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Handelsblatt, 31. 8. 90
... Marie-Louise, Gräfin von Plessen, und Lothar Gall, die beiden
Ausstellungsleiter, beabsichtigte ein Zeitalter nicht zu illustrieren,
sondern anhand seiner Hinterlassenschaft zu befragen. Dabei gehe sie von
den Lebensdaten Otto von Bismarck (1815-1898) aus und spannen den Bogen
vom Wiener Kongreß bis zum Bismarck-Kult am Vorabend des Ersten
Weltkriegs. So wird der Blick von der Person auf die Epoche gelenkt, auf
Widersprüche und Bruchstellen. Die Methode, Fakten sowohl von außen
als auch von innen zu beleuchten, verhindert Glättungen oder gar
eine erneute Heroisierung. Der schnelle Wechsel der Perspektive ermöglicht
dann auch parallel zu Bismarcks militärischen Erfolgen, die Geschichte
der verwundeten Krieger oder die der Dissidenten zu skizzieren - um nur
zwei der bisher ungeschriebenen Kapitel aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts
zu nennen. Die klassische Disziplin der Kriegs und Diplomatiegeschichte
wird erweitert um die Erkenntnisse der neueren Forschung zur Technik-
und Sozialgeschichte.
Das Zeitalter Bismarcks nicht als geordnetes Panorama, sondern als beunruhigendes
Kaleidoskop zu präsentieren, ist ein Verdienst der Ausstellung. Ein
anderes ist, daß nicht nur westeuropäische und amerikanische
Sammler "Herzstücke" zur Verfügung gestellt haben,
sondern auch Institutionen in Ungarn, Polen und der DDR. Insgesamt sind
rund 1100 Objekte aus 280 Museen oder Sammlungen an der Ausstellung beteiligt...
Unmöglich, hier in Kürze zu beschreiben, wie geschichtliche
Dokumente und Kunstwerke Bismarck in 16 Räumen charakterisieren,
als eine Persönlichkeit, die überaus Heterogenes zusammen bindet,
ja - zwingt...
Beschreibbar jedoch scheint der im wahrsten Sinne des Wortes zentrale
Raum der Ausstellung, der Lichthof, der alle Tendenzen des Jahrhunderts
im europäischen Kontext bündelt. In der Mitte des verdunkelten
Hofes rufen riesige Stahlplatten Assoziationen an gigantische Häckselmesser,
aber auch an einen Schiffsrumpf wach. Es ist eine stählerne Metapher
für das Jahrhundert, für seinen Drang nach Freiheit ("Venezia
libera", "Wählt Bebel", "Redefreiheit" steht
auf dem Eisen zu lesen) und seinen Aufbruch in die Moderne. Großformatige
Gemälde und Skulpturen benennen die verschiedenen Kräfte, die
die Ära Bismarck befestigten . . .
Eine Passage unter der monumentalen Stahlkonstruktion ist den Briefen
Ottos an seine Frau Johanna vorbehalten. Die Briefe liegen jeweils einzeln
in kleinen Vitrinen, man schreitet sie wahrlich ab. Ihre Transkribierung
dient wohl weniger der Lesbarkeit dieser privaten Aussagen, sondern befriedigt
die Lust an der Dekoration. Der Wortlaut ist in Metallplatten eingeprägt,
die im Gegenlicht über den Vitrinen befestigt sind.
Als enttäuschend, weil kaum Erkenntnisse vermittelnd, erweist sich
auch die eigens für die Ausstellung angelegte Treppe direkt aus dem
Lichthof hoch in die Galerie. Angekündigt als "parcours narratif"
stand mehr zu erwarten als der Gang aus dem Inneren der Stahlplatten hoch
zu einer Aussichtsplattform (die Aufsicht auf den Hof fragmentiert den
Blick wieder), vorbei an einer dramatisch beleuchteten Reihe von Bismarck-Büsten.
Oben angelangt, wird klar, daß der Treppe keine eigene inhaltliche
Bedeutung zukommt. Sie schließt nicht vergleichbar proportionierte
Ausstellungsteile zusammen, sondern verstärkt allenfalls das "Raum-Kaleidoskop"
.
.. . Für die gesamte Ausstellungsarchitektur, auch für das gelungene
Paravent-System (es erlaubt, Vitrinen in die Wände einzubauen und
mit Ecken und Schrägen Brüche zu markieren) in der Enfilade
von 16 Räumen um den Lichthof zeichnet Boris Podrecca verantwortlich.
Welche Bedeutung die Veranstalter der Ausstellungsarchitektur einer 8
Millionen DM teuren Schau beimessen, wird auch daran ersichtlich, daß
Podrecca einen Aufsatz zu dem Katalog beigesteuert hat...
Susanne Schreiber
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