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Klaus-Jörg Siegfried Die "Autostadt".
Zur Selbstbarstellung Wolfsburgs in der Nordhoff-Ära
 

Als der Krieg zu Ende ging, war die Stadt des KdF Wagens ein Torso aus Barackenlagern, halbfertigen Bauten und Stadtquartieren - Zutaten zu der riesigen Produktionsanlage des Volkswagenwerkes, das angesichts der drohenden Demontage keine Zukunft zu haben schien. Die Entscheidung der britischen Besatzungsmacht, den damaligen Rüstungsbetrieb nicht zu demontieren, sondern für die Automobilproduktion zunächst für den Armeebedarf, dann für den Markt und Export - zu nutzen, und der ansteigende Zustrom von Heimatvertriebenen (nach Abzug der Zwangsarbeiter) stellten die Weichen für das Überleben des Werkes und seiner Siedlung. In den fünfziger Jahren expandierte das Volkswagenwerk zum führenden Automobilhersteller in Europa, während sich die Werkssiedlung zu einer Stadt entwickelte, die nach den im Westen dominierenden städtebaulichen Leitbildern der Nachkriegszeit erbaut wurde.

Es versteht sich von selbst, daß dieses außergewöhnliche Wachstum mit zeitgeschichtlicher Dimension das Selbstverständnis der Stadt prägte und seinen Niederschlag in ihrer Selbstdarstellung fand. Der Prozeß der Stadtwerbung und die sich wandelnde städtische Identität bildeten die zentrale Thematik der Stadtwerbung, wie sie sich in Broschüren, Prospekten, Stadtführern und ähnlichem darstellt, und angesichts der ökonomischen Bedeutung des Volkwagenwerkes für das Wachstum der Stadt spielte auch deren Verhältnis zum Werk eine wichtige Rolle in den Werbetexten.

Drei Jahre nach Kriegsende hatte die Stadt noch wenig Anziehendes zu bieten. Den Autoren des ersten Prospekts fiel es daher schwer, Positives zu berichten. Sie wollten zwar hervorheben, wie mannigfaltig die Aufgaben in dieser jungen Stadt seien und wie sich Stadtväter und Verwaltung bemühten, der Schwierigkeiten mit Erfolg Herr zu werden, aber die Liste der kommunalen Defizite war so umfangreich, daß sich die Stadtwerbung unter der Hand in eine Negativdarstellung der Stadt verkehrte.

Was der Prospekt über Wolfsburg mitteilte, war eine nicht enden wollende Klage über die Defizite des kommunalen Gebildes, über den Mangel an städtischem Grund und Boden, der als ehemaliges NS-Vermögen noch unter treuhänderischer Verwaltung stand, über das Fehlen von Wohnraum, "von Schulgebäuden, Krankenhaus, Rathaus, Feuerwehrunterkunft und Baulichkeiten für Altersheim und Kraftverkehr. Alle diese kommunalen Einrichtungen sind provisorisch in Barackenausführung erstellt, die in absehbarer Zeit dem unaufhaltbaren Verfall ausgeliefert sind, und noch nicht einmal in dieser Provisorienform in städtischem Eigentum stehen." (1) Demgegenüber hob der Text die Leistung der Kommunalverwaltung hervor. Als erstes Ergebnis wurde mit bewegten Worten die Einweihung der Stadthalle präsentiert, die aus einem nicht mehr benötigten Raum der Stadtwerke entstanden war. "Möge sie noch den kommenden Geschlechtern von dem Aufbauwillen eines geschlagenen Volkes künden. Es ist der Wunsch des Rates, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes eine Halle der Stadt werde. Mögen alle Einwohner hier ihre Meinungen zum Segen der gesamten Bevölkerung austauschen und in kulturellen Veranstaltungen Erbauung finden, welche Zeugnis ablegen sollen von den geistigen Werten der Menschheit und von den guten Kräften in einer vorwärtsstrebenden Stadt."

