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Als 1958 im Verlag Volk und
Welt llja Ehrenburgs Roman "Der zweite Tag" zum zweiten Mal in einer deutschen
Fassung erschien, zeichnete sich in Stalinstadt das Modell einer sozialistischen
Mustersiedlung schon in deutlichen Konturen ab. Was Ehrenburg 1932 / 33
als Vision des "neuen Lebens" in einer neuen Stadt entworfen hatte - vielfach
gebrochen durch alte Lebens- und Denkweisen, die die Entstehung des Neuen
behinderten -, war in der Hochofenstadt an der Oder real zu besichtigen.
"Wo vorher nichts war, entstand eine Fabrik, rings um die Fabrik erstand
eine Stadt." (1)
Das liest sich wie die Kurzformel des Gründungsmythos von Eisenhüttenstadt,
der mit suggestiven Bildern in der DDR-Propaganda, in Wochenschauen, in
der Literatur, in der Heimatkunde beschworen wurde. Ilja Ehrenburg beschreibt
voller Optimismus, der sich nicht zuletzt auch in dem die Genesis zitierenden
Titel kund gibt (2),
Strategien zur Herstellung einer sozialistischen Heimat als Voraussetzung
für die Produk tion des >neuen Menschen<. "So baut man ein Werk.
Und so baut man auch einen Menschen" (3):
planvoll, zweckgerichtet und zielsicher.
Was Ehrenburg am Beispiel der neuen Stahl stadt Kusnezk mit ihren Stalinwerken
imaginiert hatte, ließ sich in Eisenhüttenstadt, das bei Erscheinen des
"Zweiten Tags" in der DDR schon fünf Jahre lang nach dem "größten Menschen
unserer Epoche" hieß, wie in einem Modellversuch verfolgen - an der Fabrik-
und Stadtplanung, der Wohnungs- und Symbolproduktion, aber auch an der
Herstellung von Lebensordnungen und Orientierungssystemen. Von der Namenspolitik,
die sich auf die Stadt selbst und das ihr zugehörige Straßenschema bezieht,
ist im Roman ebenso die Rede wie von neuen Glaubensvorstellungen und neuen
Fest- und Ritualangeboten: Der 1. Mai figuriert als "sozialistisches Ostern",
an dem die Auferstehung des neuen Menschen gefeiert wird, und der fünfzackige
Stern wird als Ersatz für Grabkreuze auf dem Friedhof propagiert.
Bevor die Stadt am neuen Grenzfluß gebaut wurde und einen Namen brauchte
(den sie offiziell erst 1953 erhielt), hieß sie nach dem Werk - und dieses
hieß zunächst "Eisenhüttenkombinat Ost" (EKO), später "Eisenhüttenkombinat
J. W. Stalin" (EKS) -, woraus im Mai 1953 Stalinstadt wurde. Wie in Ehrenburgs
Kusnezk-Parabel erscheinen auch an der Oder die Hochöfen als neue Kathedralen.
"[...] rings um die Fabrik erstand eine Stadt, so wie sich einst rings
um die vom Volk verehrten Kathedralen Städte gebildet hatten." (4)
Die Stadt, die entsteht, vom Architekten Kurt W. Leucht und seinem Stab
entworfen und gebaut, wird mit dem Werk durch eine Achse verbunden, die
als Magistrale gestaltet und dekoriert werden sollte. Sie trug den Namen
Lenins und war ein Ort, der nicht nur dem Verkehr, dem Transport und der
Versorgung, sondern auch der Erziehung und der Sinnproduktion diente.
Ein geplantes Torgebäude, das Fabrik und Freizeit, allgemeiner: Bau und
Überbau zugleich trennen und verbinden sollte, wurde nie in Stein,
Stahl oder Beton ausgeführt, sondern nur als Provisorium, als "Friedenstor"
für die Feierlichkeiten bei der Namengebung im Mai 1953. Die qua ephemerer
Festarchitektur vollzogene Markierung der Verbindung von Werk und Wohnstadt
machte deutlich, daß "der Neuaufbau unserer Heimat" - gemäß einer Forderung
Ulbrichts auf dem lll. Parteitag 1950 (demselben, auf dem die Gründung
des Eisenhüttenkombinats verkündet worden war) von einer "Veränderung
des Menschen" begleitet werden sollte. (5)
Daß dies in einem auch subtile Mittel und beiläufige Instrumente einsetzenden
Gesamterziehungsprogramm angestrebt wurde, zeigt die Stadtplanung ebenso
wie die Herstellung von Symbolordnungen, die sich ihrerseits wieder der
räumlichen und topographischen Dispositive bedienten.
Die Magistrale war Aufmarsch- und Defilierort (einer der Leuchtschen Wohnstadtentwürfe
hatte die Aufmarschmengen und -bewegungen genauestens berechnet und in
einen "Demonstrationsplan" eingetragen). Verwaltungsgebäude säumten die
Achse ebenso wie der "neue Tempel" - so wurde zuweilen das Kulturhaus
genannt -, das zentrale Hotel und wichtige Versorgungseinrichtungen (Handels-
und Handwerksorganisationen). Über lange Jahre hinweg warb die Stadt
mit einer Photographie, die die Leninallee in nordöstlicher Richtung zeigt,
links das Kino und Kulturhaus, rechts Kaufhausbauten, im Hintergrund die
Hochofengiganten, die
den optischen Abschluß der effektvoll inszenierten Sichtachse bilden.
