Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Gegenverkehr auf der Töpferscheibe

Die Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß war Postamt, Fluchtort und Hauptquartier – in der Küche von Ekkehard Maaß fanden bedeutende Lesungen statt

“Seelenhunger” hat Ekkehard Maaß schon als 13jähriger Knabe gespürt – bei den in seiner Geburtstadt Naumburg stationierten Sowjetsoldaten. Für die jungen Landser mit den traurigen Augen entwickelt der Pastorensohn einen “richtigen Spleen”. Oft sitzt 1951 geborene Ekkehard mit den kahlgeschorenen Russen, Ukrainern und Kasachen am Lagerfeuer, schneidet Scheiben vom klobigen Kastenbrot und probiert von den angebotenen Fischkonserven. Hier beginnt er bald, Russisch zu sprechen, und der obligatorische Unterricht in der Schule trägt zum frühen Verständnis bei.

Im Gegenzug gibt Ekkehard Maaß, dessen väterliche Vorfahren aus Petersburg stammen, für seine fremden Freunde im elterlichen Pfarrhaus in Schöneburg kulturelle Abende. Oft müssen die Rekruten heimlich aus der Kaserne schleichen, um im gastfreundlichen Haus bei Wein und der immer wieder neu aufgelegten Eterna-Schallplatte mit Beethovens “Mondscheinsonate” wenigstens für ein paar Stunden ein Asyl zu finden. “Ich war der einzige aus dem Dorf, der zu den Soldaten einen Bezug hatte”, erinnert sich Ekkehard Maaß, der später seine Liebe zur russischen Kultur durch seine jährlichen Reisen noch vertieft. “Sie wollten einfach nur Nähe, unter Menschen sein, hatten einen unglaublichen Seelenhunger. Erst später erfuhr ich, wie hart und grausam diese jungen Menschen in den Kasernen gedrillt und gequält wurden, wieviele Selbstmorde es gab und daß sie alle nur einen Wunsch hatten, wie es im Refrain bei Bulat Okudshawa heißt: ‘Nimm den Mantel, geh nach Haus!’”(1) Seine “russophile Prägung” ist allerdings auch Schuld daran, daß er Ende der 70er Jahre einen Mann kennenlernt, dem er lieber nie begegnet wäre – Sascha Anderson. Zu diesem Zeitpunkt studiert der musikalisch versierte Pfarrerssohn in Berlin Philosophie; zudem reist er als Liedersänger durchs Land. Im Repertoire hat er selbst nachgedichte Verse russischer Poeten und frühe Biermann-Songs, die ihm der ausgebürgte Sänger, für den er 1971 zwei Konzerte organsiert, noch selbst beigebracht hat. Am Rande eines Auftritts in der von der Kunsthistorikern Gabriele Muschter geleiteten Dresdner ‘Galerie Mitte’, bekommt Ekkehard Maaß den dringenden Tip, sich mit dem damals in der Elbestadt lebenden Dichter Sascha Anderson bekanntzumachen. Aufgrund des slawischen Vornamens spürt der vitale und menschenoffene Liedersänger sofort eine Affinität. Er macht sich nachts um halb zwölf auf den Weg in die Kamenzer Straße und klingelt Anderson aus dem Bett. “Ich hörte nur Sascha. Ich dachte, das ist mein Mann. Er ist auch sofort mitgegangen, als wenn er spürte, hier ist etwas wichtiges. Obwohl er kein Russisch sprach und auch nicht die von mir erhofften Intentionen hatte, haben wir unsere Adressen ausgetauscht.”(2)