Dieser Jubel war reichlich übertrieben, denn der Aufbau kam erst zügig voran, als im Jahre 1955 die Erstausstattung der Stadt mit Grund und Boden erfolgte. Jetzt aber war die Stadt noch ein Zwerg gegenüber dem Volkswagenwerk, das Anfang der fünfziger Jahre schon für den Export produzierte - eine Quelle des Reichtums in Form von Arbeit, Lohn, Kaufkraft und nicht zuletzt auch von Rohstoffen und Materialien für den Eigenheimbau in Schwarzarbeit. Von vornherein waren also die Weichen gestellt. Der Bereich der Wirtschaft war in Wolfsburg nicht wie in anderen Städten neben Politik, Administration, Wohnungsbau, Infrastruktur oder Kultur nur ein Segment der Stadtstruktur, das die Stadtentwicklung in Zukunft nur mittelbar beeinflussen würde. Vielmehr stand fest: Das Volkswagenwerk war eine übermächtige Instanz, von der das Wohl und Wehe der Stadt abhängig war.

So wurde das Werk denn auch als "Industriegigant", als "Segenspender", als "Kraftzen
trum der deutschen Wirtschaft", glorifiziert, von dem die Stadt die Prädikate ihrer eigenen Vorzüge ableitete und sich selbst als "einmalig interessante Volkswagenstadt", als "Stadt mit der größten Automobilfabrik Europas - die Stadt des deutschen Volkswagens", als "eine der weltbekannten Stätten moderner industrieller Massenfabrikation", als "Volkswagen-Stadt - Geburtsstätte des Volkswagens" (2) darstellte. Selbst die Wolfsburger Eisenwerbung vermochte das rudimentäre Gebilde nur mit dem Slogan "Stadt aus der Retorte" (3) zu charakterisieren. Aus der Sicht des Volkswagenwerkes hieß es gar: "Jawohl - dieses Gemeinwesen ist eine wirkliche Werkssiedlung; aber eine solche im besten Sinne des Wortes und mit vielen hoffnungsvollen Zügen einer echten Stadt! Wollte man die Vaterstadt des Volkswagens leugnen, die nährende Mutterbrust des Werks stolz abweisen: welch kümmerliche Reste dieser Stadt wären dann überhaupt noch vegetationsfähig?" (4) Das Verdikt galt der architektonischen Gestalt der Stadt und dem desolaten Zustand ihrer Infrastruktur. Um die Bevölkerung stand es nicht besser. Nach der Rückkehr der Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer füllten sich die Barackenlager und die wenigen vor und im Krieg noch fertiggestellten Stadtquartiere rasch mit Heimatvertriebenen und entlassenen deutschen Kriegsgefangenen. Auch wenn sie Arbeit im Werk, schließlich auch eine Wohnung fanden und die wirtschaftliche Perspektive mit dem Aufschwung der Produktion immer besser wurde, entstand aus den zugewanderten Gruppen nur allmählich eine Stadtbevölkerung mit einem spezifisch Wolfsburger Zusammengehörigkeitsgefühl. Behindert durch ein weitläufiges Stadtgebiet, durch den Schichtrhythmus und Ressentiments gegenüber Nachbarn aus anderen Herkunftsregionen, konnten sich die sozialen Kontakte in den fünfziger Jahren nur langsam entwickeln. Zudem reproduzierte sich die Statushierarchie des Werks im Wohnbereich und behinderte die persönlichen Beziehungen in Verwandtschaft und Nachbarschaft. Offensichtlich erschwerten die soziale Monostruktur und die Herkunftsheterogenität, die noch durch die desintegrierende Programmatik der Landsmannschaften verschärft wurde (5), die soziale Verflechtung in Wolfsburg, die deswegen hier in den fünfziger Jahren noch weit unter dem Integrationsgrad anderer Städte mit differenzierterer Sozialstruktur lag. (6)

So war denn auch die Bevölkerung selbst kein Thema, sondern ausschließlich Adressat der Stadtwerbung. Und sie konzentrierte sich hierbei auf jenen beeindruckenden Wachstumsprozeß, der die Werks- und Barackensiedlung in eine Stadt zu transformieren schien.

