Ausflug mit dem ersten eigenen Volkswagen, 1954
(Photo: Willi Luther) |
Die Verbindung von heimatlichen
Gefühlen mit einer "Neuen Stadt" scheint nicht nur auf den ersten Blick
widersprüchlich zu sein. Traditionellerweise assoziieren wir mit Heimat
das Leben auf dem Lande, und wenn wir diesen Begriff auf die Stadt beziehen,
dann denken wir zunächst an alte, gewachsene Städte, die aufgrund einer
langen Geschichte eine bauliche Gestalt und einen kulturellen Raum haben
entstehen lassen, die uns helfen, ihn als einzigartig und unverwechselbar
zu identifizieren. Aber eine Stadt aus der Retorte, eine "Neue Stadt",
kann all dies nicht bieten, und es gibt zunächst einmal keine über Generationen
ansässige Bevölkerung, die verschiedene Lebensphasen, insbesondere Kindheit
und Jugend in ihr verbracht hat, geschweige denn ansässige Eltern- beziehungsweise
Großelterngenerationen, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen in und mit
diesem Ort hätten weitergeben und auf diese Weise die spezifische Verbundenheit
mit dem Ort entstehen lassen können.
Trotzdem ist gerade eine "Neue Stadt", die "in die Jahre gekommen ist"
(der sechzigste Geburtstag Wolfsburgs steht kurz bevor) ein interessantes
Experimentierfeld, um zu prüfen, wie sich der Prozeß des Heimisch-Werdens
vollzieht. Immer wieder hat der Begriff "Heimat" gängige Ideologien
wie ein Schwamm aufgesogen, man denke nur an die Phraseologie der "Bodenverbundenheit",
die im Nationalsozialismus in der Vorstellung von "BIut und Boden" gipfelte.
(1) Ohne hier
den Gründen dafür nachgehen zu können, teile ich die Auffassung von Erika
Spiegel, "daß es keinen zweiten Begriff gibt, in dem die Raumbezogenheit
und Raumgebundenheit der Menschen unmittelbarer zum Ausdruck kommt" (2).
Es sind also immer Orte gemeint, an denen Menschen Erfahrungen zur Gewinnung
von Identität sammeln und so sich den betreffenden Ort aktiv aneignen
konnten. Dabei variieren die Grenzen der Orte nicht unbeträchtlich. Sie
reichen von der Wohnung über das Stadtviertel, das Dorf, die Stadt, die
Region bis hin zum ganzen Land. (3)
Bei der Frage, wann für einen Menschen ein Ort zur Heimat wird, scheiden
sich die Geister, und es bestehen - grob sortiert - zwei Paradigmen nebeneinander:
Auf der einen Seite sind es die Orte, in denen Kindheit und / oder
Jugend verbracht wurden, denn die ersten Erfahrungen in den formativen
Jahren der Kindheit und Jugend bilden für viele den Kern des Heimat-Phänomens.
Sehr deutlich wird es bei von Krockow, wenn er schreibt: "In der
Kindheit also und nirgendwo sonst ist das angelegt, was wir Heimat nennen"
(4), entsprechend
der bekannten Spruchweisheit "Vergesse nie die Heimat, wo Deine Wiege
stand, Du findest in der Fremde kein zweites Heimatland". Nun ist
es sicher unbestritten, daß die (Raum)erfahrungen in der Kindheit besonders
prägend und nachhaltig sind. Daß Prozesse der Heimatbildung sich auf Kindheit
begrenzen lassen, wird neuerdings jedoch immer häufiger angezweifelt.
