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Die zentrale Einkaufsstraße
von Eisenhüttenstadt heißt Lindenallee; sie führt vom Rathaus der Stadt
direkt hin zu einem Eingangstor des Stahlwerks. Es gibt Schaufenster mit
bunten Auslagen, es gibt eine Stele, auf der ein Kindermärchen zitiert
und in Reliefs illustriert wird, die Lindenallee wirkt, wie die meisten
Straßen der Stadt, allzu breit, der Verkehr auf ihr scheint sich zu verlieren,
das große Kaufhaus an der Kreuzung mit seinem pompösen Wandgemälde zeigt
Risse in den Außenmauern, demnächst wird es schließen. Die Lindenallee
hieß früher nach dem Führer der Oktoberrevolution, W. I. Lenin. Die Stadt
selber hieß früher nach Lenins politischem Nachfolger, J. W. Stalin.
Die zentrale Einkaufsstraße von Wolfsburg heißt nach dem Autokonstrukteur
Ferdinand Porsche und führt vom Rathaus bis in die Nähe des Volkswagenwerkes,
für das die Stadt einmal gebaut wurde. Die Porschestraße ist heute eine
Fußgängerzone. Es gibt ein bronzenes Denkmal, sechs spielende Wölfe, die
den Stadtnamen assoziieren sollen, aber man kann ganz gut auch an den
Wolf als ständiges Requisit in Märchen der Gebrüder Grimm denken. Die
Porschestraße ist eng. In ihrer nun nicht mehr für den Fahrzeugverkehr
genutzten Mitte stehen Verkaufspavillons, Ruhebänke, Blumenkübel, Marktstände.
Es gibt viel Bewegung, es gibt hastige Einkäufer, Kinder, Hunde, Gaffer,
manchmal einen angetrunkenen Stadtstreicher. Ihren Namen hat die Porschestraße
niemals ändern müssen, denn der Konstrukteur, wie sehr er sich auch mit
dem braunen Diktator einließ, gilt als ein zeitloses technisches Genie.
Von dem seine Erfindungen nutzenden Werk sind die 122 000 Einwohner
der Stadt zu siebzig Prozent unmittelbar abhängig, als Arbeiter und Angestellte
in den Hallen oder als Angehörige von Einrichtungen, die dem Werk zuarbeiten.
Von den 50 000 Einwohnern Eisenhüttenstadts arbeiten heute in dem
Stahlwerk 2 500.1989 waren es noch 12 000. Nach den Ereignissen von Wende
und Wiedervereinigung hat die Stadt ständig um den Erhalt und Fortbestand
des Stahlwerkes zittern müssen. Es wurde zunächst Treuhandbesitz. Als
Käufer interessierte sich Krupp aus Essen, trat aber wieder zurück, dann
bewarb sich der italienische Großindustrielle Riva, aber auch der
trat wieder zurück, es gab Gefeilsche um staatliche Zuschüsse, die von
der EU in Brüssel zu genehmigen waren, schließlich übernahm, nach längeren
Verhandlungen, die belgische Gruppe Cockerill Sambre den Betrieb. Zwischendurch
war von einer unwiderruflichen Schließung die Rede. Für den Erhalt
verwendete sich die Regierung in Potsdam, aber welche Macht hat in wirtschaftlichen
Fragen solchen Zuschnitts die Regierung eines kleinen ostdeutschen Bundeslands?
Die Erschütterung, die von solcher Entwicklung ausging, teilte sich dem
allgemeinen städtischen Leben mit. Melancholie hängt wie Dunst über den
Dächern. Depressionen scheinen aus den Blumenkästen auf den allzu breiten
Gehsteigen zu wachsen. Es ist Wochenende, Sonne scheint, die Luft ist
herbstlich milde. Dessen ungeachtet scheint das Bedürfnis der Leute nach
einem Einkaufsbummel gering, die Gehsteige sind leer, der Wind treibt
abgefallenes Laub über die Steinplatten, in dem großen Schokoladengeschäft
hinter der Märchenstele langweilen sich die Verkäuferinnen. Ich fühle
mich an die siechenden Städte im Nordosten der USA erinnert, Buffalo,
auch dort war das wirtschaftliche Leben völlig mit der Schwerindustrie
verbunden und stirbt nun gemeinsam mit ihr.