Das Jahr 1955 bildete den Wendepunkt der Stadtentwicklung: Wolfsburg erhielt durch den Erstausstattungsvertrag Grund und Boden; Peter Koller, der die Stadt 1938 auf dem Reißbrett entworfen hatte, wurde Stadtbaurat; das Volkswagenwerk produzierte den millionsten "Käfer"; Heinrich Nordhoff wurde Ehrenbürger der Stadt. Der Aufstieg des Volkswagenwerkes zum größten Automobilhersteller in Europa, die Eroberung des Weltmarktes durch den Volkswagen, der zum Kultursymbol der "Wirtschaftswunderzeit" wurde, ließen die Beschäftigten- und Einwohnerzahlen explodieren und verliehen dem Aufbau der Stadt mächtige Impulse. Koller vollendete das im Kriege gescheiterte städtebauliche Konzept, indem er einen Kranz von Stadtteilen im Grünen errichtete und so das herrschende städtebauliche Leitbild der jungen Bundesrepublik - die "gegliederte und aufgelockerte Stadt" - in Reinformat errichtete, komplettiert durch eine reiche Infrastruktur und gekrönt durch Bauten international renommierter Architekten wie Alvar Aalto und Hans Scharoun. (7)

Für die Wolfsburger war dieser Aufbau ihrer neuen Stadt innerhalb von zehn Jahren in der Tat von großer Bedeutung. Der Umzug aus der Baracke in eine Wohnung im Grünen mit guter Verkehrsanbindung zum Beispiel an Kindergarten, Schule, Einkaufszentrum oder Arztpraxis wurde ebenso hoch geschätzt (8) wie der überdurchschnittlich entlohnte Arbeitsplatz im Volkswagenwerk und der erste eigene "Käfer".

Die Stadtwerbung übertrieb zwar wie üblich, knüpfte aber an diese soziale Erfahrung an, wenn es in einem Prospekt hieß: "Jeder Bürger [...] ist stolz darauf, >Wolfsburger< zu sein. Freude und Dankbarkeit erfüllt ihn, wenn er erlebt, wie ganze Stadtteile aus dem Boden gestampft werden, wie modernste, sonnendurchflutete Schulen für seine Kinder fast wie am Fließband entstehen, wie die Kulturstätten sich mehren, Kirchen gegen den Himmel emporwachsen und Wolfsburg zu einer der schönsten Städte werden läßt im Zeichen des VW." (9)

Der Fließbandvergleich verriet freilich eher eine funktionalistische Sicht der Stadt. Sie wurde
ausschließlich als Architekturgebilde dargestellt, komplettiert allerdings durch Natur, die als weiterer Vorzug der neuen Stadt hervorgehoben wurde: "Wolfsburg - Stadtlandschaft auf, zwischen und vor der bewaldeten Hügelkette - ist an Formen und Farben der Natur ebenso reich wie an modernen Akzenten in der Architektur seiner Wohngebiete, der öffentlichen Gebäude und der Straßen. Das Gesamtbild ist bei aller Strenge und Eigenart freundlich und reizvoll. Die Bevölkerung erweist sich als stark naturverbunden". (10)