Sascha Anderson macht schnell von der Einladung Gebrauch. Er besucht Maaß in seiner Wohnung am Prenzlauer Berg, Schönfließer Straße 21. Dort leben Ekkehard und Wilfriede Maaß seit 1978 mit ihren zwei Kindern. Inzwischen ist Maaß wegen seiner politischen Haltung von der Universität relegiert worden. Auch als Liedermacher muß er in dieser Zeit mit Verboten und kurzfristig abgesagten Konzerten kämpfen. Einmal hat sogar eine defekte Toilettenbeleuchtung vorgeschobener Grund herzuhalten. Den weltoffenen Charakter der Maaßschen Wohnung überlagern diese existentiellen Probleme nicht. Die Parterrewohnung ist durch eine Tür mit der Hinterhofwerkstatt verbunden, in der die Ehefrau vor ihrem Meisterabschluß mit einer ‘vorläufigen Arbeitserlaubnis’ bereits Keramikservices, Vasen und Wandteller herstellt, die sie auf Märkten verkauft. Eine harmonische Familienwelt, wie es scheint, mit morgendlicher Musik auf Harmonium und Flöte sowie gastfreundlichen Ritualen. “Die Leute, die hier waren”, erinnert sich Maaß, “haben sich daran erfreut. Hier war eine ganz tolle warme Atmosphäre, die richtig in die Stadt ausstrahlte.”(3)

In der geräumigen Wohnküche lädt der nach seinem Uni-Rausschmiß offiziell als freiberuflicher Literatur-Übersetzer tätige Hausherr in dieser Zeit bereits unregelmäßig zu Lesungen, Vorträgen und Liederabenden. Eine Tradition, die sich bildet, nachdem im März 1978 ein Konzert von Ekkehard Maaß mit Liedern von Bulat Okudshawa im Zeughaus – den damaligen Museum für deutsche Geschichte – kurz vor Beginn verboten wird. “Da hat er die ganzen Leute spontan mit in die Wohnung genommen”, erinnert sich Wilfriede Maaß, “wir haben Matratzen und Kisten zusammengesucht. Dann fand das eben bei uns in der Küche statt.”(4) Aus der Not wird schnell eine subkulturelle Tugend. Wenig später läuft die von Ekkehard Maaß organisierte Lesereihe in der Schönfließer Straße 21 schon professionell. Meist am letzten Sonntag des Monats richtet Ehefrau Wilfriede mehrere Schüsseln mit wohlschmeckenden Nudelsalaten an, und hinter der Pedalwand des Klaviers steht jedes Mal eine beachtliche Batterie von Cabernet-Flaschen für die durstigen Dichter bereit. Der Küchentisch muß weichen, stattdessen sitzen die Dichter und ihre Gäste auf eng gereihten Stühlen und Holzbänken. Wenn die Tür offenbleibt, gehen 60 bis 70 Besucher in die Küche hinein. Die originalgrafischen Einladungen für die Lesungen gestalten befreundete Künstler.

Später spricht sich die Lesereihe, von der Dichter Uwe Kolbe glaubt, hier hätten “die wichtigsten Lesungen der jüngeren DDR-Literatur” stattgefunden, derart herum, daß sich die Besucher-Zahl fast verdoppelt. Bei der Lesung mit Jan Faktor zählt die gut informierte Staatssicherheit immerhin 130 Gäste. Deshalb greift Ekkehard Maaß auf eine Mikrofonanlage zurück, mit deren Hilfe die Texte aus der überfüllten und verrauchten Küche in die anderen Zimmer dringen. “Was mich zu dieser Lesereihe bewog, war vor allem ein starkes Sendungsbewußtsein und mein soziales Engagement”, erinnert sich Ekkehard Maaß an sein damaliges Motiv. “Das hatten viele damals, vor allem die Generation der Leute, die in den 50er Jahren geboren ist. Man wollte irgend etwas machen, einen Gegenpol schaffen zu der verlogenen Ideologie. Und dann habe ich gespürt, daß ich für sehr viele Menschen unheimlich wichtig bin mit dieser Küche, mit dieser Atmosphäre, man hat sich auch wichtig gefühlt. So wie man das im Pfarrhaus auch hat, wo man für seine Gemeinde da ist.”(5)


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