Die Bildlegende spricht von der Leninallee als dem "modernen und attraktiven
Zentrum der ersten sozialistischen Stadt der DDR" (6).
Helmut Preißler, einer der zahlreichen Bild- und Wortkünstler, die den
Auftrag hatten, den Aufbau der Stadt "künstlerisch" zu begleiten, zu kommentieren
und republikweit zu rühmen, beschrieb in einer Iyrischen Laudatio die
neue Stadt ähnlich: "Wie Stahl weisen / breite Straßen zum Werk, / das
dehnt sich zum Horizont". (7)
Die 55 Meter breite und 600 Meter lange Magistrale mündet an ihrem Südende
in einen zentralen Platz, an dem das Haus der Partei und Massenorganisationen
bis heute eine starke Dominante bildet. Es verfügte über Klubräume, Fest-
und Ausstellungshallen. Häuser dieser Art dienten - gemäß der Doktrin
staatlicher Kulturpolitik - Partei- und Gewerkschaftszusammenkünften und
anderen Versammlungen, aber auch Theater-, Kino- und Filmvorführungen,
nicht zuletzt aber auch den extensiv entfalteten Klubtätigkeiten. Eine
der ersten Planungsskizzen hatte den Kulturhäusern noch stärkere Bedeutung
zugemessen; vorgesehen waren ein zentraler Kuppelbau mit Theater und,
einer Lesart Bruno Flierls zufolge, die sich auf einen Leuchtschen Entwurf
von 1953 bezieht, eine Art Stadtkrone, die dem Werktor am nördlichen Endpunkt
der Magistrale in achsensymmetrischer Weise entsprechen sollte.(8)
Doch auch dieser monumentale, durch architektonischen Aufwand und Höhendominanz
ausgezeichnete Kulturpalast, der nach Flierl unverkennbar in der Tradition
der Volkshaus-Utopien der zwanziger Jahre stand, wurde nie realisiert.
Seine Rolle übernahm das Friedrich-Wolf-Theater. Da auch das Rathaus nie
gebaut wurde, zog die Stadtverwaltung in das Haus der Partei und Massenorganisationen,
das - weil auch die mächtigen Kreisleitungen von SED und FDJ dort residierten
- im Stalinstädter Volksmund "Kreml" genannt wurde.
Im Vergleich zu der monumentalen Kuppelbauplanung wirkt das realisierte
Theater bescheiden, aber dennoch markant. Es wurde 1954 an der Westseite
der Leninallee als Kulturhaus errichtet und am 6. März 1955 eingeweiht.
Der Baukörper ist über ein Säulenportal mit imposantem Dreiecksgiebel
(also tatsächlich tempelähnlich) zur Magistrale hin geöffnet und über
eine breite Freitreppe zugänglich. Das Theater, benannt nach dem Schriftsteller
Friedrich Wolf, der erster DDR-Botschafter in Polen war (ein Name also,
der sich für die Stadt an der "hermetischen" Grenze anbot), war der Ort,
an dem nicht nur die
Stadttheater aus Frankfurt / Oder und Cottbus ihre Gastspiele
gaben oder DEFA-Filme gezeigt wurden, sondern an dem vor allem die Rituale
der Maifeiern, Jugendweihen, Frauentagsveranstaltungen etc. den sozialistischen
Alltag rhythmisierten. Das Kulturhaus war Forum der Erziehung, Unterhaltung
und Entspannung. Wie auch andere Kulturhäuser in der DDR (übrigens auch
in Stalinstadt selbst, wo es noch weitere, den unterschiedlichen Betrieben
zugeordnete Kultur- und Klubhäuser gab) verstand sich die Einrichtung
an der Leninallee als "Stätte des geistig-kulturellen Lebens und
der politisch-ideologischen Bildung und Erziehung der Bürger im Sinne
der Ideale, der Weltanschauung und Wertvorstellungen der Arbeiterklasse,
als Stätte der Begegnung und des Gedankenaustausches, der Geselligkeit
und Unterhaltung, der kulturell-künstlerischen, wissenschaftlichen sowie
sportlich-touristischen Betätigung" (9).
Das sozialistische "delectare" und "prodesse" ist an den bis heute erhaltenen
Wandgemälden des Foyers abzulesen: Motive aus der Theater- und Musikgeschichte,
aus dem Folklore- und Operetten-Repertoire (vor allem der sozialistischen
Bruderländer) sind mit leichter Hand, bunt und heiter, in Szene gesetzt.
Daß das Friedrich-Wolf-Theater nicht nur Bühnengastspiele und Kinovorführungen
offerierte, belegt - nur als Beispiel - das Programm des Hüttenfestes
in der dritten Augustwoche 1960. Geboten wurden montags eine DEFA-Filmpremiere,
dienstags ein Festakt des EKS (10.30 Uhr), ein "Bunter Abend" (20.00 Uhr),
mittwochs eine Festsitzung der SED-Kreisleitung, freitags ein großes Kulturprogramm
der Pioniere. Weitere Veranstaltungen des Hüttenfestes fanden im Freien
statt (Blaskonzerte, Freilicht-Theater-Aufführungen), in der HO-Berggaststätte
auf den Diehloer Höhen, im "Aktivist" und auf den Sportplätzen
der Betriebssportgemeinschaften (BSG) "Stahl" und "Aufbau". Das Friedrich-Wolf-Theater
wie auch der Platz der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft können als "places
of symbolic power" (10)
gelten, wo Privates und Gesellschaftliches suggestiv verklammert und wo
die Interessen des Werks und des Systems in die Stadtöffentlichkeit hinein
vermittelt wurden.
