Süddeutsche Zeitung, 31. 8. 90

... Es ist wohl zwangsläufig in historischen Ausstellungen so, daß die Gewichtung der Ereignisse weitgehend durch die Aussagekraft der Exponate bestimmt wird. So können die Streitschriften, die zum preußischen Verfassungskonflikt ausliegen, kaum verdeutlichen, daß dieser Streit nicht nur Bismarck an die Macht brachte, sondern auch in einer für das junge Parlament verheerenden, auf Jahrzehnte nachwirkenden Niederlage endete. Zwar gibt es eine sehr informative Zeitung für die Besucher zu dieser Problematik in dem Raum "Eisen und Blut", doch man muß einige Zeit aufwenden, um sich da durchzuarbeiten. Andererseits zeigt die Ausstellung auch, daß sich die Exponate, die das DHM bisher angeschafft hat wie die ausdrucksvollen Bilder "Der Sozialist" oder "Der Unzufriedene" aus der Zeit der Sozialistenrepression - , wegen ihrer Aussagekraft durchaus sehen lassen können.
Die Brüche der Geschichte und ihre Widersprüche darzustellen, sagen die Ausstellungsmacher, sei beabsichtigt, Irritationen seien durchaus erwünscht. Besonders irritierend wirkt der Lichthof mit dem von dem Wiener Architekten Boris Podrecca so dramatisch gestalteten Aufgang zur Galerie mit seiner "proletarischen Achse", an dessen Ausgang das Kommunistische Manifest ausliegt, und der "Machtachse", symbolisiert durch eine Aneinanderreihung von Bismarck-Büsten. Anhand der monströsen Stahlscheiben im Lichthof mit den proletarischen Parolen will Podrecca die Spannung dieses Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Ergänzend zur DHM-Ausstellung wird auf der Galerie eine Photoausstellung zum Berlin der Bismarckzeit gezeigt, zu der Podreccas Aufgang führt. Auch die im Umgang des Lichthofes gezeigte Seelensuche der Deutschen mit den Historienbildern derzeit gibt Anlaß zu Irritation. Der Besucher ist dennoch zutiefst beeindruckt von dieser sehr sehenswerten Ausstellung. Allerdings fragt man sich hinterher, ob bei diesem "Gesellenstück" des Deutschen Historischen Museums, wie Stölzl sagt, gerade die Fülle und Opulenz der Exponate eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht eher behindert.

Marianne Heuwagen