Danach wird Heimat nicht primär verstanden als die in der Kindheit mehr
oder weniger zufällig mitgegebenen Orte, sondern als die aktiv angeeignete
Umwelt, was prinzipiell in allen Altersphasen möglich ist: "Heimat ist
eine Qualität von Aneignung der Welt, sie ist ein Aspekt von Arbeit, also
Aufnahme und Veränderung von Wirklichkeit." (5)
Der Philosoph Waldenfels bringt diese Interpretationsrichtung auf den
Punkt: "Zunächst ist Heimat etwas, was erworben und gestaltet und nicht
bloß vorgefunden wird [...]. Es gibt keine natürliche Heimat [...]. Wir
haben immer noch Heimat vor uns. [...] Jedoch gibt es nicht beliebig viele
"Heimatene". (6)
Wenn es richtig ist, daß nur nach ihrem Verlust die Bedeutung von Heimat
wirklich erkannt und erlebt werden kann, dann trifft das im besonderen
auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, in der Millionen Menschen
fliehen mußten oder aus ihrem Heimatort vertrieben wurden. (7)
Die Stadt des KdF-Wagens - Wolfsburg war ein besonderes Auffangbecken
für Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen östlichen Reichsgebieten.
Etwa zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung Wolfsburgs stammten damals
aus Gebieten, die jenseits des "Eisernen Vorhangs" beziehungsweise
der Grenzen der Bundesrepublik lagen. "Unter diesen Umständen sind die
Wolfsburger nicht nur für die "Einheimischen" in den umliegenden Gemeinden
"zusammengewürfeltes Volk", sie sind sich auch gegenseitig fremd in dem
Sinne, den der Topos vom "zusammengewürfelten Volk" meint." (8)
Es lag also nahe, gerade mit diesem Personenkreis das Heimatproblem in
der ersten großen gemeindesoziologischen Untersuchung zu diskutieren.
Diese Erörterung wurde mit der provozierenden Frage eingeleitet: "Manche
Leute sagen, man könne sich in Wolfsburg nicht heimisch fühlen. Was sagen
Sie zu dieser Ansicht?" (9)
Das Ergebnis der Befragung, die für die damalige Wolfsburger Bevölkerung
als repräsentativ gelten kann, ist in der folgenden Tabelle niedergelegt.
Einstellung zu Wolfsburg (Frage nach dem "Heimischfuhlen")
nach verschiedenen demographischen Merkmalen (1960 %) |
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Einstellungsgruppe*) |
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Geographische
Herkunft: |
I |
II |
III |
IV |
Insge-
samt |
N: |
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|
Einheimisch
oder aus
Nachbarkreis |
9 |
4 |
4 |
83 |
100 |
78 |
Nieders. + BRD |
20 |
15 |
11 |
54 |
100 |
252 |
DDR |
16 |
9 |
7 |
68 |
100 |
212 |
Vertriebene |
16 |
11 |
8 |
65 |
100 |
438 |
Volksdeutsche,
Ausländer |
20 |
8 |
8 |
64 |
100 |
85 |
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Zuzugsjahr: |
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|
|
ab 1958 |
20 |
15 |
15 |
50 |
100 |
164 |
1954-1957 |
21 |
13 |
7 |
59 |
100 |
297 |
1945-1953 |
14 |
10 |
8 |
68 |
100 |
407 |
vor 1945 |
13 |
6 |
5 |
76 |
100 |
197 |
|
|
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|
Stellung im Beruf: |
|
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|
|
Arbeiter |
19 |
10 |
8 |
63 |
100 |
644 |
AngestelIte,
Beamte |
11 |
13 |
8 |
68 |
100 |
277 |
Akademiker |
14 |
14 |
17 |
55 |
100 |
49 |
Berufslose |
21 |
11 |
5 |
63 |
100 |
95 |
|
|
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|
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|
|
Familienstand:
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|
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Alleinstehend |
21 |
11 |
5 |
63 |
100 |
211 |
Ehepaare |
16 |
10 |
9 |
65 |
100 |
854 |
|
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|
|
Alle Befragten |
17 |
11 |
8 |
64 |
100 |
1065 |
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*) |
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Gruppe l: |
die
sich in Woltsburg nicht heimisch fühlen |
Gruppe Il: |
die sich nur teilweise heimisch fühlen |
Gruppe lll: |
die sich mit der Zeit eingelebt haben |
Gruppe IV: |
die sich heimisch fühlen |
Quelle:
Schwonke / Herlyn 1967, S.177f. |
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Das Ergebnis ist in mehrerer