Wie kein anderes der vielen politischen Rituale war das stets aufwendig
inszenierte Hüttenfest Betriebs- und Volksfest in einem. Es verband Werks-
und Lokalstolz, verschmolz die Interessen des Kombinats mit denen der
Stadt; es festigte Organisationformen und Leitbilder sozialistischer Arbeit
und war zudem Arena politischer Propaganda. Ein eigener Hüttenfest-Walzer
wurde komponiert, der die Ziele des jährlich unter großer Anteilnahme
nicht nur der örtlichen, sondern auch der medial-hergestellten nationalen
Öffentlichkeit gefeierten Rituals benannte: "Wir feiern heut in Stalinstadt / voll
Stolz das Hüttenfest, / und wer von uns noch Ärger hat, / ihn
schleunigst fallen läßt / [...] Noch nie war hier im Oderland / der
Frohsinn so zuhaus. / Erst als das Kombinat entstand, /
war's mit den Sorgen aus / [...] Und Morgen wird mit neuer Kraft /
in Werk und in der Stadt / die Arbeit wieder so geschafft, /
daß jeder Freude hat [...]". Gehobenere Lyrik, in der Tradition der Massenchorbewegung
der zwanziger Jahre stehend, pries die Errungenschaften sozialistischer
Wirtschaftsplanung und die Standortpolitik der DDR, die an der Oder-Neiße-Grenze
das modernste Stahl- und Walzwerk Deutschlands geschaffen habe. Pathetisch
werden in den Chören und Szenen des Hüttenfestes die Namen der "schwarzmetallurgischen"
Schwesterstädte aufgerufen: Shdanow, Nowa Huta, Sztálinváros,
Dimitrowgrad, Orasul-Stalin, Anshan Hanoi (11)
Heimat und Internationalität werden solcherart ebenso kombiniert, wie
die Reime Wein und Hochofenschein, Stahlkombinat und Kartoffelsalat, Herz
und Erz Privates und Produktionstechnisches zusammenbringen.
Die Heimatappelle, die vom Hüttenfest ausgingen, waren in erster Linie
auf die Herstellung einer symbolischen Ortsbezogenheit ausgerichtet, darüber
hinaus aber auch auf die Herausbildung eines spezifischen Staatsbewußtseins
der DDR, das - folgt man den einschlägigen theoretischen Erörterungen
(12) - ab
Mitte der fünfziger Jahre vor allem aus den Werten einer sozialistischen
Lebensweise und des kulturellen Erbes bezogen werden sollte. Über
den Einsatz der sozialistischen Fest- und Feierkultur (als Teil des kulturellen
Erbes) wurde von seiten der Partei, des Kulturbundes
und der Wissenschaft nicht anders debattiert als über die Förderung der
Volkskunst - ebenfalls als Mittel zur Herstellung von Heimatbewußtsein
und nationaler Identität. Dabei war "Volkskunst" äußerst breit definiert,
sowohl auf die Arbeit der Volkskunst-Ensembles (mit Tanz, Musik- und Theaterkollektiven)
wie auf das "bildkünstlerische Laienschaffen" bezogen. In Stalinstadt
gab es seit Mitte der fünfziger Jahre unterschiedliche Volkskunstzirkel
(13), und
nach der ersten Bitterfelder Konferenz 1959 fehlte es auch nicht an Ermunterungen
zu einem literarischen Laienschaffen aus dem Geist der Werktätigkeit,
der lebensweltlichen Spontaneität und alltagskulturellen Kreativität.
Ein "Zirkel schreibender Arbeiter" protokollierte Erfahrungen an den Hochöfen,
in den Wohnkomplexen und setzte das Lob der ersten sozialistischen Stadt
in Reime um, die entweder bewußt proletarisch oder traditionsorientiert
gehalten waren ("Hochöfner, he! Ihr vom Bau, Maschinisten! [...] Wir wollen
ab heute wie Sozialisten arbeiten, lernen und leben. Start frei!"; "Urahne,
Großmutter, Mutter und Kind / in Stalinstadt glücklich beisammen
sind [...]"). Der in Stalinstadt und insbesondere für das Hüttenfest tätige
Lyriker Helmut Preißler wurde von den "schreibenden Arbeitern" für den
Literaturpreis des FDGB 1961 mit der doppelten Begründung vorgeschlagen,
daß er erstens "so geschrieben [habe], wie es bei den Kumpels in unseren
Brigaden zugeht", und zweitens "sein Werk" eine "hervorragende kämpferische
Auseinandersetzung mit unserer Entwicklung auf dem Gebiete unserer neuen
sozialistischen Nationalkultur" darstelle. (14)
Voller Pathos durchziehen die Begriffe "neu" und "unser" die Texte derer,
die sich in Stalinstadt auf den Bitterfelder Weg begeben hatten. Beides
sind Bestimmungswörter, die das Lebensgefühl der jungen Stadt treffen:
das Possessivpronomen zielt auf die Identifikation mit Heimat und Staat,
das Adjektiv auf die Identifikation mit dem Sozialismus. (15)
Die Modellierung des "neuen Menschen" setzte ab Mitte der fünfziger Jahre
vor allem auch auf die sozialistische Jugendweihe, deren Einführung und
Vorbereitung in Stalinstadt mit besonderer Intensität betrieben wurde.
