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"Ich lebte im zeitigen Frühjahr
(etwa Februar / März 1953) als junger Maurer in einer Barackensiedlung
neben dem großen Stahlwerk, dessen Hochöfen größtenteils schon in Betrieb
waren. Wir hatten die Aufgabe, für eine paramilitärische Organisation
namens "Dienst für Deutschland" Unterkünfte zu bauen. Diese Organisation
war ziemlich genau dem Reichsarbeitsdienst der Nazis nachempfunden, hinsichtlich
der Organisationsstruktur, Dienstgradbezeichnungen, Uniformen und Aufgaben.
[...] >Dienst für Deutschland< war ein Sammelbecken für unschlüssige
Jugendliche, die den Grundschulabschluß nicht geschafft hatten oder während
der Berufsausbildung gescheitert waren. Sie wurden vor allem für Erdarbeiten
eingesetzt, denn Bagger und ähnliche Geräte waren rar. [...]
Unser Leben pendelte zwischen den überbelegten Wohnbaracken und den weit
verstreut im armselig-schütteren Kiefernwald liegenden Baustellen hin
und her. [...] Direkt nach Stalinstadt kamen wir nur einmal, um einen
erkrankten Kollegen im dortigen Krankenhaus zu besuchen. Die werdende
Stadt machte auf mich einen sehr unpersönlichen sterilen Eindruck, mit
ihren hellen langen Häuserfluchten. [...]
Wir hielten uns mehr im Nachbarstädtchen Fürstenberg auf. [...] Es herrschte
eine Art Faustrecht, und zwischen den Oderschiffern, den Bauleuten und
den Leuten vom >Dienst für Deutschland< (an Stahlarbeiter kann ich
mich in diesem Zusammenhang nicht erinnern) kam es häufig zu blutigen
Schlägereien. Wir Bauleute gingen nur in größeren Gruppen gemeinsam aus,
als Einzelner hatte man keine Chance. [...] Da sich unter uns viele ehemalige
Kriegsteilnehmer befanden, dauerte es meistens nicht lange, bis alte Wehrmachtslieder
mitten auf den abendlichen Straßen von Fürstenberg erschallten - in anderen
Gegenden der DDR ein Unding! Doppelposten der VP, die Streife gingen,
wechselten die Straßenseite, schauten interessiert in die spärlichen Auslagen
der wenigen Geschäfte oder verzogen sich gar in eine Nebengasse, wenn
so ein grölender Haufen daherkam. Im >Goldenen Anker< angekommen,
gab es oft Streitigkeiten, weil zu wenig Plätze für die vielen unterschiedlichen
Gäste und auch zu wenig Damen zum Tanzen vorhanden waren. Oftmals endeten
solche >Vergnügungen< mit Massenschlägereien, in die - soweit ich
mich erinnern kann - niemals die Polizei eingegriffen hat." (1)
Nicht zuletzt gegen diese Wirklichkeit beim Aufbau von Stadt und Werk
an der "Oder-Neiße-Friedensgrenze" stellte die SED die Formel:
"Erste sozialistische Stadt Deutschlands". Was damit gemeint
war - zumindest die wesentlichen Seiten -, erklärte Walter Ulbricht in
seiner Rede am 7. Mai 1953, als die Wohnstadt des EKO den Namen Stalinstadt
erhielt, vor der aus einem weiten Umkreis zusammengeholten Bevölkerung:
"Der weise Stalin, der große Baumeister des Sozialismus, lehrte uns, daß
wir besondere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Städte in den Industriegebieten
richten sollen, damit ihre Städte zu wirklichen Zentren des politischen
und wirtschaftlichen Lebens werden. [...] Nur unter der Voraussetzung
des Bestehens der Volksmacht ist es möglich, solche sozialistischen Städte
zu bauen, wie das die erste sozialistische Stadt des Eisenhüttenkombinats
ist. Städte des arbeitenden Volkes, Städte, wo es keine Elendsviertel,
in denen es keine kapitalistischen Ausbeuter gibt, Städte, in denen kein
Platz ist für kapitalistische Schieber, Städte, wo es keine bürgerlichen
kapitalistischen Verdummungseinrichtungen gibt. [...] Stalinstadt wird
die erste Stadt der Deutschen Demokratischen Republik sein, in der es
keinerlei kapitalistische Betriebe gibt, auch keine kapitalistischen Händler.
Die Versorgung der Stadt und der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs,
die nicht durch die HO oder die Konsumgenossenschaft möglich ist, wird
durch die Genossenschaften der Handwerker erfolgen. Diese Stadt kann in
jeder Hinsicht eine sozialistische Stadt werden." (2)
So offen wie die Verdammung der Kirchen - denn diese und nichts anderes
waren mit "kapitalistischen Verdummungseinrichtungen" gemeint - wurden
nicht alle Ulbrichtschen Vorgaben für die erste sozialistische Stadt propagiert.
Über Kleingärten zum Beispiel verständigte man sich nur intern: "Der
Kleingarten in der Form, die wir kennen, als ein Produkt der Widersprüche
des Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche, hat
keine Daseinsberechtigung in der sozialistischen Stadt!" (3),
hieß es in einem Papier der Deutschen Bauakademie aus dem Jahre 1952.
