Lettre International, 13.12.90

... Eine Bismarck-Ausstellung 1990 bot die ungeheure Chance, die Deutschen und die Welt mit der Wahrheit über Bismarck zu konfrontieren. Aus dem Teufelskreis der Mythologisierungen, Legendenbildungen und Geschichtsfälschungen auszubrechen und Aufklärung zu treiben.
Die Wahrheit über Bismarck ist nicht angenehm, aber lehrreich. Sie hätte ein Beitrag zur Selbstverständigung der Deutschen sein können. Eine Ausstellung, mit dem Anspruch ein Jahrhundertereignis zu sein, mit einem Budget von acht Millionen, durfte sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Sie hat es getan. Eine große Chance ist verspielt.
"Man erwarte nicht, eine Ausstellung über Bismarck zusehen", warnte ein mutiger Kritiker. Was man geboten bekam, war eine großartige Show zum offenbar unerschöpflichen Thema: 19. Jahrhundert, in der man hochinteressante, teilweise nie gesehene Bilder, Objekte und Dokumente zu sehen bekam. Ein betörender Augenschmaus. Ein kulinarisches Erlebnis. Die Wahrheit über Bismarck erfuhr man nicht. Alles schien vielmehr darauf angelegt zu sein, die Frage danach überhaupt nicht aufkommen zu lassen; den Anschein zu erwecken, daß dieser erstaunliche Mann ein Produkt der Zeit, ein Kind des Zeitgeistes gewesen sei.
Dafür, daß er der titanische Antagonist des Zeitalters war, mußte sich der verwirrte und entzückte Besucher die Belege zusammensuchen, wenn er sie überhaupt finden konnte. Die Wahrheit Bismarcks war in der Überfülle der Exponate und ihrer undidaktischen Anordnung versteckt wie in einem Vexierbild.
Die fundamentale Schwäche der Ausstellungskonzeption war daran zu erkennen, daß von den achtzehn Sälen, die zur Verfügung standen, nur drei, knapp ein Fünftel der Ausstellungsfläche, der Periode nach der Reichsgründung, dem Reichskanzler Bismarck gewidmet waren. Wie war das möglich? Waren die zwanzig Jahre der Reichskanzlerschaft nicht die wichtigste Phase von Bismarcks politischem Wirken? Waren es nicht vor allem die, die für ein deutsches Publikum von höchstem Interesse sein mußten, das sich über Kontinuität und Dikontinuität der deutschen Verfassungsgeschichte vom zweiten Reich, über die Weimarer Republik, das Dritte Reich, bis zur Bundesrepublik und DDR Gedanken zu machen gelernt hatte. Warum hatte man dafür nicht mehr Platz gefunden?
Es mag leichter und vor allem vergnüglicher sein, eine Erfolgsstory zu erzählen, als einen Mißerfolg zu dokumentieren. Damit aber war die zentrale Problematik, die das Hauptthema der Bismarck-Ausstellung sein müßte, eskamotiert.
Wenn überhaupt, bekam der Besucher nur einen halben Bismarck zu sehen. Dazu gehört natürlich auch, daß die wichtige, für ein Bismarckverständnis, unerläßliche Periode nach seiner Entlassung, das Jahrzehnt der Bismarckfronde, in der der Reichsgründer zum Reichsfeind Nummer Eins wurde, ganz unterschlagen war. Was würde man von einer Napoleon-Ausstellung halten, die bei Waterloo Schluß macht?...

Nicolaus Sombart