Die SED Kreisleitung leitete aus dem Anspruch der Stadt, die beispielhafte
Neugründung in der jungen sozialistischen Republik zu sein, die Forderung
nach einer raschen und effektiven Durchsetzung der Jugendweihe ab. Michael
Tillmann hat gezeigt, daß die Kreisleitung der SED Stalinstadt - nach
der Veröffentlichung des Aufrufs zur Jugendweihe im Dezember 1954 - mit
Nachdruck darauf hinarbeitete, der ersten Jugendweihe im Jahr 1955 eine
starke Beteiligung zu sichern. (16)
Mit 89 Jugendweihe-Teilnehmern von 146 in Frage kommenden Jugendlichen
war im Erstjahr schon ein Anteil von 61 Prozent erreicht, mit der die
Stahlstadt weit über dem Durchschnitt der DDR (ca. 20 Prozent) lag. Die
SED meldete in ihrem Wochenbericht vom 19. April 1955 an die Bezirksleitung
in Frankfurt / Oder: "Die in unserer Stadt erstmalig durchgeführte
Jugendweihe erwies sich als voller Erfolg [...] Die Ausgestaltung der
Stadt sowie die Anteilnahme der Bevölkerung bewies, daß die Jugendweihe
wirklich ein Höhepunkt in unserer Stadt wurde." In den Folgejahren nahm
die Zahl der Jugendweihen kontinuierlich zu; 1959 waren 100 Prozent erreicht.
Die öffentliche Weihefeier fand in aller Regel im Friedrich-Wolf-Theater
statt. 1958, als das Gelöbnis am Ostersonntag begangen wurde, berichtete
der Kulturspiegel von 170 "Weihlingen" und 2500 Festgästen. "AIIe waren
ergriffen und aufgerüttelt durch die menschlichen, eindringlichen Worte
der Ansprachen und Rezitationen, durch die gesanglichen und instrumentalen
Darbietungen." Die Zahl der Konfirmationen ging im gleichen Zeitraum rapide
zurück. 1955, als das Jugendgelöbnis erstmals veranstaltet wurde, ließen
sich noch 73 Jugendliche konfirmieren, 1961 nur noch vier. In den Erinnerungen
des langjährigen evangelischen Pfarrers von Eisenhüttenstadt werden als
Gründe für den Erfolg der Jugendweihe die massive Werbung für das neue
Ritual seitens der SED und ihrer Organisationen, die berufliche Benachteiligung
der Nicht-Weihewilligen und Gratifikationen für die Weihlinge in Form
von Geschenken, Ausflugsfahrten und Freizeitangeboten angegeben. (17)
Die Zahl der Kirchenaustritte stieg ab Mitte der fünfziger Jahre stark
an. Nach Darstellung von
Pfarrer Bräuer erreichte sie ihren Höhepunkt 1958, als 1385 Gemeindemitglieder
den Austritt aus der evangelischen Kirche vor dem Staatlichen Notariat
erklärten. Trotz des Erfolges der Jugendweihe und der großen Zahl der
Kirchenaustritte konnten sich andere sozialistische Ersatzformen kirchlicher
Amtshandlungen oder christlicher Rituale nicht durchsetzen. Ab 1957 hatte
es nämlich Versuche gegeben, "Namengebungen" (anstelle der Taufe), Eheschließungen
und Beerdigungen als "sozialistische Feiern" zu installieren. In einer
Vorlage für die Sitzung der SED-Kreisleitung am 14. Januar 1958 war davon
die Rede, daß der "Aufbau der sozialistischen Stadt" und die "erfolgreiche
Erziehung der dortigen Menschen" das Bedürfnis nach neuen Ritualen bewirkt
habe. Am 1. Februar 1958 fanden die ersten drei Namengebungen und die
erste sozialistische Eheschließung statt. Der Neue Tag berichtete am 4.Februar
von den Feiern: "Erstmalig in unserem Bezirke wurden am Sonnabend [...]
drei kleine Erdenbürger von Stalinstadt in einem feierlichen Akt der Namengebung
offiziell als neue Einwohner der ersten sozialistischen Stadt unserer
Republik aufgenommen." Trotz starker Anstrengungen haben sich, wie Michael
Tillmann nachweist, aus den sozialistischen "Ersatzritualen"
keine Traditionen gebildet.
Die Kirchen in Stalinstadt waren nicht nur durch die sozialistische Ritual-
und Symbolkonkurrenz, sondern auch administrativ-organisatorisch in ihrer
Etablierung behindert. Jahrelang standen für Gottesdienste nicht mehr
als bauliche Provisorien zur Verfügung. Eine im Aufbau befindliche katholische
Kirchenbaracke war 1954 in einer Gewaltaktion niedergerissen worden. "Der
Versuch, jegliches kirchliche Leben im Stadtgebiet zu verhindern", so
konstatiert Michael Tillmann, "bezog sich insbesondere auf die Nichtzulassung
des Baus fester kirchlicher Gebäude." (18)
Nicht ohne Grund gehört deshalb bis heute zu den sagen- und legendenhaften
Topoi der Stadtgründung die sogenannte Turm-Geschichte. Sie geht zurück
auf Ulbrichts Rede am 7. Mai 1953. Bei der Erläuterung der urbanistischen
Vision Stalinstadts soll er in seinem Plädoyer für einen Rathaus- und
einen Kulturhausturm andere Turmbauten ausgeschlossen haben - insbesondere
die der "individualistisch-kapitalistischen Verdummungsanstalten" (19),
der Kirchen.
