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"Der sozialistische Mensch".
Der Titel läßt die Erwartung zu, es handle sich um eine typologische Figur
von holzschnittartiger Eindeutigkeit, ein auf zwei Beinen daherkommendes
Wesen, das neben individuellen Zügen eine Reihe von Merkmalen aufweist,
die es zu einem "sozialistischen" werden lassen, einem gleichsam höherentwickelten
Wesen, das man anhand spezifischer Qualifikationen mittels einer Art Checkliste
erkennen kann.
Dieses ideale Wesen hat es gegeben - wenn auch weniger in der Realität
als in literarischer Bearbeitung, im Einklang mit und als Ergebnis des
Aufbaus der "ersten sozialistischen Stadt". Es mag der Mythenbildung
um den in der frühen DDR einmaligen Vorgang, eine ganze Stadt und ein
großes Werk unter der Voraussetzung nichtkapitalistischer Rahmenbedingungen
zu erbauen, geschuldet sein, daß eine solche literarische Kunstfigur,
genauer, eine Gruppe sich zu Sozialisten entwickelnder Menschen, existierte
und als Teil einer literarischen Realität heute unsere Vorstellungen vom
"sozialistischen Menschen" prägt: Über Eisenhüttenstadt zu berichten
bedeutet, sich an den Mythen abzuarbeiten.
Die andere Seite sind die Berichte von Menschen, die aus den verschiedensten
Gründen in die Stadt gekommen sind, um dort zu leben und zu arbeiten.
In ihren Erzählungen stehen weniger die Mythen des Aufbaus, als vielmehr
lebenspraktische Überlegungen im Mittelpunkt - Eisenhüttenstadt bedeutete
"Chancenwanderung". Diese Erzählungen, alle lange nach dem Ende der DDR
auf Grundlage von Interviews entstanden, sind situationsbedingt zurückhaltend:
In einer Zeit, in der Sozialistisches, vor allem, wenn es mit der DDR
verknüpft ist, in der herrschenden Meinung eher negativ belegt ist, in
der also das Umfeld wenig dazu einlädt, die Utopien, Träume und Handlungen
von früher positiv und verstärkend in eine gesellschaftliche Praxis einzubinden,
wird eine Bewertung dieser Äußerungen nur mit großer Vorsicht vorzunehmen
sein. Es mag sein, daß viele der Erzählungen vor zehn Jahren gänzlich
anders ausgesehen hätten. (1)
1958 versuchte die SED-Führung erstmals, für das Verhalten der Bevölkerung
Vorgaben zu formulieren. Wenngleich die "Zehn Gebote der sozialistischen
Moral" - verkündet auf dem V. Parteitag der SED - nur eine begrenzte
Wirkungsdauer hatten, wurden die DDR-Bürger auch später stets in der Rolle
von Schülern gesehen, die sich zu "bewähren" und zu "betätigen", "gesellschaftliche
Anerkennung" zu gewinnen hatten. Ziel war es, eine "feste moralische Bindung
an unseren Staat" (2)
herzustellen.
Inwieweit hatte diese ideologische Forderung Einfluß auf das Bild von
den Menschen, die die "erste sozialistische Stadt" aufbauten? Der "sozialistische
Mensch" wird binnen weniger Jahre literarisch konstituiert, zunächst tastend
beschrieben, dann als reduzierte Idealfigur propagiert, um zugleich wie
selbstverständlich Teil einer modernen Lebenswelt, wie sie das damalige
Stalinstadt symbolisierte, zu werden. In dieser "Normalisierung" steht
der "sozialistische Mensch" den Lebensplanungen und Wünschen der Menschen
nach einer Phase politischer Überhöhung auf einmal wieder nahe: Bereits
zu Beginn der sechziger Jahre sind die Mythen des Aufbaus Legende geworden,
der Mensch lebt zentralbeheizt.
Bewährung im Alltag - die literarische Verarbeitung der Aufbaugeneration
Es gilt, sich zu verdeutlichen, daß die fünfziger Jahre eine Zeit des
Aufbaus waren, die bei Fürstenberg an der Oder ein neues Werk und eine
neue Stadt entstehen ließen. In dieser Aufbauleistung liegt zugleich ein
politischer und ideologischer Anspruch verborgen, nämlich eine sozialistische
Alternative zu schaffen und damit eine Utopie in bauliche und soziale
Wirklichkeit umzusetzen. Die "frühen Jahre" sind damit Gegenstand von
Projektionen geworden - die Stadt steht für das Ganze, die DDR, den Sozialismus,
ihre Bewohner stellvertretend für den Menschen der Zukunft und für die
Konflikte der Zeit. In ihrer literarischen Gestaltung gewinnen die Erbauer
und Bewohner Stalinstadts erst schrittweise eine Typisierung, die sie
in Schwarzweiß-Muster der Zurückbleibenden und der sich an die Fragen
der Zeit Heranarbeitenden unterteilt. Die "sozialistische Persönlichkeit"
ist noch nicht eingelöst, sie formt
sich am Aufbau der "ersten sozialistischen Stadt".
