nach sozialistischen Vorgaben gebauten Wohnstadt des EKO
mußten "neue" Namen gefunden werden. Die sozialistische Neugründung, für
die eine eigene topographische Semantik geschaffen worden war, ließ die
Wiederherstellung eines "präsozialistischen" Zustands nicht zu. Die Heftigkeit
des Streites um die Namen läßt vermuten, daß er stellvertretend für den
Streit um politische Vergangenheits- und Zukunftsbilder, der im raschen
Prozeß der Vereinigung nicht auf der Tagesordnung stand, ausgetragen wurde.
Im Mai 1992 wurde vom Rat der Stadt die Umbenennung von achtzehn Straßen
und Plätzen beschlossen; sie wurde am 7. / 8. Juni in der Presse
bekannt gegeben: Unter den rück- und umbenannten Straßen und Plätzen befanden
sich die den Stadtraum prägenden Achsen und Fluchtpunkte wie die Leninallee,
die in "Lindenallee" umbenannt wurde, oder der Platz der Deutsch-sowjetischen
Freundschaft, der wegen des dort errichteten Erinnerungsobelisken für
über 4 000 sowjetische Kriegsgefangene den Namen "PIatz des Gedenkens"
erhielt. Der Marx-Engels-Platz in Fürstenberg wurde zum neutralen "Marktplatz",
und der Rote Platz zum "Roßplatz". Bis auf Semmelweis und Eichendorff
wurde auf Personennamen verzichtet (bei der Wilhelmstraße in Fürstenberg
handelt es sich um eine Rückbenennung). Topographischen Namen, die sich
auf regionale oder innerörtliche Gegebenheiten beziehen, wurde der Vorrang
gegeben: Beeskower Straße, Kastanienstraße, Alte Landstraße etc. (20).
Von der Namensänderung waren etwas mehr als zehn Prozent der gesamten
Straßen-, Platz- und Ortsbezeichnungen in Eisenhüttenstadt betroffen (18
von 151 Fällen). Getilgt wurden Namen, die auf die politische Geschichte
der Sowjetunion, der DDR und die Entfaltung der kommunistischen Partei
in Deutschland bezogen waren (Leninallee, Walter -Ulbricht - Stadion,
Wilhelm - Pieck - Straße, Thälmannstraße, Klement - Gottwald - Straße
etc.). Nicht geändert wurden zahlreiche Namen, die zwar als "linkslastig"
diskutiert worden waren, sich aber im Gefüge der lokalen Namensordnung
deshalb hielten, weil sie über allgemeine geschichtskulturelle Kriterien
zu legitimieren waren: Karl -Liebknecht -, Rosa - Luxemburg -,
Fritz - Heckert - Straße oder Clara - Zetkin - Ring.
Namen dieser Art waren
zum Teil auch mit dem Hinweis auf westdeutsche Städte erhalten geblieben.
Daß der Stadt mit den neuen Namen die Identität genommen worden sei, wie
das in den heftigen Debatten nicht selten von der PDS vorgebracht wurde,
läßt sich in Anbetracht der prozentual geringen Zahl der Änderungen und
auch der Beibehaltung der prinzipiellen Namensordnung nicht behaupten.
Dennoch scheint die Vision einer sozialistischen Stadt, wie sie in den
fünfziger Jahren mit Emphase beschworen wurde, durch die Umbenennungen
in nicht geringem Maße angeschlagen, was nicht zuletzt daran liegt, daß
durch die Namensänderung der Hauptachsen und Zentralpunkte die "mental
map" der Stahlstadt durcheinandergebracht worden ist. Allerdings hatten
schon vor der Wende Lutz Niethammer und sein Befragungsteam zur "volkseigenen
Erfahrung" der Eisenhüttenstädter Stahlarbeiter einen Verlust sozialistischer
Stadtvisionen registriert und diese auch dem Bild der Stadt abgelesen.
(21)
Es gab freilich auch Umbenennungen, die sehr viel radikaler ausfielen
als die Änderungen der Straßen- und Ortsnamen. Das war insbesondere dann
der Fall, wenn Personennamen in Bezeichnungen von Erziehungsinstitutionen
getilgt wurden. Von heute siebzehn Schulen ist nur die jüngste, die nach
der Wende gegründete Pestalozzi - Schule für Geistigbehinderte,
nach einer Person benannt; alle anderen tragen numerische (Grundschule
1 - 7) oder schultypologische Bezeichnungen (Gymnasium, Realschule
1 - 2). Die Namen G. Dimitroffs, E. Weinerts, G. Eislers, W.
Lambertz', O. Grotewohls, J. Gagarins etc. wurden gestrichen - mit ihnen
auch der Name Goethes, nach dem die Realschule an der Kastanienstraße
(an der ehemaligen Philipp-Müller-Straße) bis 1991 geheißen hatte. Eine
ähnliche Entwicklung ist bei den dreißig Kindergärten, -krippen und -heimen
zu beobachten. Sie tragen heute neutrale Bezeichnungen, die sich in aller
Regel nach den Straßen und Örtlichkeiten richten, an denen sie liegen.
Einzige Ausnahme bildet das Kinderheim Ernst Thälmann an der Maxim-Gorki-Straße.