Die Ansprache Ulbrichts ist als "Turmrede" ins kollektive Gedächtnis der
Stadt eingegangen und wird in verschiedenen Versionen erinnert. In der
schriftlichen Fassung des Redetextes ist nur der Hinweis auf den Rathaus-
und Kulturhausturm, nicht die kirchenfeindliche Formulierung nachweisbar,
aber in der von Lutz Niethammer erfragten "volkseigenen Erfahrung" ist
sie ebenso präsent (als Metapher von der "Stadt ohne Türme" (20))
wie in der unveröffentlichten Kirchenchronik des evangelischen Pfarrers
(21). Unabhängig
von den genauen Formulierungen belegt die "Turmrede" jedoch das für Stalinstadt
bezeichnende harsche ideologische Gegeneinander von Christentum und sozialistischer
Säkularreligion.
In Wolfsburg sind - bezogen auf die Zeit des KdF-Wagens - ähnliche Geschichten
bekannt. "Es sollte eine Stadt ohne Gott und ohne Kirchturm sein", so
heißt es in der Jubiläumsbroschüre der Christophorusgemeinde aus dem Jahr
1976. Über Jahre hielt sich auch in Wolfsburg die Ansicht, daß die
Stadt ohne Kirchenbauten geplant gewesen sei. Zuweilen wird bis heute
daran erinnert, daß Hitler ein Verbot für den Bau von Kirchen in der KdF-Stadt
"persönlich" ausgesprochen habe. (22)
Eine vom Stadtarchiv Wolfsburg herausgegebene Dokumentation der "Kirchenplanung
in der Stadt des KdF-Wagens" zeigt jedoch, daß schon bei den vorbereitenden
Planungen "Bauten zur Versorgung der kirchlichen Bedürfnisse der Bevölkerung"
vorgesehen waren. Der Kirchenplanung in der VW-Siedlung lag eine Absprache
mit dem nationalsozialistischen Minister für kirchliche Angelegenheiten
zugrunde, nach der ausgeschlossen werden
sollte, daß "die zur Kirche gehörende Bevölkerung einer ganzen Stadt"
darauf verwiesen sein sollte, "die kirchlichen Gebäude der umliegenden
Dörfer zu benutzen". (23)
Mommsen und Grieger vermuten, daß die 1940 verordnete Einstellung der
Kirchenbauplanung aus wirtschaftspolitischen Gründen erfolgt ist. (24)
Der Wolfsburger Topos einer kirchenfeindlichen Stadtplanung läßt sich,
ähnlich wie in Eisenhüttenstadt, auf die ideologische Konkurrenz von Christentum
und politischer Weltanschauung des NS Regimes zurückführen. Kern dieser
auch in Wolfsburg bis heute nachweisbaren Vorstellung ist nicht nur ein
allgemeines Wissen um die kirchenfeindliche Haltung des Regimes, das lange
Zeit von Orts-Geschichten bestätigt wurde (25),
sondern auch die Erinnerung an die säkularreligiöse Architekturplanung
in der KdF-Stadt. Nicht anders als in der EKO-Wohnstadt hätte nämlich
auch in der VW-Stadt eine das Ortsbild prägende "Stadtkrone" gebaut werden
sollen. In ihr waren, wie im Stalinstädter Kulturpalast, Gemeinschafts-
und Parteiveranstaltungen, Räume für die lokale Administration, Kino-,
Theater- und Bibliothekssäle vorgesehen. Wie in der neuen Industriearbeiterstadt
an der Oder wollte sich auch die nationalsozialistische "Musterstadt"
(übrigens ein in der KdF-Siedlungsplanung üblicher Begriff) eine repräsentative
Mitte geben und berief sich dabei ebenfalls auf die Tradition der Stadtkronen-Architektur
von Bruno Taut. (26)
Die "Stadttrone", in Peter Kollers Zeichnung als Ortsburg in Granit auf
den Klieversberg gesetzt, sollte Parteiforum, Volkshalle, Oper und Kirche
in einem sein.
Die Stadtkronen- und Ortsburgpläne der VW-Stadt wurden nie verwirklicht.
Dennoch scheint sich die weltreligiös-antikirchliche Intention der frühen
Urbanplanung ins kollektive Gedächtnis Wolfsburgs eingekerbt zu haben.
Die Feiern und Zusammenkünfte, die in der Ortsburg - ebenfalls ein "place
of symbolic power" - geplant waren, fanden andernorts statt, in der Cianetti-Halle
(27) des
Gemeinschaftslagers und in den Speisesälen des VW-Werkes, die als repräsentative
Vielzweckhallen eingerichtet und ausgestattet waren. Die gemeinschaftsbildende
Bedeutung der Veranstaltungen war rückgekoppelt an ein sozialpolitisches
Gesamterziehungsprogramm, das Teil nicht nur der Betriebsgemeinschafts-,
sondern auch der Stadtgemeinschaftsbildung war.
Wie später in Stalinstadt war auch in der KdF-Stadt daran gedacht, so
etwas wie den "neuen Menschen" zu schaffen. Und zwar sollte er über die
Berufserziehung, über den "neuen deutschen Facharbeitertypa produziert
werden. Bei der Grundsteinlegung des Werkes hatte Hitler den Mustercharakter
der KdF-Planung am Mittellandkanal hervorgehoben und von "einer vorbildlichen
deutschen Arbeiterstadt" gesprochen, wobei das "Vorbildliche" nicht nur
auf die Architektur-, sondern auch auf die Sozialplanung bezogen war.