An der Lindenallee steht das Eisenhüttenstädter Theater. Es trägt den
Namen des kommunistischen Dramatikers Friedrich Wolf, Vater des früheren
DDR-Geheimdienstchefs Markus Wolf. Es wurde 1955 errichtet, mit plumpen
Zitaten der Akropolis, also in jenem historisierenden Stil, dem die DDR
der fünfziger Jahre huldigte. Das Haus dient als Spielort für gastierende
Compagnien, ein eigenes Ensemble existiert nicht.
Auch das Wolfsburger Theater lebt überwiegend von Gastspielen, lediglich
zu Weihnachten, für die Kinder, leistet es sich eine eigene Produktion.
Das Gebäude steht in einer großen Parkanlage, wo es außerdem ein Kongreßzentrum
gibt; als ich an ihm vorübergehe, werden soeben mehrere riesige Trucks
entladen, silbrige Gefährte mit der deutlichen Aufschrift "Böhse
Onkelz", das ist der Name einer Rockgruppe, die durch ihre frembenfeindlichen
Lieder berühmt wurde, ihr johlendes
Stammpublikum sind rechtsradikale Skinheads.
Es steht hier noch ein Planetarium, und es gibt, nahebei, ein Kulturzentrum,
dessen Architekt einer der Großen der klassischen Moderne war, Alvar Aalto.
Auch der Architekt des Theaters ist berühmt, Hans Scharoun; gleich nach
1945 wurde er Stadtbaumeister im damals noch ungeteilten Berlin, und politisch
stand er den Kommunisten nahe, ehe die es vorzogen, den Bauhausstil Scharouns
als imperialistisch, kosmopolitisch und menschenfeindlich zu denunzieren.
Ein anderer Bauhäusler, Hermann Henselmann, verriet seine künstlerische
Herkunft und widmete sich fortan jenem historisierenden Stil, der auch
das Bild von Eisenhüttenstadt bestimmen würde. Er beförderte seine weitere
Karriere im Kommunismus, aber er ruinierte sein Talent.
Hans Scharoun wollte dem zerstörten Berlin nach 1945 ein völlig neues
Straßennetz und eine alles Herkömmliche mißachtende neue Mitte bescheren.
Der berühmte Baumeister der Philharmonie am Berliner Kemperplatz huldigte
als Städtebauer der Idee einer radikalen Innovation.
Der 1932 geborene englische Dramatiker Arnold Wesker hat ein Schauspiel
geschrieben mit dem Titel "Goldene Städte", der englische Originaltitel
lautet, präziser, "Their Very Own and Golden City". Das Stück
erzählt die Lebensgeschichte des Andrew Cobham, eines Mannes, der sich
vom Bergarbeiter zum Architekten hocharbeitet und der Sozialschicht, aus
der er stammt, eine neue Wohn- und Lebenswelt schaffen möchte:
"Städte aus Licht und Schatten..., mit geheimnisvollen Winkeln! Städte
mit Überraschungen und Bequemlichkeiten, mit breiten Straßen und
Wegen, die sich ineinanderwinden... Städte für Liebende... Städte für
alte Menschen und krabbelnde Kinder... Städte, die niemanden erschrecken.
Mit warmen Häusern, schlichten Eingängen und langen Alleen... Städte,
die voller Töne sind für die Blinden und voller Farben für die Tauben...
Städte, die wie eine Wiege sind! Die den Menschen ein Loblied singen..."
Die Überzeugung, die hinter alledem steht, enthält dieser Satz: "Auf
die Weise, wie ihr eine Stadt baut, gestaltet ihr auch die Lebensweise
ihrer Einwohner. Das ist eine Tatsache."