"Eine Kolonne Jugendlicher zog an ihnen vorbei, sie waren müde und heiser
und marschierten singend." - "ln der gleichen Versammlung beschloß die
Jugend, wegen des Mangels an Werkzeugen in zwei Schichten zu arbeiten."
Leitmotivisch hat Karl Mundstock in seinem Roman "Helle Nächte" (3)
die Jugend und ihren Enthusiasmus als Kern und wesentlichen Antrieb beim
Aufbau von Werk und Stadt vornangestellt. Dennoch liest sich diese erste
literarische Gestaltung Stalinstadts nicht so floskelhaft, wie das Eingangszitat
vermuten läßt. Die handelnden Figuren, im Gegensatz etwa zu Hans Marchwitzas
1955 erschienenem Roman "Roheisen", zeigen individuelle Züge: Sie sind
von der Vergangenheit, der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt und entwickeln
sich im Verlauf des Romangeschehens bei der Arbeit und im Kollektiv zu
"neuen Menschen".
Nur wenige, so der optimistische Grundtenor der Zeit, bleiben zurück:
Dies sind die Schieber, personifiziert in einem Bauern und einem Gastwirt,
die eine zweifelhafte Gesellschaft mit markenfreien Koteletts versorgen,
und unter ihren Gästen einige Funktionäre, die sich auch bei ihrer Arbeit
als überheblich, ihrer Verantwortung nicht gewachsen und am Wohl der ihnen
Anvertrauten nicht interessiert zeigen (der Kulturdirektor, der Vorsitzende
der Betriebsgewerkschaftsleitung). Positiv gezeichnet, wenn auch mit Schwächen
behaftet, wird dagegen das übrige Leitungspersonal: der Bauleiter, der
eigentlich nur einen Hochofen bauen will, im Verlauf der Handlung aber
das Ganze begreifen lernt, der "bürgerliche Spezialist", der am Ende seines
Berufslebens vom Enthusiasmus der Jugend überzeugt wird und noch einmal
helfen will, der Parteifunktionär, der die Vorteile des Arbeitens im Kollektiv
begreifen lernt und seiner Selbstaufopferung dadurch einen Sinn gibt.
Eigentlicher Held in Mundstocks "Helle Nächte" ist die Jugend. (4)
An ihr wird nicht nur die Entwicklung zum "sozialistischen Menschen" dargestellt,
sie steht zugleich auch für das Neue insgesamt, das sich in der entstehenden
Stadt ausdrückt. Der Roman ist im eigentlichen Sinne der Bericht über
das Wirken der Jugendbrigaden beim Aufbau des EKO und die individuelle
Entwicklung jugendlicher Helden. Im Gegensatz zu Brigitte Reimanns Erzählung
"Ankunft im Alltag" von 1961, in der die Hauptfigur sich in eine bereits
lange im Aufbau befindliche sozialistische Betriebswelt hineinfinden muß,
nach Hoyerswerda gelangt und sich dort in der Wirklichkeit bewähren muß,
finden die Helden in Mundstocks Roman keine bereits eingerichtete Welt
vor; sie müssen selbst ihre Grundlagen schaffen.
"Wo man hinhört, heißt es: das neue Werk. Jeden Tag steht was in der Zeitung
darüber. Am Rathaus hängt ein Anschlag: "Arbeitskräfte gesucht". Wofür?
Für das neue Werk! Sie brauchen uns dort, und wir klauben hier Papierchen,
verfassen Berichte, schleusen aus einer Sitzung in die andre! Mit zwanzig
Jahren Schwielen am Hintern, mit dreißig Arterienverkalkung, mit vierzig
Rentenempfänger! Nee, du, ich will noch mit siebzig die Axt schwingen
wie jetzt die Füllfeder. Ich bin Zimmermann!" (S. 21 )
Der Weg zum "neuen Menschen" ist versperrt durch die individuelle Vergangenheit,
die dazu da ist, überwunden zu werden: Nicht "Ankunft im Alltag", sondern
"Bewährung im Alltag" ist das Thema des Romans, der dies anhand zweier
jugendlicher Personenpaare - Günther und Gerda, Jürgen und Christa - entwickelt.