Hinsicht außerordentlich aufschlußreich. Es überrascht, daß sich
zwei Drittel aller Befragten heimisch fühlen; nimmt man diejenigen hinzu,
die sich erst mit der Zeit eingelebt haben, so steigt der Anteil derjenigen,
die 1960 ein Heimatgefühl entwickeln konnten, auf 72 Prozent an. Lediglich
17 Prozent verneinen die Frage.
Schaut man sich einige Gruppen der Befragten an, so ist vor allem der
Einfluß der geographischen Herkunft erläuterungsbedürftig. Erwartungsgemäß
weisen die Befragten aus dem unmittelbaren Umkreis, die Ureinwohner (Pioniere)
beziehungsweise Einheimischen, die höchste Zustimmung zu Wolfsburg als
Heimat auf. Für mehr als vier Fünftel von ihnen ist Wolfsburg die Heimatstadt.
Noch wichtiger jedoch erscheint die Tatsache, daß die Vertriebenen und
andere aus dem Osten Deutschlands zugewanderte Personen eine durchschnittlich
hohe Heimatbindung an Wolfsburg aufweisen. Gerade bei ihnen hätte man
doch erwartet, daß sie, für die der Verlust der Geburts- beziehungsweise
Kindheitsheimat noch nicht so lange zurückliegt, am ehesten sich kritisch
gegenüber der neuen Stadt als Heimat äußern. Am negativsten antwortet
die Gruppe der aus Niedersachsen beziehungsweise der übrigen (ehemaligen)
Bundesrepublik zugezogenen Personen. Dies deutet darauf hin, daß die potentielle
Möglichkeit, die alte Heimat wieder aufsuchen zu können, neue Heimatgefühle
an anderem Ort nicht unerheblich erschwert; selbst Ausländer antworteten
positiver.
Überaus deutlich ist die Beheimatung abhängig von der Wohndauer am
Ort: Wer länger in der Stadt lebt, kann eher in ihr ein Heimatgefühl entwickeln.
Die Wohndauer ist ein verläßlicher Indikator für ein höheres lokales Informationsniveau
und die Integration einer Person in den Lebenszusammenhang eines Ortes:
"Je länger eine Person in einer Stadt wohnt, desto besser sind ihre Kenntnisse
der materiellen Ressourcen der Stadt, desto stärker sind ihre sozialen
Ressourcen (Netzwerke) entwickelt." (10)
Unter den Berufsstellungsgruppen fällt auf, daß Akademiker und Freiberufler
sich nicht so häufig vorbehaltlos in Wolfsburg heimisch fühlen. Die Tatsache,
daß sie stärker als alle anderen Gruppen den prozessualen Charakter des
allmählich Heimisch-Werdens betonen (vgl. Gruppe lll), kann mit besonderen
Anpassungsschwierigkeiten dieser in der Arbeiterstadt Wolfsburg unterrepräsentierten
Gruppe zusammenhängen.
Der Familienstand scheint
eine eher untergeordnete Bedeutung dafür zu haben, ob man sich heimisch
fühlt oder nicht, wenn es auch den Alleinstehenden etwas schwerer fällt.
