Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.90

...In der Berliner Bismarck-Ausstellung, in der das politische 19. Jahrhundert mit der Hauptfigur des späteren deutschen Kanzlers hervortritt, kommen die schöne Literatur und das schöne Geschlecht nur am Rand vor. Die anwesenden Frauen sind die Trägerinnen der Symbole und Mütter der Nationen oder das elbische Wesen, Nixe, Rheintöchter und Lorelei. Dagegen stellt der Mann das Staatswesen, das Militär und die politischen Volksvertretungen dar. Er ist nicht nur Beamter, Diplomat und Soldat, sondern auch Burschenschafter, Aufständischer, Freiheitskämpfer und Volksheld. Die Bilder bringen die Persönlichkeiten realistisch zum Ausdruck, Korpus und Charakterkopf, die Individuen in Frack und Uniformen, Studenten-tracht, Priesterrock und Räuberzivil. Seine Arbeit findet am Konferenztisch und auf dem Schlachtfeld, auf den Barrikaden, im Parlament und am Stammtisch statt. Das historische Fazit sind die Bürger-, Bruder-, Freihefts-, Einigungs- und Vaterlandskriege, die das Jahrhundert europaweit durchziehen, ohne den Frieden zu erzwingen, den die schwarzrotgoldene Jungfrau von 1848 mit dem Ölzweig versprach. Das Schlußbild der Ausstellung ist Kaulbachs " Germania 1914" .
...Die Ausstellung bestätigt es bildhaft: das Ausbegleiten, Nachwinken und Zurückbleiben, das Zujubeln, Applaudieren und Bekränzen der Sieger, das Pflegen der Verwundeten und Beweinen der Toten ist die Sache der Frauen. Sie geben den Kriegern das Geleit und empfangen die Heimkehrer vor der Haustür. Der Soldat hebt sein Kind zur Begrüßung in die Höhe, und seine Frau nimmt ihm das Gewehr ab. Die junge Witwe steht abseits. Auch die Trauer gehört zur Volksszene. Insgesamt wird mit der weiblichen Figur ebenso für den populären Patriotismus wie für den erhabenen nationalen Enthusiasmus und Personenkult geworben. Sie votiert für das Vaterland und seinen Retter, Einiger oder Befreier, obwohl ihr an Ort und Stelle im politischen Leben kein Wahlrecht zusteht. Die Pointe kommt in der Ausstellung tatsächlich vor...

Sibylle Wirsing