Während Jürgen - "Ich bin Zimmermann!" seinen Weg geht, quält sich Christa
mit ihrer Vergangenheit als Helferin eines Schiebers. Sie wagt es nicht,
ihre Verfehlung einzugestehen und kann, obwohl zur Brigadeleiterin gewählt,
nicht das volle Vertrauen ihrer Gruppe gewinnen. Sie vereinzelt, stürzt
sich in die Arbeit auf der Baustelle und bei der FDJ, verkümmert also,
bevor sie sich offenbaren und dadurch befreien kann. Jürgen, der geduldig
Wartende und jugendliche Held, und Christa, der nur ein Geständnis den
Weg in die Zukunft verlegt, bilden ein leitmotivisches Paar.
Günther, Jürgens Freund und mit ihm auf die Baustelle gegangen, wird "Stempel"-Günther
genannt, weil er bei der FDJ eine Schreibtischtätigkeit innehatte und
diese offenbar mit Perfektion betrieb. Günther bleibt Funktionär, ein
Theoretiker und Lehrer, der die Entwicklung seines Gegenübers
Gerda hemmt. Persönlichkeitsentwicklung und Zukunftsperspektiven sind
in diesem Paar literarisch formuliert: Günther begründet auf einer Funktionärsversammlung
seinen Entschluß, auf die Baustelle zu gehen: "Freunde, Genossen!" fuhr
Günther fort. "Da ist die Gerda, sie singt auf der Baustelle! Ihr müßt
mal hören, wie das klingt, wenn sie bei der Arbeit singt! Bei ihr ist
jedes Lied ein Axthieb und jeder Axthieb ein Lied. Geregnet hat's Tag
und Nacht, der Boden ist aufgeweicht, da kommt sie ins Zelt, pitschnaß.
"Stell dir vor", sagt sie, "in einem Jahr stehen hier Häuser, jeder hat
ein Badezimmer und geht unter die Dusche, wenn es ihm gefällt, nicht,
wann der Himmel will!" Da ist er, der neue Mensch!" (S. 30)
Gerda, von der es heißt, sie habe ihre Vergangenheit wie ein schmutziges
Hemd von sich geworfen, also nicht verarbeitet, setzt sich den immer engeren
Moralnormen Günthers aus. Günther: "Damals, als ich dich zum erstenmal
sah, mit der Axt im Wald, dachte ich: Dort kommt der neue Mensch. - Und
dann deine Liebesgeschichten!" Sie erwiderte fröhlich: "Wenn ich einer
von den neuen Menschen bin, dann sind diese eben auch keine Engel!" Dieses
Wort erboste ihn. Gerda dachte, nun wird er eine Standpauke halten, danach
werden wir tanzen, und alles wird gut sein. Aber er sprach nicht von ihr,
er setzte sein Referat fort." (S. 89f.)
Am Ende ist auch Günther geläutert und verkörpert selbst das neue Menschenbild:
"Nichts ist so kompliziert wie der Mensch", sagt Gorki. Lest nur Gorki,
dann werdet ihr finden, warum wir Gerda nicht [aus der Partei, d. V.]
ausschließen dürfen. Vielleicht wissen nicht alle, daß sie halbwüchsig
aus ihrem Dorf getrieben wurde. Die Nazis brannten es nieder, eine deutsche
Ortschaft! In der Stunde, als Dresdens Kunstwerke Schutt und Asche wurden,
verlor sie auch ihre Eltern durch amerikanische Bomben. Sie war der Lockvogel
in einem Schiebernest, und heute schafft sie 143 Prozent." Hier ist die
Entwicklung zum sozialistischen Menschen auf den knappesten Punkt gebracht:
Aus der Erfahrung des Krieges und der Nachkriegszeit in einer neuen Zeit
angelangt, sprengt die Heldin die Norm. Schon in dieser, auf Dramatik
angelegten, knappesten Paraphrase bleibt außer acht, warum der Mensch
"kompliziert" ist.
Die Stilisierung der Aufbaugeneration.