Woran liegt es nun, daß sich doch ein gewisser Anteil der Einwohner der
"Neuen Stadt" damals, 1960, nicht heimisch fühlen konnte? Bei einer Prüfung
der Gründe, die diejenigen nennen, die sich nicht heimisch fühlen, zeigt
sich häufig einerseits eine deutliche Zustimmung zum äußeren Bild der
Stadt, andererseits jedoch eine ebenso deutliche Ablehnung der in Wolfsburg
wohnenden Menschen und eine oft massive Kritik an den Verhaltensweisen
der Mitbürger. Allgemein wird das "Moderne", "Großzügige" und "Fortschrittliche
im Baustil bewundert und gepriesen, wenn auch nicht selten das Fehlen
"organischen Wachstums", einer Tradition und romantischer Winkel beklagt
wird. (11)
Das soziale Netzwerk aus Freunden, Bekannten, Verwandten und Nachbarn
ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für das Entstehen von heimatlichen
Gefühlen an einem Ort und nicht die besonderen landschaftlichen Formationen
einer Region oder baulich-räumliche Besonderheiten eines Ortes. Der geographisch
bestimmte Wohnort kann demnach seinen Heimatcharakter verlieren, wenn
die sozialen Bindungen innerhalb dieses Ortes verschwinden. Bewohner der
Gebiete östlich von Oder und Neiße, die 1945 in ihrem Heimatort geblieben
waren, wurden zu Fremden innerhalb eines anderen, sich neu bildenden Sozialgefüges.
Die These vom Primat der personalen und sozialen Beziehungen hinsichtlich
des Gefühls des "Zu-Hause-Seins" kann somit als gesichert gelten. Damit
soll nicht gesagt werden, daß das landschaftliche und bauliche Bild der
Stadt keine Rolle spielt. Rene König spricht davon, daß "bei langer
Eingelebtheit [...] alle Verhältnisse zur Umwelt und zur Mitwelt [...]
zutiefst emotional fixiert werden" (12).
Er bezieht die gefühlsmäßige Bindung auch auf Objekte wie das Elternhaus,
die Schule, die man besucht hat, oder besondere landschaftliche Eigentümlichkeiten,
die den Heimatort kennzeichnen. Man wird jedoch annehmen müssen, daß diese
emotionale Fixierung in den meisten Fällen von intensiven oder oft wiederholten
Erlebnissen herrührt, für die das betreffende Gebäude oder der betreffende
Platz als Zeuge fungiert. Die in diesem Fall wörtlich zu nehmende "Rasenbank
am Elterngrab" ist Auslöser von Erinnerungen an die verlorene Familie.
Die Beziehung hat hier, wie König sagt, einen symbolhaften Charakter,
das Symbol steht für etwas, was es selbst nicht ist. Das eigentlich Gemeinte
bei der gefühlsmäßigen Bindung an Gebäude und Plätze sind vergangene oder
noch bestehende personale und soziale Beziehungen, die selbst nicht unmittelbar
sichtbar sind und für die wir gerne sichtbare Zeichen suchen. Sie sind
das Überdauernde, an das sich die Erinnerung heften kann.
Welche Bedeutung haben die geschilderten Zusammenhänge für eine "Neue
Stadt" wie Wolfsburg? Nachteilig für das Heimatgefühl, also das "Sich-heimisch-Fühlen"
sind die notwendig unvollkommene Ausbildung des personalen Beziehungsgeflechts
für alle, die noch nicht lange genug in der Stadt leben, das Fehlen eingespielter
Nachbarschaftsbeziehungen, die relativ geringe Zahl der Verwandten am
Ort. Auch die "emotionalen Fixierungen infolge langen Eingelebtseins"
können in einem Ort, dessen Einwohner in der Regel erst vor wenigen Jahren
zugezogen sind, nicht den gleichen Umfang wie in alten Gemeinden erreichen.
Zudem sind die personalen Beziehungen, wie unsere Untersuchungen zeigten,
in Wolfsburg noch relativ labil und verleihen noch nicht das Gefühl sicherer
Vertrautheit. Die Nötigung, neue Verbindungen zu knüpfen und bestehende
zu korrigieren, ist größer als an anderen Orten, ebenso der Zwang zur
Regulierung von Nachbarschaftsverhältnissen, für die kein fester Verhaltenskodex
besteht.
Die positiven Äußerungen zum Heimatgefühl beinhalten jedoch nicht immer
eine emphatische Zustimmung zur Stadt, sondern nicht selten wird in den
Antworten ein Zwang spürbar, in Wolfsburg sich heimisch fühlen zu müssen.
