Neues Deutschland, 13. / 14.10.90

...Im zentralen Lichthof des Martin-Gropius-Baus wird der Besucher eingestimmt in die Entwicklungs-tendenzen, die inneren und äußeren Spannungen, die ökonomischen, sozialen und politischen Umbrüche einer Epoche, die chronologisch vom Vorabend der Schlacht bei Waterloo bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges reicht. Die hochadlig-konservative Welt der Staatsmänner, die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer ökonomischen Macht und ihrem politischen Reformverlangen sowie die mit sozialen Forderungen hervortretende Arbeiterbewegung werden als gesellschaftliche Kräfte vorgestellt. Der hohe Rang des Krieges als Mittel der Politik in jenem Jahrhundert bleibt nicht verborgen, und ihm wird die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes entgegengehalten. Parteiensystem und Parlamentarisierung, aber auch Arbeitskämpfe und Streiks kennzeichnen das politische Leben in den sich in ganz Europa durchsetzenden Nationalstaaten. Hochkarätige Ausstellungsobjekte, von monumentalen preußischen Schlachtengemälden bis zu einprägsamen sozialkritischen Bildwerken, historische Dokumente von der Wiener Bundesakte bis zum Manifest der Kommunistischen Partei, verschaffen sich ihre Geltung.
Vertieft und in chronologisch thematischer Gliederung soll im Anschluß an die Lichthof Ouvertüre ein Rundgang durch weitere 13 Ausstellungsräume das historische Geschehen detailliert vermitteln. Doch was im Lichthof, in den großen Linien an Dimensionen und Perspektiven noch stimmte, erweist sich bei näherer Betrachtung in den einzelnen Themenräumen an wesentlichen und entscheidenden Stellen als ziemlich unscharf. Natürlich entspricht das Angebot an attraktiven musealen Ausstellungsobjekten durchaus nicht immer den Erfordernissen, wie sie der Fachhistoriker sieht. Die Ereignisgeschichte der großen Kriege und politischen Staatsaktionen ist leichter ins Gegenständliche, Dokumentarische oder Bildliche zu übersetzen als sozialgeschichtliche Strukturen, Widersprüche und Zusammenhänge. Dennoch ist in der Ausstellung "Bismarck-Preußen, Deutschland und Europa" eben auch eine gewisse konzeptionelle Unentschiedenheit nicht zu übersehen, bei der der Sinn für angemessene Proportionen zuweilen verlorengegangen zu sein scheint...

Prof. Dr. Heinz Wolter