Zehn Jahre Stalinstadt
Im Jahre 1959 konstatierte die Kreisleitung der SED ein Zurückbleiben
von Kunst und Literatur in der "politisch-ideologischen Erziehungsarbeit"
(5) und beschloß,
das zehnjährige Bestehen Stalinstadts mit einem Massenaufgebot kultureller
Darbietungen zu begehen. Es fehlte nach Ansicht der SED an einem einheitlichen
Ziel: "Mit diesen Hüttenfestspielen ist gleichzeitig für alle bestehenden
Gruppen eine einheitliche Zielstellung gegeben worden, und es kommt jetzt
darauf an, die große Begeisterung, die in unserer Jugend vorhanden ist,
einheitlich zu lenken und auf diesen kulturellen Höhepunkt zu führen."
Die ersten Hüttenfestspiele boten ein buntes Festprogramm, dessen Höhepunkt
das Singspiel "BIast das Feuer an" war, das allabendlich auf der in freiwilliger
Arbeitsleistung im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks errichteten Freilichtbühne
gespielt wurde. (6)
Die in der Stadt ansässigen Autoren Helmut Preißler und Werner Bauer wurden
beauftragt, eine Fabel für das Singspiel zu "dichten"; es entstand eine
Textfolge für ein Nummernprogramm, (7)
das die wichtigsten Ereignisse und wesentlichen Entwicklungen von Stadt
und Werk thematisierte:
die Überwindung der Vergangenheit, die (zeitlich befristete) Lebensweise
der Menschen als Bauarbeiter, das Einfinden ins Kollektiv, die Quallfizierung
für die Hochofenarbeit in der Thüringer Maxhütte, Probleme bei der Roheisenproduktion,
die Hilfe der Sowjetunion beim Aufbau. Themenkanon und Figurenkonstellation
(ein Liebespaar bewährt sich in den Alltagsforderungen des sozialistischen
Aufbaus) folgen den literarischen Vorlagen von Mundstock und Marchwitza,
wenn auch aufgrund der notwendig knappen literarischen Form äußerst verkürzt.
Eine differenzierte Gefühls- und Erlebniswelt, wie sie der Roman bieten
kann, war auch gar nicht gefordert; das Singspiel entstand in propagandistischer
Absicht: "Die Hüttenfestspiele sind eine neue Form des künstlerischen
Massenschaffens. Ohne eine durchgehende Handlung werden sie die 10 Jahre
schwerer und erfolgreicher Aufbauarbeit in der 1. sozialistischen Stadt
und des Werkes so deutlich machen, daß jeder begeistert wird von der großen
Kraft und Stärke der Volksmassen unter Führung der Partei der Arbeiterklasse.
[...] Vier typische Figuren für den Aufbau Stalinstadts werden durch das
gesamte Spiel hin laufen. Es sind diese: Eine Genossin, ein ehemaliger
Landarbeiter, ein sogenannter Goldgräber, der nur seine persönlichen Vorteile
beim Bau des Kombinates sieht, und ein Angehöriger der alten bürgerlichen
Intelligenz. Diese 4 Personen werden sich im Verlaufe der Handlung zu
den heute typischen Werktätigen wandeln." (8)
Auch in Jean Kurt Forests "Stalinstädter Oper" werden die bereits literarisch
gestalteten Figuren der Aufbauzeit (der böse Wirt, die Spionin, der rauhe
Bauarbeiter mit gutem Kern, der zweifelnde Held) erneut auftreten. (9)
Die Schwierigkeiten des Aufbaus waren für den Komponisten der wesentliche
Teil der Handlung: "Am Anfang ist das, was ich für das Schönste an dem
Stück halte: Per aspera ad astra, durch Nacht zum Licht kommend, aus dem
Dreck, aus dem Schlamm entsteht ein Werk und eine Stadt. Die Arbeiter
ziehen das aus dem Schlamm, ziehen sich sozusagen selbst an den Haaren
aus dem Schlamm." Die Reaktion der Arbeiter, mit denen die Oper diskutiert
wurde, sah er ernüchtert: "Sie alle aber waren beleidigt. [...] Sie wollten
nicht mehr wissen, wie schwierig es damals war." Statt dessen gefiel den
Arbeitern, so die Erinnerung von Forest, vor allem der optimistische Schluß,
bei dem das Erreichte wie in einem großen Fest gefeiert wurde. Dies läßt
die Frage aufkommen, welches Selbst- und welches Fremdbild die Stadt evozierte,
was die Bewohner und was die Beobachter fasziniert haben mochte.