Gerade bei den Vertriebenen wird gegenüber den relativ negativ zu Wolfsburg
als Heimat eingestellten Personen, die aus Niedersachsen beziehungsweise
der Bundesrepublik zugewandert sind (vgl. die Tabelle), die Ausweglosigkeit
offensichtlich, den ursprünglichen Heimatort wieder erreichen zu können.
Viele von ihnen können daher gar nicht anders, als diese Stadt zu ihrer
"zweiten Heimat" zu machen. Man muß sich zusätzlich vor Augen halten,
daß sehr viele Personen in einer ganz bestimmten Lebenssituation an diesen
Ort kamen. Sie hatten ihre erste Heimat verloren, häufig waren ihre sozialen
Netzwerke zerstört und zerbrochen, und sie sahen nun Wolfsburg nach dem
Kriege quasi als einen ersten und letzten Notanker an, um nach dem Schicksal
der Flucht oder der Vertreibung wieder Fuß zu fassen. Die Vertriebenen
und Flüchtlinge, die sozusagen schon vor der Mitte ihres Lebens "am Ende"
waren, indem sie gewissermaßen "Haus und Hof" beziehungsweise "Stadt und
Dorf" hatten aufgeben müssen, waren praktisch gezwungen, nun diese Stadt
Wolfsburg zu "ihrer" Stadt zu machen. Die überwiegend positive Beurteilung
läßt sich also auch aus den Kohortenschicksalen der befragten Vertriebenen
erklären, daß den hier Befragten nach ihrer Lebensgeschichte praktisch
nichts anderes mehr übrig blieb, als sich diesem Ort gegenüber zu öffnen
und ihn anzunehmen und zu versuchen, ihr Leben dort möglichst harmonisch
zu fristen.
Wie hat sich nun das Heimatgefühl der Wolfsburger in den letzten zwei
bis drei Jahrzehnten entwickelt? Mit jedem Jahresring hat die neue Stadt
Wolfsburg auf dem langen Weg von einer Werkssiedlung zu einer Großstadt
einen Schritt auf jene Normalität hin gemacht, die nun einmal ältere Städte
auszeichnet. (13)
Im Zentrum der zweiten Untersuchung der Stadt Wolfsburg stand 1980 die
nochmalige Befragung von etwa 500 Personen, die schon zwanzig Jahren zuvor
an der Studie teilgenommen hatten. Wieder wurde dieselbe Frage nach dem
Heimat-Bewußtsein gestellt. (14)
Im ganzen hat sich das in der Tabelle dargestellte Meinungsspektrum nur
unwesentlich verschoben, denn drei Viertel der nochmals Befragten blieben
in ihrer Einschätzung konstant. Den Rest bilden überwiegend Leute, die
von einer negativen zu einer positiven Meinung zum Heimatgefühl in Wolfsburg
gewechselt sind. Nicht selten wird auf die Zeit hingewiesen, die es dauert,
bis ein Gefühl des Heimisch-Seins entsteht. Manchmal wird auch ein normativer
Druck spürbar, wenn wiederholt Befragte sagen, daß man sich nach
zwanzig Jahren einfach heimisch fühlen müsse. Insgesamt scheint sich die
Spruchweisheit zu bestätigen, daß die Zeit alle Wunden heilt, denn über
die Hälfte der zwanzig Jahre vorher zum ersten Mal befragten Einwohner
waren Flüchtlinge oder Vertriebene, bei denen diese Thematik von 1960
auch noch 1980 nicht selten eine "Trauer über ein verlorenes Zuhause"
weckt.
Es konnte in der zweiten Befragung wieder bestätigt werden, daß es vor
allem die sozialen Beziehungen sind, die die Stadt zur Heimat für Menschen
werden lassen, auch angesichts der Tatsache, daß es 1980 schon viel mehr
Personen gab, die in Wolfsburg geboren waren. Bei denjenigen, die sich
1980 heimisch fühlen, knüpft sich das soziale Netzwerk signifikant dichter:
Intensivierung der nachbarlichen Interaktionsfelder, Konsolidierung des
Verkehrskreises durch Expansion der Bekannten- und Verwandten-Beziehungen.