Dem städtebaulichen Funktionalismus - der Trennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit, Verkehr - entsprach der architektonische Funktionalismus, die Zweckmäßigkeit der Bauten. Sehr wohl sahen die Stadtväter die Gefahr ihrer Reduktion auf ökonomische Zweckmäßigkeit, das heißt, auf wirtschaftliche Rentabilität des Bauens. Diesem Trend stellten sie die Architektur öffentlicher Bauten entgegen. So verstand Titus Taeschner, der Architekt des 1958 eingeweihten Rathauses, dessen Funktionalität im Sinne einer politischen Symbolik: "Unsere politische Situation ist die Demokratie, das bedeutet unter anderem Gewaltentrennung in Rechtssprechung, Gesetzgebung und Verwaltung. So reihen sich, klar voneinander getrennt, an das Amtsgericht der Ratssitzungssaalblock und das Bürohochhaus des Rathauses. Beide werden miteinander verbunden mit einem Trakt, in dem sich die gemeinsamen Konferenzräume und die Dienstzimmer von Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor befinden. Hier ist das Gelenk der beiden Organe. Nur eine zarte Glasmembrane trennt diesen Repäsentationstrakt, in dem die entscheidenden Verhandlungen, Besprechungen und Beratungen geführt werden, von der Außenwelt. Sie zeigt die innere Empfindsamkeit und Empfänglichkeit für das Stadtgeschehen, für die Einflüsse von außen. Zugleich gewährt sie einen übersichtlichen Einblick in das Innere, in die Bürgerhalle, und soll so dem Wolfsburger Bürger sein Ratbaus nahe bringen". (11)

Bei dem Bau des 1958 geplanten und 1962 eröffneten Kulturzentrums ließ sich der Architekt Alvar Aalto von dem Leitbild eines "humanen Rationalismus leiten, das heißt von dem Versuch, die Welt der Materie in Einklang mit dem Menschenleben zu bringen [...]. Arbeit an den Maschinen und das industrielle Leben hat als Negativum die Gefahr der Monotonie ohne genügende Variationen. Das neue Haus soll Gegengewicht bilden, aber auch als ein repräsentativer Bau das Stadtbild bestimmen." (12) In diesem Sinne wurden die Funktionen Jugendfreizeitheim, Volkshochschule und Stadtbibliothek im Kulturzentrum zusammengefaßt und zu einem ganzheitlichen Kulturkomplex gestaltet.

Die industrielle Bauweise führte in die Waldsiedlungen der fünfziger und sechziger Jahre Uniformität ein und erschwerte die Identifikation mit dem Wohnquartier, während die Auflösung der geschlossenen Bebauung durch die Zeilen- und Hochhaushauten die Isolierung der Stadtbewohner begünstigte, die freilich den städtebaulichen Funktionalismus in dieser Zeit durchaus noch als soziale Errungenschaft im Sinne eines komfortablen und zweckmäßigen Wohnens nach Flucht und Barackendasein empfanden.

Gegen Ende der sechziger Jahre war die neue Nachkriegsstadt Wolfsburg in ihrem Kern vollendet. Das offizielle Selbstverständnis der Stadt war nun nicht mehr durch devote Anbetung des "Kraftgiganten" Volkswagenwerk geprägt. Selbstbewußt präsentierte sich die Stadt als ein "nach modernen Grundsätzen organisiertes Gemeinwesen", erfüllt von "Bürgersinn und Bürgerstolz" (13). Ihr Ehrenbürger, Heinrich Nordhoff, selbst mied strikt jede Überheblichkeit und definierte das Verhältnis des Volkswagenwerkes zur Stadt als "Symbiose zwischen der Stadt und einem Industrieunternehmen" (14), was freilich nur bedeutete, daß die Stadt an Eigengewicht gewonnen hatte, vom Volkswagenwerk als Partner akzeptiert wurde, aber keineswegs ein eigenständiges kommunales Gebilde darstellte. Nordhoff unterschied zwar zwischen Angelegenheiten der Stadt und des Werkes, stellte aber klar, Wolfsburg sei nichts anderes als eine "Arbeiterstadt ohne Romantik, ohne falsches Pathos, eine Stadt von und für Arbeiter, die etwas schaffen, das noch immer ohne Beispiel und Vergleich ist" (15). Die soziale Monostruktur, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Stadt vom Werk, dessen Einflußnahme auf kommunalpolitische Entscheidungen (16) und die Überformung des städtischen Lebens durch den Arbeits- und Schichtrhythmus des Volkswagenwerkes (17) ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß Mitte der sechziger Jahre Wolfsburg noch längst nicht den Differenzierungsgrad anderer Städte erreicht hatte, also immer noch eine reine "Autostadt" oder die "Stadt des Volkswagens" geblieben war und damit einen Sonderfall in der deutschen Städtelandschaft darstellte.