Waren bei den frühen
literarischen Beschreibungen der neuen Stadt in der ersten Hälfte der
fünfziger Jahre vor allem die inneren Zweifel der Menschen und ihre mühevolle
individuelle Entwicklung wichtigstes Thema gewesen, so steht zum zehnten
Jahrestag von Stadt und Werk der Erfolg bereits fest und wird als Ergebnis
in heroische Worte gekleidet: "Es begann ein neues Heldentum, das es in
Deutschland noch nicht gab", konstatierte der Schriftsteller Joachim Kappel,
der mit dem Verfassen einer Festschrift beauftragt worden war. (10)
In diesem, aus nicht näher bekannten Gründen ungedruckt gebliebenen Text
(11) heißt
es kurz und knapp: "Der Mensch bekam ein neues Gesicht." (S. 44) "Stalinstadt
ist pulsierende Gegenwart, geboren aus dem jahrzehntelangen, blutigen
und opferreichen Kampf der deutschen Arbeiterklasse. Diese Stadt ist historische
Notwendigkeit." (S.4)
Die Stadtutopie
Wie sollte die "pulsierende Gegenwart" aussehen; welche Träume und Wünsche
werden über die Stadt und das Leben in ihr formuliert?
Bereits bei Karl Mundstock entsteht in den Reflexionen mehrerer Protagonisten
das Bild der Stadt der Zukunft. Die Träume des Bauleiters schweifen von
den Fragen der Gegenwart auf die der Zukunft ab: "Du siehst nur, was dir
vor Augen steht [...], sprach Kamp mit sich, du siehst nicht, was wird,
dein Blick schweift nicht in die Zukunft, und nie träumst du von der neuen
Stadt, die sich hier vom alten Städtchen bis zur Kreisstadt erstrecken
wird, mit dem Werk in der Mitte als stählernem Kern. Es wird keine Hinterhöfe
und keine Gassen und keine Kaschemmen geben in diesem neuen Gebilde, das
eigentlich keine Stadt war wie bisher Städte. Dort wird es keine Straßen
geben, nicht das, was bisher Straßen gewesen waren: die asphaltenen oder
kopfsteingepflasterten
Gründe der Häuserschluchten. Die Straßen dieser ersten sozialistischen
Stadt in Deutschland wären wie Ströme, die man nur an den Brücken überschritt.
Sie hatten grüne Ufer und in der Mitte einen grünen Landstreifen. Noch
besser: Die Stadt war ein grünes Meer, die Häuser waren die Inseln darin.
Bäume und Büsche wogten zu ihnen empor. Wenn man richtig hinschaute, dann
war die Stadt, diese Herberge der Hundertausend, keine Stadt trotz himmelragender
Schlote. Es war, als ob sich die Dörfer zu einem Mittelpunkt zusammenzogen,
als ob sie aus ihrer über das Land verstreuten Lockerheit heraustraten,
ihre Felder und Wälder zu Gärten und Parks, ihre Häuser und Scheunen zu
Wohnsiedlungen und Warenhäusern verdichteten. Den Gegensatz zwischen Stadt
und Land gab es nicht mehr, wie es den Zwiespalt zwischen Natur und Technik
nicht gab, wie überhaupt aller Haß getilgt war. Sie hätten solche Städte
nicht bauen können, wären sie die alten Menschen geblieben." (12)
"Welch ein Bild! Ihr Kran bleibt der höchste! Unter ihr das blühende Land,
die Felder golden, die Gärten grün, die Wälder dunkel. Die Mosaike der
Dörfer, des Städtchens immer reicher, immer bunter, immer näher aneinander
und jetzt mit den Hochöfen und Walzstraßen und Wohnsiedlungen und Kulturstätten
und Parks, vom Menschen geprägter Landschaft verbunden. Herr der Schöpfung,
überschaute Christa sie aus ihrer Höhe. Unter ihr schrumpfte die Erde
zum Globus, den die Menschen nach ihrer Lust modelten, Flüsse umlenkten,
Gebirge abtrugen, Täler auffüllten, Wüsten in Gärten verwandelten." (13)
Es entsteht das Bild eines Paradieses und der Harmonie in Form eines industriellen
Gartenreichs, (14)
einer zum Park gewordenen Landschaft, der Stadt als Agglomeration von
Wohninseln und Industrie. Die Beherrschung der Natur durch den Menschen,
hier symbolisiert durch das bei Mundstock mehrfach wieder aufgenommene
Motiv des Kranführers als Weltbeherrscher, gekoppelt mit den Vorstellungen
der (durchaus auch westlichen) städtebaulichen Moderne in dieser Zeit,
macht die neue Stadt zu einer durchgrünten Stadt-Landschaft.