Cobhams Vision (die übrigens an der Miserabilität der gesellschaftlichen
Zustände und der Unvollkommenheit der beteiligten Menschen scheitert)
klingt wie ein Echo auf Äußerungen von Martin Wagner, dem sozialdemokratischen
Scharoun-Vorgänger vor 1933:
"Laßt uns neue Städte bauen! Neue Städte mit neuer Ökonomie!
Neue Städte nach der Idee der vollendeten Maschine! Städte mit fühlbarem
und übersehbarem Schwingungskreis, mit abgegrenztem Raumleben! Laßt
vorhandene Städte nicht "wachsen", laßt neue Städte des
totalen Fortschritts entstehen! Füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche!
Uferlose Stadterweiterung war ein Irrweg! Die Städte verlangen nach neuer
Grundlage!"
Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen Wesker und Wagner seien die Unterschiede
nicht übersehen: Wesker argumentiert sozialpsychologisch, Wagner ästhetisch-technologisch.
Beide sind sich aber einig in der Überzeugung, daß die bestehenden
Zustände ungenügend seien und eine utopische Lösung geradezu erzwängen.
Daß man mit der Forderung nach der völlig neuen Stadt ein einigermaßen
betagtes Modell beschwört, wußte man oder wußte man nicht.
Es geht zurück, jedenfalls
für unseren Kulturkreis, bis in die Renaissance. Der erste, von dem einschlägige
Gedanken und Entwünfe überliefert sind, war der Italiener Filarete, der
den Sforzas eine städtebauliche Alternative zu Malland liefern sollte,
Sforzinda, das Ding wurde nicht gebaut. Die nächsten, die sich mit vergleichbaren
Plänen trugen, hießen di Giorgio, Peruzzi, Maggi und Scamozzi, auch Leonardo
da Vinci. Meistens blieb es bei den Entwürfen, nur Palmanova in Udine
und Sabbioneta bei Mantua wurden gebaut.
In Deutschland gibt es den Entwurf einer idealen Stadt durch den Italientouristen
Altrecht Dürer, und gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts gelingt auch
nördlich der Alpen die Realisierung, im Freudenstadt des Heinrich Schickhardt.
Gebaut wird nach dem sogenannten Mühlebrettschema, Straßen schneiden einander
regelmäßig und im rechten Winkel. Das Mühlebrett ist ein mögliches
Modell, der polygonale Grundriß mit sternenförmig auf eine Mitte zulaufenden
Avenuen ein anderes. In Karlsruhe wird es Wirklichkeit, als stadtgewordene
Ikone des Absolutismus, mit dem Herrschersitz in der Stadtmitte; Architektur
ist immer auch Ausdruck von politischem Willen. Das Mühlebrett, da rationeller,
dient gleichwohl häufiger als Muster, in Versallles, in Mannheim, in den
deutschen Hugenottensiedlungen Erlangen und Karlshafen. Sie alle sind
vernünftige Städte, die sich gleichwohl nicht einer bestimmten praktischen
Idee von Urbanität verdanken, sondern einer allgemeineren Gesinnung.
Hinter dem Ordnungsprinzip des barocken Absolutismus steht die unerschütterliche
Überzeugung des Gottesgnadentums. Alle Idealstädte, schon die der
italienischen Renaissance, sehen als ihre übergeordnete Idee nicht zuerst
jene des vernünftigen Wohnens und Administrierens, sondern jene des himmlischen
Jerusalem, als dem Platz von endlicher Gerechtigkeit und Erlösung. Das
irdische Ziel ist darauf ein Vorgriff. Insofern wird die ideale Stadt
auch der plan- und steingewordene Ort einer chiliastischen Utopie. Der
Einfall, die gesellschaftliche Neuordnung durch den radikalen städtebaulichen
Anfang zu schaffen, soll der Zivilisationsgeschichte bleiben. Die meisten
Konzepte stehen weiterhin auf dem Papier. Französische Revolutionsarchitekten
wie Boullee und Ledoux legen niemals verwirklichte Entwürfe für neue Gebäude
und neue Quartiere aus dem Geiste Palladios vor. Soviel scheint sicher:
Architektur nur für sich kann die neue Ge- rechtigkeit nicht schaffen,
sie kann sich in deren Dienst stellen und die entsprechende Gesinnung
materialisieren, jedenfalls auf dem Reißbrett, manchmal sogar in Holz,
Glas und Stein.