Das offizielle Selbstverständnis der Stadt spiegelte daher auch weitgehend die Idolwirkung von Ferdinand Porsche und Heinrich Nordhoff wider. Beide standen für zeitgeschichtliche Dimensionen der Volkswagenstadt. Porsche wurde nicht nur durch die Traktate der Stadtwerbung, sondern auch durch eine Flut populärer Literatur (vom Autofachbuch über den Roman zum Kinderbuch) als "Genius einer Zeit, die der Technik huldigt, und Konstrukteur des deutschen Volkswagens" (18) gefeiert. Weiter hieß es im Handbuch der Wolfsburger Wirtschaft: "Das reifste Werk dieses Mannes zog etwas Ungewöhnliches mit sich: Die Gründung einer neuen Stadt! Und damit ward er zum Schöpfer im zweifachen Sinne." So wurde die zentrale Einkaufsstraße "Porschestraße" und die an ihr gelegene Realschule "Ferdinand-Porsche-Realschule" genannt. Hinzu kam das "Porsche-Stadion". Übertroffen aber wurde die Idolwirkung Porsches noch durch die Heinrich
Nordhoffs, der das durch Krieg und Rüstungsproduktion gescheiterte Projekt des KdF-Wagens im Zeichen des "Wirtschaftswunders" zum Erfolg führte und selbst zur Symbolfigur für Fleiß, Wohlstand und die wiedergewonnene Weltgeltung Deutschlands wurde. "Das Volkswagenwerk ist kein Kind der Konjunktur, kein Liebling des Wirtschaftswunders. Wolfsburg ist die Genieleistung von Arbeits- und Wirtschaftsorganisatoren, von einem Heer vorzüglicher Techniker und Werkmänner, an deren Spitze Professor Dr.-lng. Nordhoff steht. Dieser Ingenieur und Wirtschaftsführer ist erster und bisher einziger Ehrenbürger Wolfsburgs, ein treusorgender Vater seiner riesigen Familie, die in menschenmöglicher Eintracht zusammensteht, im Werk wie in der Stadt." (19) Keineswegs war diese Einschätzung nur die Übertreibung einer sich überschlagenden Stadtwerbung tatsächlich wurde Nordhoff in der Bevölkerung als "Faktor des Guten und des Bösen", als letzte Instanz aller kommunalen Willensbildung verstanden, war den Bewohnern der Volkswagenstadt als "General", "Ehrenbürger", "der große Meister", "der Papst von Wolfsburg", "der Kaiser bzw. König von Wolfsburg", "der kleine Gott" im Bewußtsein präsent. (20) Auch ein solcher Konsens begründete die Sonderstellung der Volkswagenstadt in der Städtelandschaft. Von dem kontroversen Bild der öffentlichen Meinung einer sozial differenzierten Stadtbevölkerung hob sich in der "Wirtschaftswunder"- und "Volkswagenstadt" die kollektive Verehrung einer Autorität ab, der Belegschaft und Bürgerschaft in tiefer Dankbarkeit allen technischen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zuzurechnen schienen.