Und welche konkreten Wünsche hatten die Menschen? "In einem Jahr war das
Lagerleben nur noch Erinnerung. Dann war alles geordnet, geregelt, hygienisch
einwandfrei, nett eingerichtet, und doch nicht so prächtig wie jetzt!
Neben der Barackenstadt erhoben sich mehrstöckige feste Wohnhäuser mit
Balkons und Badezimmern, jeder hatte ein Zimmer für sich und ein richtiges
weiches Bett; aber das war alltäglich und langweilig, wenn man auch dorthin
strebte! Man selbst wohnte darin, wenn man vom Bau zum Werk überging,
Stahlwerker, Schmelzer, Former, Walzer, Lokführer, Schlosser, Elektromechaniker
oder Sachbearbeiter eines interessanten Spezialgebietes wurde. Aber nein,
an einen Schreibtisch ließ er sich nicht mehr fesseln, nicht einmal an
den eines Kulturdirektors. Er hatte die Freiheit gekostet. Wenn schon
ein hoher Posten, dann - Maschinist eines Schwebekranes!" (15)
Abenteuerlust und die Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen stehen in
den Vorstellungen des morgens auf seiner harten Pritsche träumenden FDJ-Aktivisten
und zeitweiligen Rodungsarbeiters noch im Widerstreit. Als Ausweg für
die zu bändigende Freiheit steht der Kran, Symbol für Weltbeherrschung
und Unabhängigkeit. Zehn Jahre später kulminiert die Liebesszene zwischen
Karl und Gitty in der "Stalinstädter Oper" in Wohnungseinrichtungsträumen,
die sich an die Aussicht auf Zuweisung einer Dreizimmerwohnung knüpfen.
Das pragmatische Angebot "Ich bin aus Stalinstadt", lautete der Titel
eines Beitrags aus dem Jahre 1961. (16)
Gehalten im Tenor einer voller Stolz die neue Heimat vorführenden Bewohnerin
der Stadt ("Hallo, Fräulein, sind Sie aus Stalinstadt?"), wird das Programm
der bewohnten Moderne ausgebreitet: "Am besten, Sie kommen kurzerhand
einmal her und schauen sich bei uns um. Wenn Sie sich aber hier eine Wohnung
nach Ihrem Geschmack aussuchen dürften, so bin ich ziemlich sicher, daß
Sie im vierten Wohnkomplex haltmachen und sagen: "Hier bleiben wir!" Vielleicht
soll s eine gemütliche 2 1/2-Zimmer-Wohnung sein mit Einbauküche,
Bad und Balkon? Keine Angst, daß Sie sie nicht bezahlen können!
Mit Fernheizung und fließend Kalt- und Warmwasser kostet alles nur 53
DM. Und wie hübsch sehen diese Häuser von außen aus." (S. 437)
Hier gewinnt ein neues Motiv an Gewicht, das bereits in den ersten literarischen
Beschreibungen auftauchte, jedoch zumeist gebrochen, gemessen an der Faszination
des gemeinsamen Aufbaus; die Träume der Zukunft, bei Mundstock und Marchwitza
noch oftmals diffuse Hoffnung auf Glück, werden hier konkret. Zwar fehlt
es weder an einem Rekurs auf die Geschichte der Stadt ("[...] wir Großen
aber haben uns hier eine Heimat gebaut, auf die wir stolzer sind, als
wenn wir sie von Urvätern geerbt hätten", S.435) noch an Utopie ("Aber
das Schöne an unseren Plänen ist, daß sich die meisten schon ein paar
Jahre später verwirklichen werden. Wir brauchen keine Angst zu haben,
daß wir mit unseren Träumen alt werden, weil wir alle selbst mit anpacken,
um sie zu verwirklichen", S. 441), jedoch ist der Beginn geschafft und
die Zukunft eine Selbstverständlichkeit geworden. Was zählt, ist der reale
Vorteil symbolisiert in der Wohnung. Der "sozialistische Mensch" erscheint
nurmehr als Referenz: "Wo aber bleiben die Menschen? Du hast sie uns etwas
pauschal vorgestellt." Richtig. Es sind Menschen wie du und ich. Mit kleinen
Mängeln und mit noch manchen Unzulänglichkeiten. Aber es sind Menschen
mit Schwung. Stolz sind sie auf ihr Werk und auf ihre Stadt. Du liest
von ihnen täglich in der Zeitung, siehst sie in der Wochenschau und im
Fernsehen, hörst von ihnen im Rundfunk. Erbauer des Sozialismus, sozialistische
Menschen, sie erst hauchen durch ihre Arbeit all dem den Odem ein, erfüllen
es mit Leben, sind die Schöpfer einer Zukunft in Frieden und Glück." (S.
