die tageszeitung, 6.9.90

... Man soll die Ausstellung, so die Gebrauchsanweisung von Podrecca auf der Pressekonferenz, über eine Brücke betreten, die vom oberen Rundgang auf das Gerüst und dann hinab führt in die Welt der Exponate: "zur Einleitung und Einstimmung".
Das Gerüst ist freilich kein nacktes Baugerüst, es ragt auf als ein mit einem Tunnelsystem durchgrabener Berg, Schürfrechte auf die ausgestellten Bilder, Dokumente, Gemälde etc. inbegriffen. Passagen und Durchgänge nennt Podrecca dieses durch aufragende, an Stahlwände gemahnende, große, graue Platten auftürmende Alpenvorland mit Aussichtsplattform, Steilwand und Blick ins Land der Kolossalgemälde. Der Abstieg durch die Ebenen mit Sicht soll gewähren: "Aussicht, Anblick, Durchblick und Überblick", alle Exponate setzen sich mit allen Exponaten ins Gespräch, das der Besucher führt, und so wird der große Diskurs gemacht.
Doch ist dieser Raum nicht mehr als ein Trümmerhaufen: der Schuttberg des 19. Jahrhunderts, auf dem auseinandergerissene und übereinandergeworfene Teile einer Explosion liegen, denen man nur noch die Tatsache der Explosion ansehen kann. Der Abstieg durch diesen Berg hindurch auf den Boden zu führt an Geschichtssplittern vorbei, die sich gegenseitig widersprechen. "Das ist ein Kaleidoskop", sagt Podrecca, ein Bild, hofft man, das keine alles beherrschende Interpretation des 19. Jahrhunderts mehr zuläßt, eine Versuchsbohrung in der geologischen Formation, deren aneinandergelegte Funde keine Landkarte ergeben. Der Abstieg geht ins Dunkle, in das hinein Zeichen einer verlorenen Zeit irrlichtern.
Doch dieser Abstieg ins anarchische Chaos der Mächtigen ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Ausstellung. Aus dem Lichthof hinaus geht es in die angrenzenden Räume, es geht heraus aus der Zersplitterung, dem geschichtlichen Wirrwarr mit der Unmöglichkeit der Identifizierung, und hin auf den Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth hinausfinden hilft; und das ist die Biographie Bismarcks, die ordnende Tabelle von Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Tod. Es ist diese Inszenierung von Abstieg, Chaos zur Ordnung, die Geschichte wieder lesbar macht als eine, die von Männern gemacht wird, wenn allein deren Biographie noch Zusammenhänge stiften kann.
Freilich kann heute niemand mehr so einfach dahinsagen: Männer machen Geschichte. Wie die Geschichte steckt der einzelne in ihr voller Brüche und niemand, der sagen wollte, daß irgendein Mensch die gesellschaftlichen Prozesse aus seinem Willen gestalten könnte. Doch ist es der große Wurf von Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa, daß dort verstanden wird, gerade in die Zersplitterungen hinein als letzten Rettungsanker das Subjekt Reichskanzler, den Mann der Geschichte zu setzen: ebenso voller Widersprüche, aber mit Biographie.
Und diese Inszenierung ist eine Wiedergeburtsphantasie: Abstieg, Chaos, Ordnung, wer zum Licht will, muß durch die Hölle gehen, zu Fuß, so erreicht man die Sterne. Der Mensch des 20. Jahrhunderts steigt hinab in das 19. Und trifft auf das Chaos geschichtlicher Fakten und Daten, um zu seiner Zeit hin zu streben, und wird wachgeküßt von Otto von Bismarcks Lebenslauf. Hineingeschaut in den Spiegel der Geschichte, zurück blickt Otto von Bismarck. Und wenn man lange genug schaut, wird man schließlich doch zum Kanzler seines eigenen Lebens.

Volker Heise