Diese Widerspiegelung der eigenen Vorstellungen und Hoffnungen in seiner Person stützte der Autokönig selbst, indem er den Erfolg als das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen deklarierte. Typisch war in dieser Hinsicht seine Rede am 1. Juli 1963 zum 25. Gründungstag der Stadt Wolfsburg. "Ich glaube, daß dieses ein Tag ist, allen denen, die von den höchsten Regierungsstellen bis zum namenlosen Arbeiter in jenen Jahren noch ungestört durch die Probleme des Wohlergehens in härtester, nie ermüdender Arbeit wieder menschenwürdige Lebensbedingungen für unser Volk schufen, unseren tiefempfundenen Dank auszusprechen." (21)

Nordhoff griff damit auch ein weiteres Motiv auf, das seit den frühen fünfziger Jahren durchgehender Tenor der Stadtwerbung gewesen war: das Lob der Arbeit, des Fleißes, der heroischen Hingabe an die Pflicht. Nur wenig unterschieden von der vor 1945 üblichen Begrifflichkeit, priesen die Werbetexte die "Männer mit Willen und Charakter, sprachen von menschlicher Schöpferkraft und schwärmten von den besten Kräften der Tüchtigen" (22).

Schlagzeilen des Handbuches der Wolfsburger Wirtschaft lauteten: "Lebendige Zahlen berichten von der großen Schaffensstätte unserer Heimat. Das Volkswagenwerk in Wolfsburg Kraftzentrum der deutschen Wirtschaft. Im Mittelpunkt der Arbeit des Volkswagenwerkes steht der schaffende Mensch. Das Volkswagenwerk in Wolfsburg - Vorbild und Beispiel für Sozialismus der Tat." (23) Solche Parolen mochten noch das Echo auf die rechtsradikalen Trends in Werk und Stadt sein, die 1948 ihren Höhepunkt erreicht hatten. (24) Aber auch nach der Angleichung der politischen Verhältnisse an den bundesdeutschen Durchschnitt war immer noch vom "Hohelied der Arbeit von mehr als 35 000 Schaffenden im Volkswagenwerk" (25) die Rede, blieben "Tüchtigkeit und Aufbauwille", der Stolz auf das Erreichte häufig gebrauchte Formeln in den Werbebroschüren.

Das rapide Wachstum der Produktion und der Stadt als Ergebnis des proklamierten Leistungswillens war denn auch das weitere Hauptmotiv der Stadtwerbung. "In wenigen Wochen wird die Stadt Wolfsburg 20 Jahre alt. Eine moderne Industriestadt mit 50 000 Einwohnern ist entstanden. Über 11 000 Wohnungen sind seit 1945 gebaut worden. 63 km Straßen wurden angelegt. Viele für eine Stadt wichtige Einrichtungen, darunter 11 Schulen, Kirchen, ein großes Krankenhaus, Sportanlagen, Altersheime und Kindergärten wurden geschaffen." (26) So und ähnlich registrierten die amtlichen Broschüren Jahr für Jahr die sprunghafte Entwicklung.

Der Blick war nach vorn gerichtet. Die Geschichte schrumpfte auf Aktualität zusammen. "Wie andere Städte stolz auf ihre Vergangenheit
sind, ist Wolfsburg stolz auf seine Gegenwart." (27) Fraglos wurde dem Alter anderer Städte das Neue der expandierenden Volkswagenstadt entgegengesetzt. Hier brauchte und wollte man auch nicht auf historische Verläufe, Traditionen, Wertvorstellungen, auf überkommene Bauformen und -stile Rücksicht zu nehmen. Ungehemmt machte zum Beispiel die Verkehrsplanung der sechziger Jahre das alte Dorf Heßlingen nieder, das - auf dem Areal der KdF-Stadt liegend - unversehrt Krieg und Nachkriegszeit überdauert hatte. Geschichte als Reflexionspotential gab es in der "Volkswagenstadt" nicht, oder es wurde, sofern sich dieses auf die NS-Zeit bezog, entschieden aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt.