442)
Was ist Floskel, was real? Mit ihrem Hinweis auf die günstige Wohnung
führt uns Siglinde Uebel auf eine zentrale Motivation, nach Eisenhüttenstadt
zu ziehen. Ein Zugewanderter erzählt: "Na ja, so bin ich dann nach Herzberg
/ Elster, dort habe ich meine Frau kennengelernt, dort haben wir geheiratet,
und dann kam das Problem, was an und für sich ausschlaggebend war, die
Wohnungsfrage. [...] Als mein Sohn unterwegs war, mußte ich mich nun langsam
kümmern, denn es wurde zu eng bei den Schwiegereltern." Nach verschiedenen
Stationen und vergeblichen Versuchen, eine angemessen Wohnung zu finden:
"Dann kam Eisenhüttenstadt dran, hier bin ich geblieben, ich habs nie
gewollt. [...] Das lief unter der Überschrift "Eisenhüttenstadt EKO, Inbetriebnahme
des Kaltwalzwerkes." Und: "dringend werden benötigt usw. Wohnung innerhalb
eines Jahres". So hieß
das damals, und so hatte man uns das jedenfalls erzählt. Hatte ein paar
Tage Urlaub, ist ja auch nicht allzu weit, von Cottbus hier runter zu
fahren, habe mich hier beworben, vorgestellt, wurde angenommen. Hier muß
man auch wirklich sagen, das Versprechen, innerhalb eines Jahres eine
Wohnung zu erhalten, wie ich wollte, 2 1/2 Zimmer mit Balkon - habe ich
gekriegt. [...] Dann war ich hier. Hab meine Frau mal runtergeholt, "komm",
sage ich, da war ich ja mittlerweile schon Mitte dreißig, "das muß nun
langsam unser letzter Standort werden, wir müssen uns entscheiden, bleiben
wir hier oder nicht". Mit einigen Arbeitskollegen wird die Umgebung besichtigt
und die Entscheidung fällt. "Nun haben wir uns hier eingelebt, wir haben
Freunde gefunden. Ich bin beizeiten in den Eisenhüttenstädter Karnevalsverein
reingegangen, weil ich das schon immer gern gemacht habe. Auch durch die
damaligen Brigadebildungen kam ein Teil doch recht freundschaftlicher
Verhältnisse zusammen. So hat sich das ganz gut angelassen. [...] Ich
würde sagen, es gab ein Hauptproblem, das war mein eigenes auch. Es waren
ja überwiegend junge Leute, die eine Familie hatten, und die aus einer
Ecke kamen, wo das Wohnungsproblem absolut nicht vorwärts ging. Die haben
dann eines Tages gesagt, jetzt ist Feierabend, da kriegen wir sie. So
kamen die Leute her. Erstens waren es bessere Verdienstmöglichkeiten,
und die Wohnungen, ich würde sagen, das waren die ausschlaggebenden Sachen"
(17)
Was sich in dieser Erzählung als Abwägen der Vor- und Nachteile verschiedener
Arbeits- und Lebensmöglichkeiten darstellt, so daß schließlich aufgrund
der günstigen Wohnungssituation zugunsten Eisenhüttenstadts entschieden
wurde, was also als klassisches Beispiel für eine unter den damaligen
Verhältnissen gelungene "Chancenwanderung" zu bezeichnen ist, liegt auf
der Ebene der Argumentation des Berichts im Urania Jahrbuch. Eisenhüttenstadt
steht für die erfolgreich gemeisterte Moderne, bietet Verdienst und Annehmlichkeiten,
das private Glück. Auch wenn der Start und die Eingewöhnung durch die
realsozialistischen Rahmenbedingungen ermöglicht oder erleichtert wurden
(Arbeitsvertrag, die Brigade als befreundeter Kollegenkreis), fehlt dieser
Erzählung das utopische Moment vollkommen.