Hinfort ordnet sich, was man
die ideale Stadt nennt, unter die allgemeineren Ideen einer gesellschaftlichen
Neugestaltung. Gelegentlich sind beides Visionen ein und desselben Gehirns.
Charles Fourier, von Hause aus Großhändler und Makler, wandelt sich
unter dem Einfluß von Saint-Simon, Voltaire und Rousseau zu einem erbitterten
Kritiker der kapitalistischen Warenwirtschaft, zum Propheten einer neuen
Ordnung von Produktion und Distribution. Für den erstrebten Zustand der
sozialen Gerechtigkeit will er die bislang formlose Industriestadt neu
ordnen. Sein Ziel ist eine völlige Kollektivierung allen Lebens und sämtlichen
Eigentums. Die alten Städte sollen aufgegeben werden. Die Menschen sollen
sich in neuen Siedlungen organisieren, "phalangers", deren Bewohner
in Gemeinschaftshäusern wohnen, "phalansteres". Die Städte seien
nach konzentrischem Plan zu bauen, in der Mitte befinde sich das Geschäfts-
und Verwaltungsviertel, um das herum die industrielle Stadt liege. Die
Höhe der Häuser verhalte sich proportional zur Breite der Straße.
In Wolfsburg scheint sich die Gesamtplanung auf die Idee der "phalangers"
besonnen zu haben. Das die Stadt beherrschende Volkswagenwerk befindet
sich außerhalb des eigentlichen Zentrums. Das Werk ist ein backsteinroter
Riegel, ein durch 22 bastionsartige Vorsprünge, dies sind die Treppenhäuser,
sichtbar gegliederter Endlosbau. Er erinnert deutlich an Prora auf Rügen,
jenes kilometerlange gleichförmige Hotel, das Hitler entlang des Strandes
für die Erholungsuchenden seiner Organisation KdF errichten ließ.
KdF steht für "Kraft durch Freude" und war die nationalsozialistische
Substitution für den Feriendienst der Gewerkschaft. Da es Arbeitskämpfe
in Hitlers Führerstaat nicht mehr geben durfte, waren Arbeitsfront und
KdF bloß noch Masseneinrichtungen für den organisierten Frohsinn, und
der sollte sich außer beim Baden in Ostseewasser beispielsweise durch
das Fahren in einem eigenen Automobil ergeben. Hitler ließ das Gefährt
durch Ferdinand Porsche entwerfen. Es war jenes Modell, das später als
"Käfer" berühmt und 22millionenmal hergestellt werden sollte.
Wolfsburg war eine KdF-Gründung, und nach ihr sollte es ursprünglich heißen.
Die Grundsteinlegung des Werkes und die Grundsteinlegung der zugehörigen
Stadt erfolgten 1938. Das Jahr darauf begann der Zweite Weltkrieg. In
den KdF-Fabrikhallen wurde statt des privaten Pkw der Kübelwagen gebaut,
ein Militärfahrzeug, das an allen deutschen Fronten erfolgreich zum Einsatz
kam. Porsches "Käfer" in seiner zivilen Version lief erst ab
der Währungsreform wieder vom Band. Die Stadt hatte damals keine 20 000
Einwohner, und viele von ihnen lebten in Barackensiedlungen, die "Klein-Moskau"
hießen.
Die Planungen für die Wohnstadt Wolfsburg stammten von Peter Koller, der,
wie Ferdinand Porsche, ein gebürtiger Österreicher war. Koller wurde 1955
Stadtbaurat von Wolfsburg. Er knüpfte an seine vor dem Krieg begonnenen
Entwürfe an. In der ab 1950 errichteten Ostsiedlung wuchsen kleine Ein-
und Zweifamilienhäuser, zweistöckige Bauten in winzigen Gärten, mit Satteldächern
und einem kleinen Vorbau für den Eingang. Sehr ähnliche Häuser stehen
in Eisenhüttenstadt, im Ortsteil Schönfließ, sie wurden zur ungefähr gleichen
Zeit errichtet, ab 1954, und atmen den gleichen Geist.
