Neue Zürcher Zeitung, 31. 8. 90

... Wie nun das Historische Museum mit Bismarck umgehen würde, war nicht weiter schwer zu erraten. Spannender war dagegen eine Frage, die bei der Konzeption des Museums überhaupt nicht fragwürdig schien: Wie ausstellbar ist Geschichte?
Es ist alles andere als einfach, darauf eine überzeugende Antwort zu finden, und man darf sicher sagen, daß sich die Veranstalter unter der Ägide einer (holsteinischem Adel entstammenden) Gräfin von Plessen die Aufgabe nicht leicht gemacht haben, wenn sie ihnen auch durch den sehr ansehnlichen Etat von acht Millionen D-Mark erleichtert wurde. Ihr Ehrgeiz liess sie hoch zielen: Vorgestellt werden sollte nicht einfach nur ein bedeutender Mann, einfangen wollte man auch gleich noch sein Jahrhundert, eben: Preussen, Deutschland und Europa. Der 1815 geborene Bismarck soll, so erklärte es wenigstens Lothar Gall, "wie ein Ariadnefaden" durch das ausgestellte lange Jahrhundert führen, das erst 1914 zu Ende ging. Um grosse Worte, auch das darf vielleicht notiert werden, waren die Vertreter des Museums nicht verlegen.
Das Ergebnis? Kurz gesagt, von allem etwas und von Bismarck ein bisschen mehr. Wie wäre es auch anders möglich, wenn sich der Bogen spannt von Metternichs Aktenmappe auf dem Wiener Kongress über die Hecker-Uniform der 48er bis zum Field Medical Pannier Nr. 2 von 1914. Dazwischen Bilder, Schriftstücke, Siegel, Büsten, ein paar Uniformen, einige schüchtern ausgestellte, (vornehmlich Blank-) Waffen und dazwischen verstreut Bismarck-Devotionalien. Die Absicht, die hinter der Ausstellung steht, geht dem Besucher erst über dem Studium des Katalogs auf. (Kein aussergewöhnliches Ausstellungsschicksal, aber auch kein nachahmenswertes). Ein Ariadnefaden ist beim besten Willen nicht auszumachen. Was sollte Bismarck auch dazu qualifizieren, das 19. Jahrhundert zu repräsentieren. Er war kein 48er, er war kein Bürgerlicher, er war kein typischer Preusse, er war nicht einmal einer der typischen Junker, über die er spottete: "Sie essen nicht, sie trinken nicht. Was machen sie denn? Sie zählen ihre Ahnen." Bismarck dagegen ass bekanntlich gerne gut und trank viel.. .
Ein europäisches Jahrhundert in einer Ausstellung realienkundlich (und das ist ja wohl das Mittel eines Museums) einfangen: geht das überhaupt? Oder auch nur ein preussisches Jahrhundert? Selbst wenn man sich völlig dem Klischee ergibt und einfach das zusammensucht, was dem Geschichtsbeflissenen so in den Sinn kommt, müssen die Lücken gewaltig bleiben.
Das liesse sich noch verkraften, aber wie ist es um den Ertrag bestellt? Am Ende bleibt der Eindruck, viele bunte Bilder gesehen zu haben, aber nicht die Spur von der "Befragung eines Jahrhunderts" (Lothar Gall). Und wenn man sich strikt auf Bismarck konzentriert hätte und seine Welt von Adel, Garde und Kavallerie? Dazu fehlte wohl der Mut. Statt dessen musste man den Mann in ein Streckbett von europäischen Ausmassen spannen, um in seinem zugkräftigen Namen die erwünschte europäische Botschaft verkünden zu können. Das ist zwar sehr opportun und stand, wie der Direktor des Hauses ausführte, mit Blick auf EG 92 als Ausstellungsziel fest; aber es geht einfach an Bismarck und am 19. Jahrhundert vorbei, das eben das Jahrhundert des Nationalismus und der zollpolitisch betriebenen Abschottung der eigenen Wirtschaftsräume war...

Ignaz Miller