Das Moment von Zukunft liegt in der Zugehörigkeit zur jungen Generation,
die sich in der neuen Stadt sammelt: "Ich habe [während des Studiums,
d.V.] meiner Freundin gesagt, "also wenn ich fertig bin, ich gehe nicht
nach W. zurück. In diese alte Stadt gehe ich nicht zurück". Aus diesem
Kreis kam dann der Vorschlag, "na, dann mußt du nach Stalinstadt gehen,
dort gibts keine alten Leute. Wenn du nur mit jungen Leuten arbeiten willst,
dann mußt du nach Stalinstadt gehen." Das war eigentlich die Motivation,
nach Eisenbüttenstadt zu gehen, nichts weiter steckt dahinter. Nichts
Politisches noch sonstwas. [...) Als ich dann in Stalinstadt war, dieses
absolut Neue, keine alten Häuser, nur neue Häuser... Ich war im Ledigenwohnheim
untergebracht. Das war ein Komfort zu der damaligen Zeit, also da haben
meine Mitstudenten nur geträumt, die dann nach Rostock oder Halle gegangen
sind, die wirklich sehr schlecht gewohnt haben. Und ich hatte dort schon
eine sehr schöne Unterkunft, und dann, ganz kurze Zeit darauf, [bekam
ich] solche Dachgeschoßwohnung im IV. Wohnkomplex. Das war so ein Beispiel
für junge, ledige Menschen, die noch keine Möbel haben, daß sie ansässig
werden und dann ihre Familie gründen." (18)
Mit dem Motiv der Jugendlichkeit, des Arbeitens unter Gleichaltrigen,
ist der wesentliche Aspekt der Entscheidung für diese Stadt gegeben. Hier
klingt das Motiv des Aufbaus durch die junge Generation aus Mundstocks
"Helle Nächte" noch einmal an, auch wenn die Interviewpartnerin erst 1959
zugezogen war.
Ankunft in der Normalität?
Um 1960 scheint das utopische Projekt eines Stahlwerks mit Wohnstadt bereits
in die Normalität übergegangen zu sein. In der Literatur wie in den Aussagen
der Bewohner steht die pragmatische Organisation des Lebens im Vordergrund,
Fragen der Wohnraumversorgung dominieren über die literarisch gestalteten
Träume der ersten Aufbaujahre. Im V. Wohnkomplex, der ab Ende der fünfziger
Jahre errichtet wird, steht die ehemalige Juri-Gagarin-Oberschule. An
ihrer Fassade ist die Utopie dieser Zeit durch die Keramikarbeit "Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft" dargestellt; im Stadtbild Eisenhüttenstadts
erläutert sie, wohin der "sozialistische Mensch" strebt: Aufrecht greift
er, genauer, die sozialistische Kleinfamilie aus Mann, Frau und Kind,
nach dem Kosmos (der erste Sputnik war einige Jahre früher gestartet),
strebt nach Sozialismus (Hammer und Sichel) und Frieden (symbolisiert
durch die Taube). Im Gegensatz dazu der Mensch in früheren Gesellschaftsperioden,
in denen er sich nur kriechend voranbewegen konnte. Die Utopie ist hier,
im Gegensatz zu den Jahren zuvor, nicht mehr konkret auf die Stadt bezogen,
begreift aber dennoch durch ihren Standort die Entwicklung der Stadt und
ihrer Menschen als Teil eines globalen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses.
Das Motiv der frühen Literatur, der Mensch als Weltbeherrscher, erhält
hier eine zeitgenössische Ausdeutung, die nichtdestoweniger abstrakt wirkt.
Und was wird aus Eisenhüttenstadt? Karl Mundstock kehrte beinahe zwanzig
Jahre nach seinem ersten Besuch auf der Baustelle des EKO noch einmal
in die Stadt zurück und beschrieb die Entwicklung in Skizzen, die eine
Reminiszenz auf die Aufbaujahre mit den Plänen der Gegenwart verband.
(19)
"Hell, leuchtend, legendär verklärt aber steht vor unseren Meistern die
Zeit des schweren, schönen Anfangs, da sie den Grundstein legen halfen
für die neuen Hochöfen, Talsperren, Kraftwerke, Städte, Traktorenstationen,
Klubhäuser, für die neue Republik, den neuen Menschen. Worüber sie damals
fluchten, davon schwärmen sie heute, [...] so wahr ich hier stehe, sage
ich dir: wir waren eine handvoll Schlosser und Schweißer am Hochofen eins.
Meister wurden wie Juwelen gehütet. Bäcker, Schuster, Friseure, Kutscher,
Korbmacher, Köche - wer kam, wurde genommen. [...] Sie sprechen es nicht
aus, aber es klingt in jedem ihrer Worte mit: was waren wir für Kerle!
Nun, wir werden sehen, was sie heute für Kerle sind." (S. 67ff.)
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