(28) Hans
Mommsen und Manfred Grieger weisen jedoch nach, daß die systematischen
Bemühungen um die Betriebs-, Stadt- und Volksgemeinschaft im VW-Werk und
in der VW-Siedlung aus kriegswirtschaftlichen Gründen nie konsequent zum
Zuge kam. Zwar hatte es an aufwendigen ikonographischen und choreographischen
Programmen zur Formierung einer nationalsozialistischen Mentalität nicht
gefehlt (wie es sich beispielsweise an der Bildausstattung der Gemeinschaftshallen
oder an den Aufmarschordnungen der Volksgemeinschaftsfeste belegen läßt)
(29), aber
das Gesamterziehungsprogramm blieb "Stückwerk", weil nach Mommsen und
Grieger "die sozialpolitischen lllusionen [...] unter den Bedingungen
des Krieges" zerstoben. (30)
Die Symbolorte und -ordnungen, die sich in der Nachkriegsgeschichte des
Volkswagen-Werks und der Stadt Wolfsburg ausmachen lassen, sind im Gegensatz
zu denen des NS-Systems, in deutlichem Unterschied aber auch zu denen
des SED-Regimes, wie es sich in Stalinstadt zur Geltung brachte, nicht
staatsideologisch und zentraldirigistisch
bestimmt. Sie spiegeln den Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte und
werden in ihrer Funktion bestimmt von der Dynamik einer Industriestadt,
die über Jahre hinweg bestrebt war, vermittels kultureller Strategien
die Wohnbevölkerung sozial zu integrieren. Lokale Imperative dominieren.
Dabei kam den Kirchen, den Stadtfesten und den Vereinen besondere Bedeutung
zu. Vereine, so lautet eine zuverlässig untermauerte These der zweiten
soziologischen Wolfsburg-Studie von 1982, sind Institutionen, die "die
soziale Integration der Gemeindemitglieder fördern", was "insbesondere
in einer jungen Stadt wie Wolfsburg mit vielen Neubürgern nicht unwichtig"
(31) ist.
1960 war etwa ein Drittel, 1980 knapp die Hälfte der Wolfsburger in einem
Verein organisiert. In der "Volkswagenstadt" gab es alle Spielarten bundesdeutscher
"Vereinsmeierei", wobei im Zeitraum von 1960 bis 1980 allerdings die Sportvereine
ins Zentrum des Gemeindelebens gerückt sind. Einen wichtigen Beitrag zur
Gemeindeintegration leisteten die jährlichen Festangebote der Vereine
(nach Art des "Schützenfestes") und deren illustre Aktivitäten bei öffentlichen
Feiern (wie etwa die Festwagen der Landsmannschaften beim vierzigsten
Stadtjubiläum mit der Aufschrift "Wir lieben Wolfsburg und unsere Heimat
im Osten"). Anders als die Klubs und Zirkel in der DDR, die in Abhängigkeit
von "zuständigen Trägerorganisationen" und "staatlichen Organen" standen
(32) und
"zentral" auf kulturelle Aufgaben verpflichtet wurden, waren die circa
400 Wolfsburger Vereine (um 1980) Unternehmungen aus eigenem Recht und
nur dem eigenen Zweck gehorchend, dabei allerdings kommunikative und sozialintegrative
Aufgaben erfüllend.
Wie die Vereinskultur war auch die öffentliche Festkultur plural organisiert.
Anstelle des einen Stadtfestes (Hüttenfest) gab es in Wolfsburg diverse
Angebote - von diversen Anbietern: von den Vereinen, den Kirchen, der
Stadt, den Gewerkschaften und dem VW-Werk; dabei konnte die Diversifikation
so weit gehen, daß unterschiedliche Veranstalter bei ein und demselben
Fest unterschiedliche ideologische Offerten machten. So war das etwa am
1. Mai, an dem einerseits die Gewerkschaften zu ihren Kundgebungen luden,
andererseits die katholische Kirche Andachten zu Ehren des hl. Josef hielt,
dessen Fest 1955 vom Vatikan, um den sozialistischen Feiertag zu "taufen",
auf den 1. Mai gelegt worden war. Das Schützenfest, das vom 1905
gegründeten Schützenverein in Heßlingen als Stadtfest ausgerichtet wird,
sorgte für Stadtidentität "qua Tradition", wohingegen mit der seit 1954
jährlich vor den allgemeinen Betriebsferien durchgeführten Autoweihe am
Christophorustag, dem 25. Juli, Stadtbewußtsein "qua Produktion" geschaffen
wurde. Überhaupt war die öffentliche Festkultur nicht selten von
der Symbiose Stadt - Werk diktiert, sowohl bei den Produktionsjubiläen
(etwa beim millionsten "Käfer") wie auch an den Geburtstagen der Stadt.
Allerdings zeigen sich die verflochtenen Interessen von Stadt und Werk
nicht in der Unbedingtheit wie beim Hüttenfest in der Stahlstadt.