Weiter gibt es eine Parallele zwischen der städtischen Entwicklung und
der individuellen Lebensgeschichte. Das scheint typisch für eine "Neue
Stadt" zu sein, die erst allmählich ihre Konturen gewinnt und in der noch
nicht alles "fertig" ist. Das kommt zum Beispiel in folgenden Zitaten
zum Ausdruck: "Man kann sagen, daß man sich hier in den Jahren eingelebt
hat, und ich fühle mich als Wolfsburger [...] Ich glaube nicht, daß ich
in einer anderen Stadt die letzten zwanzig Jahre so gelebt haben
könnte wie hier. Dies war eine Stadt, wie wir hierher kamen - wo nichts
war. Und wir kamen ja auch von einem Nichts. Und wir hatten ja alle nichts.
Dann ist das hier so gemeinsam hochentwickelt. Und dann freut man sich.
Man freut sich, wie alles so schön geworden ist." (ungelernter Arbeiter,
seit 1955 in Wolfsburg, aus Ostpreußen)
Oder: "Habe den Aufbau mitgemacht, und in diesem Sinne sahen wir beide,
meine Frau genauso wie ich, damals Wolfsburg als zweite Heimat an. [...]
Wir waren jung, wir hatten unsere Familie aufgebaut und die Wohnung gefunden.
Und so durch den Aufbau der Stadt, so hat man das als zweite Heimat angesehen.:
(Facharbeiter, verheiratet, aus Danzig, 55 Jahre alt)
Oder eine andere Aussage: "Ob man sich heimisch fühlen kann, daran ist
jeder selbst schuld. Ich fühle mich hier heimisch, weil ich den Stadtaufbau
miterlebt habe. Ich freue mich immer, wenn ich in meine Wohnung komme."
(Planungsingenieur vom Eichelkamp, 52 Jahre alt)
Die Korrespondenz zwischen der Dynamik städtischer Expansion und Veränderung
auf der einen und individueller Lebensgeschichte - oft im Rahmen der Familie
- auf der anderen Seite scheint eine Lebenseinstellung zu begünstigen,
die gewissermaßen Voraussetzung einer Identifizierung mit dem Ort ist.
Man muß dann - in Abwandlung einer auf die Wohnung bezogenen Metapher
- nicht mehr "gegen die Stadt anwohnen", man fühlt sich aufgehoben, bestärkt,
ja beflügelt, indem Gemeinsames zwischen städtischer und individueller
Entwicklung erkannt wird. (15)
Nun läßt sich aber auch am Beispiel Wolfsburgs sehr deutlich zeigen, daß
baulich-räumliche Besonderheiten für die Entstehung der Heimatbindung
nicht unerheblich sind. Wolfsburg hat zwar inzwischen eine individuelle,
unverkennbare Gestalt, aber es fehlt eben die Atmosphäre, die ältere Städte
mit Tradition eher vermitteln. Immer wieder taucht in den Antworten das
Attribut "nüchtern" auf. Wolfsburg ist halt nicht "gemütlich" Um es auf
einen Nenner zu bringen: Es wird beklagt, daß es - einmal abgesehen vom
Schloß - keine baulichen und sozialen Überlieferungen aus einer Zeit gibt,
zu der man selbst noch nicht in der Stadt war. Man vermißt die Gegenwart
der Geschichte, vor allem alte Häuser aus früheren Epochen, über die zum
Beispiel das nahegelegene Braunschweig reichlich verfügt.
Die Innenstadt soll nicht nur funktionieren, sie soll als das alleinige
Interaktionsfeld für potentiell alle Bewohner auch die Stadt als Ganzes
repräsentieren. Diese Leistung vollzog die Stadtmitte in Wolfsburg lange
Zeit nicht, und dies war ein folgenreicher Geburtsfehler der neuen Stadt.