Das galt für die Rüstungssproduktion des Volkswagenwerks ebenso wie für die exponierte Rolle Ferdinand Porsches in der NS-Kriegswirtschaft und sein Engagement bei der Rekrutierung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen. (28) Die ethischen Maßstäbe, die man aus der Offenlegung dieser Phase der Stadtgeschichte hätte gewinnen können, standen öffentlich nicht zur Debatte und relativierten daher auch nicht die aktuelle Technik- und Wachstumseuphorie. Vielmehr wurde aus ihrer Sicht die NS-Vergangenheit der Stadt und des Volkswagenwerkes schöngeschrieben - danach "gehörte dieses Werk mit zu dem Großartigsten, das der Mensch des technischen Zeitalters hervorgebracht hatte und fand bei Freund und Feind ungeteilte Bewunderung" (29). Der Begriff der Geschichte wurde in den Werbetexten überhaupt nur auf das Schloß bezogen, dessen historische Aura der emotionalen Kompensation
der technisch-funktionalen Rationalität dienen sollte, die das Stadtgebiet beherrschte. Mit der "Volkswagenstadt" selbst hatte diese historische Dimension nichts zu tun. Sie war nur ein Ornament, das die Stadtwerbung verwandte, um den Makel der Geschichtslosigkeit zu verdecken.

Leistung Wachstum - Erfolg: Nach dieser Logik vollzog sich für die Stadtwerbung die Stadtentwicklung bis Ende der sechziger Jahre, und tatsächlich war das eindimensionale Wachstum der "Volkswagenstadt" kaum mit dem widersprüchlichen Entwicklungsprozeß von Städten zu vergleichen, die eine komplexe soziale Struktur aufwiesen. In immer neuen Wendungen suchten die Stadtbroschüren den Stolz auf die neue Heimat zu begründen und das Selbstbewußtsein der Wolfsburger zu stärken. Das Werk "ein Automobil-Gigant" oder "Werksgigant", Wolfsburg - "eine einmalig interessante Autostadt", "modernste Stadt Deutschlands", "Stadt ohne Beispiel", "eine der schönsten Städte des Kontinents".

Wichtig war die internationale Dimension der Selbstdarstellung. Daß der Exporterfolg des "Käfer" Deutschland wieder Weltgeltung verschafft hatte, war ein wesentliches Element der städtischen Werbestrategie. Die "weltweite Bedeutung von Werk und Stadt" beschworen die Werbetexte unablässig, und dasselbe galt auch für den Volkswagen. "Die ganze Welt huldigt diesem Produkt bester Werkmannsarbeit", und: "Die Menschen leisten im Volkswagenwerk eine Arbeit, vor der die ganze Welt den Hut zieht." Damit war die Formel gefunden, die die zeithistorische Rolle der Stadt auf ihren Begriff brachte. Die Wolfsburger erarbeiteten sich wachsenden Wohlstand durch ein Produkt, das zum Symbol für den wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik und die wiedergewonnene Weltgeltung Deutschlands wurde.Im Modellcharakter der "Volkswagenstadt" lag ihre besonderer Werbewert begründet.

Sicherlich galt dies nicht dafür, daß der Volkswagen auch ein Beleg für die Kontinuität technisch-wirtschaftlicher Strukturen der NS-Zeit war. Aber der "Käfer" stand ebenso für den Neuanfang der Flüchtlinge in Westdeutschland, für harte Arbeit und karges Leben in der Nachkriegszeit, für soziale Verantwortung gegenüber Produktion und Betrieb, für Leistungsstreben, Aufstiegsorientierung und wachsendes Einkommen der Arbeiterschaft. Er stand für Mobilität und individuelle Freiheit in der westlichen Gesellschaft, und er prägte das städtebauliche Leitbild der autogerechten Stadt, in der ein großzügiges Verkehrsnetz die dezentralen Stadtteile im Grünen miteinander verband.