Wer die beiden Kunststädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt miteinander
vergleicht, kann Ähnlichkeiten wahrnehmen und Unterschiede. Zu den
Ähnlichkeiten gehört die Situation an einem künstlichen Wasserlauf: In
Eisenhüttenstadt ist es der
Oder-Spree-Kanal, in Wolfburg ist es der Mittellandkanal. Zu den Ähnlichkeiten
gebört die monokulturelle Ausrichtung auf einen einzigen großen Produktionsbetrieb.
Zu den Ähnlichkeiten gehören die völlige Neugestaltung einer Stadt auf
vorher unbebautem Gelände und die spätere Eingliederung von älteren Siedlungen,
in Wolfsburg heißen sie Fallersleben und Vorsfelde, in Eisenhüttenstadt
Fürstenberg und Schönfließ.
Fürstenberg liegt am linken Oderufer. Es war eine kleine märkische Landstadt,
mit Getreidespeichern und Hafenanlage, eines der auffälligsten älteren
Häuser gehörte dem Schiffahrtsdirektor Carl Reiche, der sich einen Jugendstilbau
mit allerlei maritimem Schmuck errichten ließ, heute beherbergt er das
lokale Museum. Das Fürstenberger Rathaus ist ein hübscher spätilassizistischer
Bau, errichtet an der Schmalseite eines großen rechteckigen Platzes, der
so recht geeignet ist, preußische Soldaten aufmarschieren und exerzieren
zu lassen; darin gleicht er den Marktplätzen in anderen Städten der Mark.
Die Oder war vor ihrer Regulierung durch König Friedrich II. von Preußen
eine Au- und Schwemmlandschaft. Das eigentliche Oderbruch befindet sich
weiter nördlich, und dort stehen reichlich die Gebäude im alten Siedlerstil,
schlichte Fachwerkhäuser, deren schwarze Balken den weißgekalkten Lehm
der Wände gliedern, auch in der Gegend von Eisenhüttenstadt gibt es solche
Häuser, etwa in Rießen die schöne Fachwerkkirche.
In seiner niedersächischen Ausprägung, das ist mit gekehlten Querbalken
und farbigen Halbrosetten, findet sich Fachwerk reichlich in Fallersleben
und Vorsfelde. Ältestes Gotteshaus von Wolfsburg ist die aus Feldsteinen
errichtete Wehrkirche St. Annen, siebenhundert Jahre alt. Die gesamte
Reglon ist alter Kulturboden, die kaiserliche Domanlage von Königslutter
liegt nahebei, und die Wolfsburg, die der KdF-Stadt am Ende ihren Namen
vermachte, ist neunbundert Jahre alt. Es handelt sich um eine ehemalige
Wasserburg, Sitz eines Adelsgeschlechts mit Namen Bartensleben, überbaut
wurde die Burg dann im Stil der Weserrenaissance, inzwischen dient sie
als Museum.
Mit Monumenten derartigen Alters kann der ärmliche Kolonialboden an der
Oder nicht aufwarten. Die Kirche von Fürstenberg, St. Marien, ist ein
backsteingotisches Gemäuer, vierzig Jahre lang verflel es, inzwischen
wurde es wieder restauriert und bildet zusammen mit dem Rathaus den natürlichen
Mittelpunkt von Fürstenberg.
Der Ortsteil hat, was das eigentliche Eisenhüttenstadt nicht besitzt:
eine Mitte. Das Eisenhüttenstädter Rathaus ist für Fremde kaum auffindbar,
es wurde eingegliedert in eine größere Wohnanlage, nur der riesige Parkplatz
davor könnte auf es aufmerksam machen, aber er könnte
ebensogut bloß eine der hier üblichen Stadtbrachen sein, eine einzelne
Imbißbude steht darauf, an der sich die Arbeitslosen betrinken.
