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Boheme und Diktatur in der DDR:
Gruppen, Konflikte, Quartiere. 1970 bis 1989
Eine intellektuelle Subkultur entstand in der DDR am Anfang der 70er Jahre. Als Initialzünder fungierten dabei der mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zum neuen SED-Chef Erich Honecker verbundene kulturpolitische Kurswechsel sowie die Rezeption der westlichen Hippie-Kultur. Das Aktionsfeld der DDR-Boheme blieb jedoch zunächst auf private Innenräume und halböffentliche Nischen beschränkt. Öffentliche Wirkung entfalteten die Boheme-Kreise durch spektakuläre Kunstaktionen in Kirchen, auf privat organisierten Veranstaltungen und in staatlichen Kultureinrichtungen. Eine große Rolle spielte zudem eine spezielle Festkultur, die zur Demonstration alternativer Lebensentwürfe wurde. Ab Ende der 70er Jahre entwickelte die ostdeutsche Boheme eine eigene Infrastruktur mit inoffiziellen Galerien, Zeitschriften, Gruppenbildungen, Buchproduktionen, Festivals und Veranstaltungsreihen. Vor allem in den abrißreifen Altstadtgebieten in DDR-Bezirksstädten wie Halle, Dresden-Neustadt, in Leipzigs Osten oder im inzwischen legendären Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg entstanden 'Inseln der Unordnung'. Dort wurde zunehmend ein selbstbestimmtes Leben möglich, freilich in den Grenzen der DDR. Anders als in den Jahren zuvor, wo Kunstrebellen wie A.R. Penck in Dresden, die Künstlergruppe "Clara Mosch" in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) oder der Ost-Berliner Liedermacher Wolf Biermann im Dauerclinch mit der Staatssicherheit und der offiziellen SED-Kulturpolitik um künstlerische und politische Freiräume kämpften, war in den 80er Jahren der Ausstieg der 'Hineingeborenen' aus einem nicht länger sinnstiftenden System bereits ein massenhaftes Phänomen. Die DDR-Boheme besaß eine erhebliche politische Relevanz, die allein schon durch ihre Existenz gegeben war. Sie lehnte zwar eine politische Oppositionsarbeit mit ästhetischen Mitteln größtenteils ab, ihr Beitrag an der innenpolitischen Destabilisierung der DDR war dennoch beachtlich - vor allem durch die modellhafte Inbesitznahme und aktionale Erweiterung von Frei- und Lebensräumen. Die intellektuelle Subkultur wurde nicht von der Staatssicherheit simuliert oder ferngesteuert. In den vielfältigen und disparaten Gruppen, Zirkeln und Kreisen der intellektuellen Subkultur ist es dem Ministerium für Staatssicherheit nachweislich nur in einigen Fällen gelungen, in die handlungsbestimmenden Zentren zu gelangen. Trotzdem wurde die DDR-Boheme zu keiner völlig autarken und autonomen Subkultur. Sie erreichte zwar ein in der DDR-Diktatur größtmögliches Maß an Selbstbestimmung, dennoch formierte sie sich nicht ausschließlich und programmatisch als 'Gegenkultur' zu den offiziellen Institutionen. Vor allem in der ersten Hälfte der 70er Jahre und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre besetzte die Boheme auch Freiräume in staatlichen Strukturen. Am Ende der DDR trugen die starke Ausreisewelle und teilweise Allianzen mit der offiziellen Kultur zur Auflösung einer nonkonformen 'anderen Kultur' bei.
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