Selbst in das religiös-kirchliche Leben waren Impulse und Requisiten der
Produktion eingegangen. Dies belegen die Namen der beiden frühen katholischen
Kirchen, die nach dem Autopatron Christophorus und nach dem Arbeiterpatron
Josef benannt sind. (33)
Die Fatima-Madonna, die in St. Christophorus aufgestellt wurde,
war mit einem eigens für diesen Zweck zur Verfügung gestellten VW 1954
aus Portugal überführt worden. (34)
Auf die dichte Verflechtung von VW, Industriestadt und Kirchengemeinde
verweist auch eine barockisierende Christophorusskulptur, die zur Erinnerung
an Heinrich Nordhoff 1968 installiert wurde. Die Inschrift auf der Konsole
lautet: "Zum Gedenken
an Prof. Dr. Heinr. Nordhoff, Gen.-Dir. des Volkswagenwerkes, geb. am
6. Jan. 1889 in Hildesheim, gest. am 12. April 1968 (Karfreitag) in Wolfsburg."
Ferdinand Porsche und Nordhoff - als Förderer katholischer Belange in
Wolfsburg - sind zudem an einer Brunnenskulptur zu sehen, die vor der
Christophorus-Kirche aufgestellt ist. Obwohl die Katholiken mit 21 Prozent
in der Minderheit waren, gegenüber 69 Prozent Protestanten, wurden ihre
Einrichtungen und Unternehmungen in besonderer Weise von der Werkleitung
unterstützt, was - wie heute noch vermutet wird möglicherweise daran gelegen
hat, daß Porsche und Nordhoff überzeugte Katholiken waren und insbesondere
Nordhoff, im Rahmen der christlich-abendländischen Restauration der fünfziger
und sechziger Jahre, bewußt für katholische Orientierungen und Leitwerte
einstand. War die Katholizität des aus Böhmen stammenden Porsche landsmannschaftlich
geprägt (und so nicht unbedeutend für die Integration der katholischen
Vertriebenen aus Schlesien und dem Sudetenland) gewesen, so bezog Nordhoff
religiöse Impulse aus dem sozialen Katholizismus, der in der Adenauerzeit
hohes Ansehen genoß und sich bruchlos in die Ideologie der sozialen Marktwirtschaft
einfügte. Es verwundert deshalb nicht, wenn Befragungen im Rahmen der
Wolfsburg-Studie von 1959 / 60 einen erheblichen Einfluß der
katholischen Kirche in der Stadt erkennen lassen, wobei die Interviews,
so gibt die Untersuchung selbst zu bedenken, unter dem Eindruck der spektakulären
kirchlichen Trauung einer Nordhoff-Tochter gestanden haben. (35)
llja Ehrenburg hatte im "Zweiten Tag" gegen die Gebräuche der Kirche und
gegen die "Moral des Christentums" (36)
angeschrieben. Konsequent hatte er für neue Rituale, Gewohnheiten und
Leitbilder in Nowokusnezk plädiert und im Schlußkapitel den 1. Mai als
sozialistisches Ostern ausgemalt. (37)
Im "Völkerfrühling", wie der 1. Mai nicht selten genannt wurde, war mit
der Auferstehung des neuen Menschen zugleich die Absage an Altkusnezk,
an das Leben in überlieferten Ordnungen, an alte Orientierungen und Glaubensformen
verbunden. Unverkennbar gab die Auferstehungs und Völkerfrühlingsmetaphorik
den frühen Maifeiern auch in Stalinstadt Energie und Richtung.
Der 1. Mai wurde freilich nicht nur in der "Roheisenstadt" an der Oder,
sondern auch in der "Autostadt" am Mittellandkanal gefeiert - zwar mit
weniger Aufwand, mit weniger inszenatorischem Einsatz und mit weniger
Beteiligung. Doch auch in Wolfsburg gehörte der 1. Mai zum Repertoire
der politisch motivierten Rituale und Symbole, die in der lokalen Öffentlichkeit
eine nicht geringe Rolle spielten. Nimmt man ihn vergleichend in den Blick,
dann ergeben sich tatsächlich aufschlußreiche Unterschiede bei der symbolischen
Konstruktion der politischen Ordnung in der ost- und westdeutschen Arbeiterstadt:
1953, als die Wohnstadt des EKO wegen der anstehenden Namengebung am 7.
Mai ohnehin vibrierte und voller Zukunftselan war, wurde die Maifeier
im Neuen Tag als "proletarische Völkerverbrüderung" und als "leuchtende
Pforte [...] in eine bessere Gesellschaftsordnung" inseriert (38)
und darüber hinaus die EKO-Wohnstadt als privilegierter Ort für den "Völkerfrühling"
ausgegeben, weil die "Stadt am 7. Mai 1953" den Namen "des größten Menschen
unserer Epoche erhalten wird" und weil "die Herstellung deutschen Friedenstahls
aus sowjetischem Erz und polnischer Kohle an der Oder-Neiße-Friedensgrenze"
ein bezeichnender Beleg für die Idee der "Völkerfreundschaft" sei. Wie
die Programmatik - in laut tönendem "Plüschpathos" (39)
- waren auch die Choreographie und Ritualistik der Maifeiern darauf abgestellt,
die Bewegungs- und Bewußtseinsabläufe nach einem einheitlichen Schema
zu kollektivieren.
Zentrum der Maifeiern waren die Kundgebungen, zu denen in festgelegten
Marschblöcken gezogen wurde (mit Maiplakette und Mainelke). Die Teilnehmer
hielten Transparente und Spruchbänder, die Stadt war festlich geschmückt.