Zunächst prägten Brachflächen die Stadtmitte. Erst gegen Ende der fünfziger
Jahre, also etwa zwanzig Jahre nach der Gründung, begann die Porschestraße
die Zentrumsfunktion zu übernehmen. Hier wurden zwar die wichtigsten Funktionen
konzentriert, aber von "Repräsentation" konnte man kaum sprechen.
Ein unverwechselbares Zentrum entstand in Wolfsburg erst 1980 durch die
Umgestaltung der Porschestraße zur Fußgängerzone. Die millionenschweren
Investitionen dienten einerseits dem kulturellen beziehungsweise rekreativen
Nutzen, ihnen kam jedoch auch immer eine ästhetisch-symbolische Funktion
zu. Mit jedem dieser Großprojekte bewegte man sich auf eine "richtige
Stadt" zu insofern, als es sich hierbei um städtische Identifikationsobjekte
erster Ordnung handelte. Die Umgestaltung der Porschestraße wird von vielen
Befragten als ein ganz hervorragendes Ereignis der letzten zwanzig Jahre
bezeichnet.
Jean Amérys Frage, "wieviel Heimat braucht der Mensch?", kann auch
am Ende dieses Beitrags nicht beantwortet werden. Unsere empirischen Forschungen
in der "Neuen Stadt" Wolfsburg konnten jedoch belegen, daß die "Suche
nach Heimat" (16)
auch heute noch oder gerade typisch ist in einer Zeit, die sich durch
eine nicht zu unterschätzende Individualisierungsdynamik auszeichnet.
Es scheint so zu sein, daß gerade in einer Zeit, die durch große Wanderungen
und kleinräumige Mobilität charakterisiert werden kann, eine gewisse Raumgebundenheit
notwendig bleibt, um den Aufbau von Identifikationsleistungen zu sichern,
die für jeden Menschen zur Identitätsgewinnung notwendig sind. Die soziale,
kulturelle und räumliche Verortung des einzelnen erfordert eine gewisse
zeitliche Dauer an einem Ort.
Wenn von Heimat und Heimatgefühl
die Rede ist, wird häufig nur an den Ort der Kindheit und Jugend gedacht.
Aber die emotionale Raumbezogenheit, die Entsprechung von Ich und Umwelt
ist - das haben unsere Forschungen deutlich gezeigt - den Menschen nicht
in die Wiege gelegt, sondern muß im Verlaufe des Lebens (und das schließt
heute wechselnde Orte ein) immer wieder neu aufgebaut und erarbeitet werden.
Die prinzipielle Entkoppelung von Kindheit und Heimat ermöglicht es, den
Begriff der Heimat als Maßstab für einen erfolgreichen Integrationsprozeß
in das lokale System von Städten und Gemeinden zu verwenden: Die Kennzeichnung
eines Ortes als Heimat kann nicht auf Erfahrungen aus einer Lebensphase
fixiert werden, sondern ist Ergebnis einer biographisch variablen Raumdeutung.
Heimatgefühl stellt sich zuallererst aufgrund der Einbindung in ein soziales
Netzwerk ein. In den Wolfsburg-Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß
diese soziale Verortung die entscheidende Voraussetzung für ein Heimisch-Fühlen
darstellt. Das Primat der personalen und sozialen Bindungen bei der Begründung
eines Heimatgefühls darf aber nicht übersehen lassen, daß es wie der Sozialpsychologe
Mitscherlich es einmal ausdrückte - "Markierungen der Identität des Ortes"
(17) geben
müsse, damit sich mit ihnen etwas verbinden läßt, damit sie neue Symbole
für persönliche Erlebnisse und Erfahrungen werden können. Wenn man unter
diesem Gesichtspunkt die "Neue Stadt" Wolfsburg betrachtet, so ist sie
wahrhaftig keine Dutzendstadt - allerdings hat sie kaum unverwechselbare
Bausubstanz aus anderen historischen Epochen zu bieten. Die architektonischen
und städtebaulichen Besonderheiten bedürfen daher in besonderem Maße der
planerischen Aufmerksamkeit.
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