Mannheimer Morgen, 31. 8. 90

. .. Die Präsentation arbeitet den Gegenstand auf zwei Wegen auf: dem gegenständlich didaktischen und dem assoziativ-inszenierten. Wer sich dem Willen der Macher unterwerfen will, geht erst in den Lichthof des Martin-Gropius Baus. Diese Ausstellung in der Ausstellung, "Das Jahrhundert Europas" überschrieben, faßt leitmotivisch die umlaufenden, zu 13 Themen gebündelten 19 Räume zusammen.
Aufgetürmt aus verkanteten Stahlplatten, monumentalen Gemälden und Epochenzitaten setzt das Gerüst Gebirge den Besucher jenen Spannungen und Konfrontationen der Epoche aus, die nicht zum Ausgleich fanden und dissonant blieben. Hier eine Auswahl der freigesetzten Zwillingsgedanken: Industrialisierung und "Sociale Frage"; hochkonservativer, repressiver Junkeradel und um Mitsprache ringendes, liberal gesinntes Bürgertum; Monarchie und demokratische Bewegung; Rotes Kreuz und Heldentod . . .
Die Schau bemüht sich sehr, den stundendauernden Rundgang durch abwechselnde Paravent- und Wandgestaltung, durch helle und dunkle Räume, durch erfrischende Farbvielfalt aufzulockern. Die Müdigkeit der Füße soll nicht auf Herz und Hirn übergreifen. Die Ausstellungs-Architekten leiden nicht unter der unerquicklichen Vitrinenmentalität.
Stets wird versucht, quasi als Leitplan gegen das schiere Ausufern des Stoffes, nicht massenhafte, sondern prägnante Objekte vor Augen zu bringen - besonders in zeitgenössischen Zeugnissen der bildenden Kunst, in den zentralen Dokumenten (Reden wie jene von "Eisen und Blut" des Parlamentariers Bismarck sind allzu verkürzt zitiert), in den Relikten des Alltags wie in den Selbstzeugnissen und Selbstinterpretationen der Epoche. Vier Exempel: die gewaltigen, imponierenden Stulpenstiefel des hochgewachsenen Mannes; Vaclav Sochors das Opfer fürs Vaterland glorifizierende Kolossalgemälde von viereinhalb auf siebeneinhalb Metern "Reiterkampf bei Stresetic in der Schlacht von Königgrätz, 3. Juli 1866"; die lächerlich anmutende wie nachdenklich stimmende Karte der Bismarck-Denkmäler und Bismarck-Türme, die bis 1914 in Planung oder fertiggestellt waren; ein Geständnis von Wilhelm I: "Es ist nicht leicht, unter Bismarck Kaiser zu sein."
Weniger durch sich selbst als mittels des vorgelegten Materials zwingt die Ausstellung dem Besucher eine Stellungnahme zur Epochengestalt ab. Und ihre Qualität "Bismarck total" sprengt das janusköpfige Bild: hier der Titan, dort der Teufel . . .

Joachim Huber