Rückgriffe auf volkskulturelle Traditionsformen, wie etwa das Einbinden
des Maibaums auf dem Platz der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am Vorabend,
gab es ebenso wie Tanzveranstaltungen in den diversen Kulturhäusern und
auch ein "Buntes Programm" im Friedrich-Wolf-Theater. Als Teil der Maifeiern,
für die ein "Kreis-Mai-Komitee" verantwortlich zeichnete, waren Ehrungen
der "Aktivisten" vorgesehen.
"Das sind die Besten in der Erfüllung unserer Pläne, die uns Wegweisung
beim Aufhau des Sozialismus sind", hieß es im Festprogramm zum 1. Mai
1955.
In Wolfsburg boten die Maifeiern Mitte der fünfziger Jahre ein völlig
anderes Bild. Sie waren nicht zentral und einheitlich organisiert, sondern
wurden von einer Vielzahl von Veranstaltern, vom DGB, vom CGD (= Christlicher
Gewerkschaftsbund), vom Sportverein "Wasserfreunde", vom Akkordeon-Orchester,
von der Stadtverwaltung, von der katholischen Kirche "angeboten". Was
auf den Gewerkschaftskundgebungen in der Stadthalle vorgetragen wurde,
war auf die Eckwerte der sozialen Marktwirtschaft bezogen ("40 Stunden
sind genug"). Die gewerkschaftsnahen Vereine veranstalteten einen Umzug
durch die Stadt, und das Werk-Orchester, so heißt es am 3. Mai 1957 in
den Wolfsburger Nachrichten, "bestritt gemeinsam mit Solisten das musikalische
Programm, das mit einem Satz aus einem Klavierkonzert von Gershwin und
einigen Negro-Spirituals eine betont moderne Note trug". 1956 war die
gewerkschaftliche Politik mit dem Wolfsburger "Produkt" erläutert worden:
"So leistungsfähig der Volkswagen sich zeigt, so leistungsfähig und arbeitsam
wollen wir sein, wenn es gilt, die sozialen Grundlagen zu sichern." (40)
In beiden Städten vermitteln die politischen Rituale Ordnungsvorstellungen
und Leitwerte des jeweiligen politischen Systems - allerdings in unterschiedlicher
Intensität und unterschiedlicher "psychopoiitischer Eindringtiefe" (41).
Die Zurückhaltung, die sich der Bonner Staat in puncto Symbolpolitik auferlegt
hatte, machte sich auch in Wolfsburg geltend, während Stalinstadt mit
extensiven Mitteln Symbolpolitik betrieb und so den Imperativen eines
"Parteiauftrags" (42)
folgte. In Stalinstadt orientiert sich das Mairitual an der politischen
Demonstrations- und Kampfkultur der zwanziger Jahre. In Wolfsburg zeigt
sich ein plurales Angebot an Demonstrations- und Kundgebungsformen ideologisch
unterschiedlicher "valeur" und "couleur"; der Wolfsburger Mai scheint
die aufwendig-öffentliche Demonstrationsform zu scheuen, was sicher auch
an einem politischen Sukzessiv- und Systemkontrast, bezogen auf die NS-Vergangenheit
und auf die Opposition zur DDR, liegt. In Stalinstadt, jedenfalls der
fünfziger und sechziger Jahre, ist der 1. Mai von einer durchherrschten
Inszenierung bestimmt, bei der die SED Regie führt. In Wolfsburg sind
die Maifeiern ein Kult- und Ritualangebot unter vielen; sie sind nicht
Erziehungs- und Formierungsinstrument, sondern milieuspezifische Ideologieofferten.
"Symbolisierung", so schreibt Aleida Assmann, "ist die Voraussetzung dafür,
daß Erfahrungen allgemein zugänglich, wiederholbar, übertragbar und
das heißt zugleich: konsistent, zuverlässig und dauerhaft werden" (43).
In politischen Symbolen werden Systemwerte internalisiert dies geschieht
vermittels Externalisierung - in Form von Ritualen, Gebräuchen und Gewohnheiten.
Die Geschichte der politischen Rituale in diesem Jahrhundert zeigt, daß
die Organisation der Symbolisierung unterschiedlich strukturiert sein
kann - staatlich verordnet und sogar staatsparteilich diktiert, aber auch
arrangiert von politischen Gruppierungen und sozialmoralischen Milieus
(nicht selten in gegenseitiger Konkurrenz stehend).
Das erste war in Stalinstadt der Fall, das zweite in Wolfsburg. Maifeiern
gab es hier wie dort. Das gleiche Symbol, doch ins Auge fallen starke
Unterschiede in bezug auf Programmatik, Suggestivität und normativen Verpflichtungsanspruch.
Diese Unterschiede behaupten sich über die gesamte Zeit der Teilung -
trotz abnehmender Bedeutung des "Völkerfrühling". In Wolfsburg wie in
Eisenhüttenstadt waren ab den achtziger Jahren Entkollektivierungstendenzen
am 1. Mai feststellbar.
In der "VW-Stadt" äußerten sie sich in einem deutlichen Teilnehmerschwund
an den gewerkschaftlichen Kundgebungen, in Eisenhüttenstadt in einer zunehmenden
Spaltung des Mairituals in einen offiziell-politischen und einen informell-privaten
Teil. "Der Kampftag der Arbeit als Clou-Markt verhinderten Konsums" (44),
so hat ihn Lutz Niethammer anläßlich der Recherchen zur "volkseigenen
Erfahrung" im Jahr 1987 beschrieben.
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