Thüringer Allgemeine, 18.10.90

... Gleich zu Beginn seines Rundgangs wird der Besucher im Lichthof mit der Monumentalität der von Bismarck überlieferten Porträtbüsten konfrontiert. Ebenso wie riesige Schlachtengemälde der preußischen Historienmaler Camphausen und Seil bezeugen sie den Prozeß der Archaisierung Bismarcks, der Entrückung seiner in ein gegenwartsfernes Heldenzeitalter, das den Gestalten der germanischen Sagenwelt weit näher war als der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Doch sogleich relativieren die Ausstellungsgestalter den Blick des Zeitgenossen: Im Lichthof stößt der Betrachter ebenso auf herausragende Zeugnisse der europäischen Arbeiterbewegung, auf das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, vor allem aber auf "La Fiumana" von Giuseppe Pellizza da Volpedo. Dieses Monumentalgemälde des Genueser sozialkritischen Malers symbolisiert den unaufhaltsamen Aufstieg des vierten Standes und gilt als Hauptwerk des sozial engagierten Realismus. Die Ausstellung zeigt darüber hinaus weitere, weniger bekannte Beispiele dieser frühen "Arbeiterbilder".
Dieses Prinzip der Gegenüberstellung durchzieht die ganze Ausstellung. Ihre Gestalter verfolgen damit das Konzept, Bismarck in sein Jahrhundert "zurückzuführen". Es dominieren somit Zeugnisse seiner Epoche: Gemälde, Gegenstände, zentrale Dokumente der Zeit, aber auch Hinterlassenschaften des Alltags wie Selbstzeugnisse. So entsteht Raum für Raum ein Mosaikbild eines ganzen Zeitalters. Die bewältigte Dimension reicht vom Kleinsten zum Größten, von Bismarcks Bleistift bis zu einem Kolossalgemälde mit den Bildmaßen von 4,54 x 7,50 Meter. Die Gestaltung der Aus-Stellung verzichtet bewußt auf die Schau-Stellung der Objekte. Von selbst natürlich sprechen auch sie nicht. So bemühte man sich um ein Ordnungsprinzip, das ihre Aussagen verdichtete, die historische Überlieferung in ihrer eigenen Gestalt "vor Augen führt". Für die Jugendzeitung "Junge Welt" Grund genug, der Ausstellungsleitung eine "merkwürdige Distanzlosigkeit gegenüber dem historischen Objekt" vorzuwerfen...

Mirko Krüger