Wolfsburg hat sein Rathaus deutlicher hervorgehoben, obschon viel architektonische
Phantasie darauf nicht verwendet wurde, es handelt sich um einen schmucklosen
Steinquader, dem als einziges Dekor ein Glockenspiel vorgeblendet ist,
zur vollen Stunde läutet es in der Tonfolge von Londons Big Ben.
Aalto, der Architekt des Kulturzentrums, hat in Wolfsburg noch zwei Gotteshäuser
errichtet, die Stephanus- und die Heilig-Geist-Kirche. Insgesamt gibt
es 15 Gotteshäuser in der Stadt, auffälligstes ist die zentral gelegene
St. Christophoruskirche mit ihrem Campanile, dessen skelettierte Turmspitze
das Glockengeläut freilegt, vergleichbar den barocken Kirchen Katalaniens,
aber hier ist die Konstruktion Beton, und der Erbauer heißt Peter Koller.
In Eisenhüttenstadt stehen nur wenige Kirchen. Man wollte eine atheistische
Stadt sein. Erst in den siebziger Jahren, nach dem historischen Kompromiß
zwischen Kirche und Staat DDR, wurde ein Gemeindezentrum errichtet, aus
Backsteinen, also im Stile der Landschaft, freilich ohne hochragenden
Turm. Die Nerste sozialistische Stadt auf deutschem Boden, so ihr langjähriger
Titel, brachte sich aus atheistischer Vorgefaßtheit um ein wichtiges
Element der urbanen Gliederung. Was die Stadt allein überragen sollte,
waren die schmutzig-bizarren Hochöfen des Stahlwerks.
Zu den Ahnherren der sozialistischen Weltanschauung von Karl Marx und
Friedrich Engels gehörte Charles Fourier, Erfinder der "phalangers".
Zu den Vorläufern von Fourier gehörte der Baumwollfabrikant Richard Owen
aus Manchester, der eigene Pläne für die Herstellung menschenwürdiger
Wohnquartiere entwarf. Er hat seine Inspiration an die gegen Ende des
neunzehnten Jahrhunderts aufkeimende Lebensreform weitergegeben, deren
wichtigste architektonische Idee die Gartenstadt war. In Deutschland wurde
sie in Staaken bei Berlin und in Hellerau bei Dresden realisiert.
Wolfsburg hat sich in seinen frühesten, von Koller verantworteten Wohnbauten
deutlich an der Gartenstadt orientiert. Die Blocks sind viergeschossig,
langgestreckt, sie sind eingewachsen in üppige Grünanlagen, sie stehen
eher parallel als in geschlossener Straßenreihe, und ihre Architekturen
mit den erkerartigen Vorbauten
aus dunklem Holz sind ebenso dem Oberdeutschen entlehnt wie die dunkelhölzernen
Fensterläden, eine Ahnung von Alpenland hängt über der niedersächsischen
Ebene, eine sonderbare Mischung aus "BIuBo" und postmodernem
"anything goes".
Der Bolschewismus, radikalste Ausprägung der sozialistischen Idee, hat,
als er in Rußland zum Siege kam, ein halbfeudales Riesenland industrialisieren
müssen. Einer der Architekten der frühen Sowjetjahre, Ginsburg, formulierte
sein Credo so:
"Indem die funktionale Methode feststellt, daß es einen prinzipiellen
Unterschied zwischen Produktions- und Lebensprozessen nicht gibt, stellt
sie mit aller Klarheit fest, daß es einen prinzipiellen Unterschied zwischen
diesen beiden Architekturzweigen nicht gibt [...]. Die Bewegungsdiagramme
und Ausstattungsschemata sind, eingestandenermaßen, den Automobilfabriken
Henry Fords mit ihren Taktstraßen und Fließbändern entlehnt. Henry
Fords Fabriken waren auch das direkte Vorbild für das Volkswagenwerk in
Wolfsburg.