In keiner anderen Stadt waren diese Aspekte des deutschen "Wirtschaftswunders" so ausgeprägt wie in der "Volkswagenstadt", und sie waren es nur, weil sich hier die Komplexität städtischer Lebensformen auf wenige singuläre Faktoren der Stadtstruktur und -entwicklung reduzierte. Beherrschende Dominanz eines Großbetriebes und der industriellen Arbeit, städtebaulicher Funktionalismus, technischer Fortschrittsglaube und Wachstumseuphorie als Triebfedern kommunaler Willensbildung und Entwicklung - die Stadtwerbung stilisierte diese Besonderheiten Wolfsburgs zum Entwurf einer "Autostadt" hoch, der im Zeichen der wirtschaftlichen Expansion nach außen als Vorbild wirken und nach innen Identität stiften sollte, das heißt, den Wolfsburgern die weltweite Anerkennung ihrer Leistung glaubhaft zu machen versuchte.

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  Anmerkungen
1 Stadt Wolfsburg (Hg.): Wolfsburg. Die junge Stadt, 1948.
2 Vgl. Stadt Wolfsburg (Hg.) Wolfsburg, 1952; Stadt Wolfsburg (Hg):Handbüchher Wolfsburger Wirtschaft,1952;Wolfsburg. Die Volkswagenstadt, 1954; Wolfsburger Nachrichten (Hg.): Stadtführer Woltsburg 1955.
3 Wolfsburg. Die Volkswagenstadt (wie Anm. 2).
4 Wolfsburger Nachrichten (Hg.): Wolfsburg. Entstehung und Bedeutung, 1952.
5 Vgl. Treffen der 0st und Westpreußen am 4. Juni 1950 in der Volkswagenstadt Wolfsburg.
6

Vgl. Schwonke, Martin / Herlyn, Ulfert: Wolfsburg. Soziologische Analyse einer jungen Industriestadt, Stuttgart 1967, S. 122, 136, 184.

7 Vgl. Kautt, Dietrich: Wolfsburg im Wandel städtebaulicher Leitbilder, Braunschweig 1989, S. 197-200.
8 Vgl. Schwonke / Herlyn 1967 (wie Anm. 6), S. 161.
9 Stadtführer Wolfsburg 1955 (wie Anm 2), S. 4.
10 Ebd., S. 5.
11 Stadtverwaltung Wolfsburg (Hg.): Das Wolfsburger Rathaus, Marz 1958.
12 Stadt Wolfsburg (Hg.): Alvar Aalto. Bauten fur Wolfsburg, 1989, S. 10. u. 14.
13 Stadtführer Wolfsburg 1955 (wie Anm. 2).
14 Ebd.
15

Ansprache von Prof. Dr. Nordhoff am 1. Juli 1963 bei der Festsitzung des Rates anläßlich des 25. Gründungstages der Stadt Wolfsburg, S. 4.

16 Vgl. Hilterscheid, Hermann: Industrie und Gemeinde. Die Beziehungen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkung auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin 1970, S. 299.
17 Vgl. Schwonke / Heryn 1967 (wie Anm. 6), S.48.
18 Handbuch 1952 (wie Anm. 2), S. 9
19 Wolfsburger Nachrichten (Hg.): Stadtführer Wolfsburg, 1960, S.4.
20 Schwonke / Herlyn 1967 (wie Anm. 6), S.45.
21 Nordhoff (wie Anm.15), S. 3.
22 Handbuch 1952 (wie Anm. 2).
23 Ebd.
24 Vgl. Riechert, Udo: Neubeginn im Schatten der NS-Tyrannei. Gewerkschaften und Betriebsräte in Braunschweig und Wolfsburg in den ersten Nachkriegsjahren, Braunschweig 1987, S.228.
25 Stadtführer Wolfsburg 1960 (wie Anm.19), S.1.
26 Das Wolfsburger Rathaus 1958 (wie Anm.11), S 1
27 Stadtführer Wolfsburg 1955 (wie Anm. 9), S. 4.

28

Vgl. Siegfried, Klaus-Jörg: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1938 1945, Frankfurt / Main und New York 3. Aufl.1993, S. 58ff.
29 29 Handbuch 1952 (wie Anm. 2), S.10f.
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