Politische Namen- und Benennungssysteme sind nicht erst ein Phänomen des
zwanzigsten Jahrhunderts (politisch motivierte Kunststädte übrigens auch
nicht). Daß Stadtplanungs- und Namenspolitik aufs Engste verflochten sind,
hat der Sprachwissenschaftler Hugo Steger in seinen breit angelegten Untersuchungen
zu institutionellen Benennungen in Planstädten der frühen Neuzeit und
des achtzehnten Jahrhunderts aufgezeigt. Städte, die aus dynastischem,
absolutistischem oder staatswirtschaftlichem Willen entstehen, übertragen
die Visionen und Projektionen ihrer Gründer nicht nur durch urbanistische
Raumstrukturen, durch Straßen-, Platz- und Blockordnungen in die reale
Lebenswelt, sondern auch durch "symbolische Orientierungssysteme", zu
denen - nach Steger - vor allem auch die Namengebung gehört, "welche zeichenhaft
ein Herrschafts- bzw. Sozialsystem mitvermittelt" (22).
Namen bieten die Möglichkeit der herrschaftssymbolisch-ideologischen Mentalitätsprägung.
Neben der "lebenspraktisch-alltäglichen und semantischen Grundaufgabe
der innerörtlichen Orientierung" erfüllen Namen in Planstädten ideologische
Funktionen, die auf einen jeweils "aktuellen staats- und herrschaftstheoretischen
Zusammenhang" verweisen. Wegen dieser jeweiligen "Aktuaiität" der planstädtischen
Namenssysteme ergeben sich politisch-ideologische Zeitgebundenheiten,
die - nach Steger - der Grund für vielfache Wechsel, Aktualisierungen
und Modifikationen (und zuweilen auch subkulturelle Umformungen) sind.
Steger kann nachweisen, daß die Benennungsmuster der Planstädte auf die
Stadterweiterungen und Großstadtbildungen des neunzehnten Jahrhunderts
übertragen worden sind und mittlerweile ein allgemein geübtes Verfahren
urbaner Namengebung sind.
Konsequenterweise zeigt die Namenspolitik in der "Zeit der Ideologien"
eine irritierende, bis heute nicht zum Stillstand gekommene Dynamik. Allein
für die ehemalige Sowjetunion hatte 1977 Charles B. Peterson etwa 350 000
Namensänderungen seit der Oktoberrevolution (und zwar nur in bezug auf
"place-names") ermittelt. Seine Untersuchung belegt, daß Systemwechsel
namenspolitische Folgen in erheblichem Umfang haben. (23)
Mit den neuen Namen soll einerseits mit Begriffen Peter Burkes (24)
- eine "soziale Amnesie", eine "Unterdrückung oder Verdrängung" von überlieferten
Gesellschafts- und Geschichtsbildern bewirkt werden, andererseits die
Vision eines neuen Gesellschaftsbildes plausibel in die alltägliche Lebenswelt
eingetragen werden. Die Amnesie zielt auf das, was Maoz Azaryahu "renaming
the past" genannt hat (25),
auf die Organisation gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit, die semantische
Neuformierung der Lebenswelt auf die von jeweils aktuellen politischen
Systemen vorgegebenen gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen.
Wolfsburg und Eisenhüttenstadt bieten mit ihren Namen und auch mit ihren
innerörtlichen Benennungssystemen Beispiele nicht nur für das ideologische
Gegeneinander der politischen Blöcke in den beiden Jahrzehnten vor und
nach 1950, sondern auch für einen "semantischen Sukzessivkontrast": In
Wolfsburg wurde aus dem Generals- ein Dichterviertel, und in Eisenhüttenstadt
wurde 1954 aus der Planstraße C, eine Bezeichnung, die bewußt gewählt
war, um das Neue, den Entwurfscharakter der sozialistischen Planung zu
akzentuieren, eine Dimitroffstraße, die 1992 in Eichendorffstraße umbenannt
wurde. Eine noch stärkere Benennungsdynamik zeigt die heutige Bahnhofstraße
in Fürstenberg, die Günter Fromm kurz nach der Wende skizziert hat: "Aufgrund
eines Beschlusses der von den Nazis dominierten Stadtverordnetenversammlung
Fürstenberg wurde die Bahnhofstraße am 23. März 1933 in Adolf-Hitler-Straße
umbenannt. Nachdem sie dann von 1945 bis 1953 wieder Bahnhofstraße hieß,
erhielt sie nach dem Tod des Generalsekretärs der KPdSU Josef Stalin im
Jahre 1953 den Namen Stalinallee. Ab 13. November 1961 trägt die Straße
wieder ihren ursprünglichen Namen. Wer in den Jahren 1931 bis November
1961 in der Bahnhofstraße wohnte, der mußte fünfmal seine Adresse im Ausweis
ändern lassen, ohne deshalb ein Möbelstück gerückt zu haben." (26)
Straße C, Dimitroffstraße, Eichendorffstraße und Adolf-Hitler-Straße,
Stalinallee - die Namen stehen in einem programmatischen Sukzessivkontrast.
Sie erweisen den Namenswechsel als eingebunden in gesellschaftliche Transformationen
und in die Abfolge politischer Konstruktionen. Denn Lebensentwürfe und
Wertsysteme, Geschichtsbilder
und Zukunftsmodelle werden nicht allein von Bauordnungen und Raumstrukturen
geprägt, sondern auch von semantischen und symbolischen Ordnungen, von
Stadt-, Straßen- und Ortsnamen.
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