Doch diese Auffassung ließ sich auf die Dauer genausowenig durchhalten
wie der Bann über die Kirchen. (4)
Das Leben war, wie so oft in der DDR, stärker: Die Stalinstädter traten
bestehenden Kleingartensparten in Fürstenberg bei, das heißt, außerhalb
ihres Stadtgebietes. Oder sie pachteten in den Diehloer Bergen, also direkt
vor den Toren von Stalinstadt, Land, das Schönfließer Bauern gehörte.
1959 mußten die Ideologen endgültig kapitulieren und auch in Stalinstadt
Kleingärten zulassen.
Aber ansonsten konnten sich viele Vorstellungen Ulbrichts, von der Stadt
ohne Elendsviertel bis hin zum fehlenden privaten Handwerk und Handel,
durchsetzen - nicht zuletzt durch ihr erfolgreiches Propagieren. Wichtigstes
Instrument dabei war, vor allem in den ersten Jahren, die "Abteilung Produktionspropaganda"
des EKO, die von der Werkleitung und der SED-Kreisleitung die inhaltlichen
Vorgaben erhielt und monatlich an sechs bis sieben Stellen des Werkes
großflächige Plakatwände bemalte. (5)
Gedruckte Materialien zur Selbstdarstellung von Stalinstadt gab es hingegen
- wenn man von den hektographierten Statistischen Taschenbüchern absieht
- erst ab 1957 (6)
(Selbst Postkarten scheinen nicht wesentlich früher hergestellt worden
zu sein.) Ein Jahr später erschien ein großer Prachtband, der in seiner
Sprache ungewöhnlich ist. Dieses Buch bietet - für DDR-Maßstäbe - weitgehend
unverkrampftes Stadtmarketing. Dafür zwei Beispiele: "Wer gut arbeitet,
soll auch gut essen. Brot gibt es in Stalinstadt genug, ja, mit ihren
modernen Maschinen werden die Bäcker bald noch mehr erzeugen als zur Zeit;
denn so ist es geplant. Aber der Hüttenwerker ist wohlhabend. Er schätzt
auch die Erzeugnisse der hohen Konditorkunst." Und zweitens: "Die Handwerker-Produktionsgenossenschaft
und ihren verschiedenen Gewerken geht es gut, denn die Kasse stimmt immer,
und Konkurrenzsorgen gibt es nicht." (7)
Zwei Jahre später feierte man an der Oder das zehnjährige Bestehen von
Werk und Stadt. Nach Jochen Czerny ist dieses Jahr "der Höhepunkt in der
Stadtgeschichte überhaupt" gewesen. (8)
Die wichtigste Publikation, "Stalinstadt" von Harry Hofmann und Ernst
Oldenburg, fiel jedoch gegenüber dem Band von 1958 stark ab. Viele Kommentare
zu den Photos atmen den Geist der Ulbricht-Rede von 1953: "Mit dem neuen
Kombinat entstand die erste sozialistische Stadt Deutschlands mit hellen
lichten Wohnungen für die Roten Hochöfner." - "Die Straßen unserer Stadt
tragen die Namen der besten Söhne der Arbeiterklasse.
Die rote Ecke in der Karl-MarxStraße." (9)
Doch zugleich finden sich hier erstmals alle Elemente die bis 1989 die
Selbstdarstellung der Stadt ausmachten: "Hinterhöfe kennt man nicht."
- "So jung wie die Stadt sind ihre Bewohner." "Weit ins Land grüßen die
Hochöfen unsere polnischen Nachbarn." - "Moderne Geschäfte gehören zum
Bilde der Stadt." - "Sonnige Balkons in ganz Stalinstadt."
Nach der Umbenennung in Eisenhüttenstadt verschwand lediglich der Topos
"Erste sozialistische Stadt Deutschlands". (In gedruckten Materialien
war er schon zuvor überraschend selten verwendet worden. (10))
So wie der Name der Stadt entpolitisiert wurde, geschah es auch mit ihrem
Motto. Nun lautete es: "Eine junge Stadt an einem alten Fluß". Seit 1964
wurden Broschüren dieses Titels vom Rat der Stadt Eisenhüttenstadt in
deutscher und russischer Sprache herausgegeben. Aber sie erschienen auch
in englischer und französischer Fassung.
"Eisenhüttenstadt. Young Town on an Old River" und "Eisenhüttenstadt.
Ville jeune au bord d un vieux fleuve" wurden vor allem für Besucher aus
der Dritten Welt produziert. (11)
Daneben zielten sie jedoch auch nach innen. Den politisch-ideologisch
gebeutelten Bewohnern der - ursprünglich als Musterstadt des deutschen
Stalinismus geplanten - Ansiedlung an der Oder signalisierten sie nach
den Aufbaujahren eine neue Normalität. "Normaler" wurde das Verhältnis
der Bewohner zu ihrer Stadt auf jeden Fall - nichts zeigt das augenfälliger
als das in die Alltagssprache eingegangene liebevoll-ironische "Hütte"
anstelle des umständlichen "Eisenhüttenstadt". Das zynische "Schrott-Gorod"
(12) hingegen
spiegelt die Stimmung der jetzigen Zeit wider.
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