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Kieler Nachrichten, 31. 8. 90
...Im Gropius-Bau nahe der fast nur noch in der Erinnerung existierenden
Berliner Mauer wird mit über 1000 Bildern, Skulpturen, Büchern,
Dokumenten, Requisiten und Antiquitäten Geschichte nicht bloß
illuminiert; hier wird Geschichte sozusagen auch inszeniert, und das mit
dem unbedingten Willen zum aufklärerischen Effekt, nämlich zu
einer möglichst pointierten Veranschaulichung all der Situationen,
Zeitströmungen und Tendenzen, die die Entwicklung Europas im 19.
Jahrhundert teils in Richtung Fortschritt und teils in Richtung Katastrophe
stimulierten. Gall hatte seinem Ausstellungsgestalter Boris Podrecca die
Aufgabe überantwortet, die Besucher schon im Lichthof des Ausstellungshauses
mit den Brüchen, Umstürzen, Problemen und Antagonismen zu konfrontieren,
mit denen das Jahrhundert Bismarcks die Zeitgenossen teils verstörte
und teils enthusiasmierte.
Die Industrialisierung, ihre Früchte und ihre Schäden, die in
den Lazaretten dahinvegetierenden Opfer der diversen Befreiungs und Einigungskriege,
die verelendeten Arbeiter und ihr Heilsbringer Karl Marx, die Taten der
Kriegs und der Kolonialkriegsgewinner - dies alles und noch viel mehr
sollte so griffig und bildhaft wie nur irgend denkbar zur Anschauung gebracht
werden.
Podreccas Lösung stellt sich so dar: riesige, senkrecht aufgestellte
schwarze Stahlplatten, auf denen "Wählt Bebel" - "Viva
la Commune"- , "Venezia libere" - und andere revolutionäre
Graffiti an die Tage der Kommune, an Garibaldi und die anderen europäischen
Befreiungs- und Einigungskämpfer erinnern, rahmen ein System schräger
Rampen, die den Besucher über zwei Ebenen und eine Wendeltreppe auf
ein Podest unter dem Glasdach des Lichthofs führen. Auf diesem Podest
kann er, wenn er sich auf die Situation einläßt, Abstand und
Überblick gewinnen über das, was unter seinen Füßen
die Aufmerksamkeit auf sich lenken will, sei es der Wiener Kongreß,
eine verhärmte Proletarierin in Zille-Attitude, Bismarck als mythisierter
"Schmied des Deutschen Reiches", der Krieg von 1870/71 oder
Hubert von Herkomers monumentales Gemälde Aufsichtsrat und Direktorium
der Firma Friedr. Krupp AG, die sich an den Waffen nicht nur für
diesen Krieg goldene Nasen und politischen Einfluß verdient haben.
Unsere Gegenwart läßt grüßen, im Irak und anderswo.
Bismarck wußte das alles, Bismarck billigte das alles. Er stand
wie kein anderer europäischer Staatsmann für ein Jahrhundert,
dessen Irrtümer und Ideologen uns auch noch in dem uns entgegentaumelnden
einig Vaterland beschäftigen werden.
Hellmuth Kotschenreuther
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