Bei Ginsburg fällt auf, daß es irgendwelche Reflexionen zur idealen Stadt
nicht gibt. Sinn des Lebens ist die industrielle Arbeit, ihr hat sich
alles unterzuordnen, auch das Wohnen; der neue Mensch, den es zu schaffen
gilt, definiert sich durch die materielle Produktion und sein Verhältnis
zu ihr.
Eisenhüttenstadt war die erste Realisierung sowjetischer Praktiken auf
deutschem Boden. Man wollte der robstoffarmen Industrie der DDR ein Stahlbasis
schaffen, mit Steinkohle aus dem polnischen Oberschlesien und Eisenerzen
aus der Sowjetunlon, beides herangeschafft auf der Oder. Ganz entsprechend
den Prinzipien Ginsburgs und im Gegensatz zu den Gedanken des Ahnherrn
Fourier rückt die Industrieanlage nicht an den Rand, sondern in die Mitte
der Stadt, die sie durch Ihre Dimensionen nicht zentriert, sondern erdrückt.
Die überbreiten Straßen sind eine Antwort auf das Riesenmaß des Stahlwerks.
Die langgestreckten Wohnblocks werden erträglich und wohnlich erst in
ihren Innenhöfen, wo Sträucher wachsen und Kinder spielen.
Der Stil ist überwiegend jener der fünfziger Jahre, also jener Ostblock-Historismus,
der sich aus Biedermeier, Neobarock und Art deco nimmt, was er zu brauchen
meint, um es in riesige Straßenzeilen zu zwingen und von Nowosibirsk bis
Magdeburg einen halben Erdteil mit dem gleichen Urbanismus zu überziehen.
Der Stil, als Zuckerbäckerei verhöhnt und viel zu kostenaufwendig, wurde
später aufgegeben zugunsten immer einfacher wirkender, immer rationeller
herstellbarer Wohnblocks, deren Kennzeichen Uniformität und Monotonie
waren. Auch in Eisenhüttenstadt sind sie zu besichtigen. Die erste sozialistische
Stadt auf deutschem Boden hat die Mühlebrettgrundrisse der idealen Stadt
und die Gleichförmigkeit nordamerikanischer Agglomerationen vom Typus
Memphis / Tennessee.
Wolfsburg besitzt die größere Vielfalt, die, unter anderem, aus dem größeren
Reichtum kommt. Die Porschestraße ist eine unter ihrem Warenüberfluß ächzende
Fußgängermeile, wie es sie zwischen Köln und Braunschweig, zwischen Kiel
und Konstanz vielfach gibt, mit den immer - gleichen Kaufhausnamen, Markenlogos
und Kreditanstalten, mit den überall austauschbaren Geschäftsbauten aus
Stahlskelett und Waschbeton. Das übrige Wolfsburg wirkt dann bloß noch
wie eine einzige Ansammlung von riesigen Vororten.
Eine Stadt unseres tradierten kulturhistorischen Bewußtseins schaffen
sie nicht. Die täuschen sie bloß vor. Wir haben es mit einer aufwendigen
Simulation zu tun. Eisenhüttenstadt erscheint da ehrlicher, einfach weil
es unvollkommener, öder und häßlicher ist.
Die Stadt, diese wichtigste zivilisatorische Erfindung des europäischen
Hochmittelalters, wirkt durch ihr Alter, durch die aus Kommerz und aufhebbare
Eingrenzung, aus Zufall und Konzentrik gewachsene Gestalt. Die Gegenwart
einer Stadt entsteht aus ihrer ablesbaren Geschichte.
Martin Wagners Absage an die Stadterweiterung war ein Irrtum. Alle revolutionären
Hoffnungen Scharouns sind durch die Beispiele unserer Gegenwart dementiert.
Die ideale Stadt gibt es nicht. Fürstenberg widerlegt Eisenhüttenstadt,
Fallersleben widerlegt Wolfburg. Die ideale Stadt, sofern es sie dennoch
geben sollte, ist die alte Stadt.
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