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Die Jäger der verlorenen ZeitTraum-Haft am Kollwitzplatz: Das theater Zinnober war in den 80er Jahren ein autonomes Biotop und Lebensmodell der ostdeutschen SubkulturIch bin mit dem Zug gefahren. Von Berlin über Saßnitz nach Stralsund. An die Küste von Amerika. Nach Boston. Standen tat ich dort vor einem Schlammweg. Von dem hieß es, niemand darf do rüber gehn. Ich bin trotzdem drauf. Weil am Ende des Wegs das Meer sein sollte. Zum Meer hin. Eine Seite New York, andre Seite Saßnitz. Schlitternd, fast eingemoddert, versinkend kam ich rutschend an ein Spielzeuggeschäftl. Ich dachte. Was mitbringen von Amerika. Ich rein. War alles leer. Nur ein einziges Ding im Regal gabs zu kofen. Ein Kinderkochherd. Habsch gekoft. In ner Hand rumgedreht. Da stand: made in gdr. Habsch mich unheimlich gewundert. (Pfiff) Disch is mei Zug. Muß ich einsteigen. Hartmut Mechtel hält den Bosch-Hammer wie ein vertrautes Requisit aus einer lange abgespielten Inszenierung selbstverliebt jonglierend, ein wenig zu lässig, um der Wucht des schweren Werkzeugs wirklich gewachsen zu sein. Das Dilemma folgt der Performance auf dem Fuß: Das Loch im Mauerwerk gerät zwei Nummern zu groß, und der brachial geöffnete Schornstein wird zum qualmenden Höllenschlund. Ein minutenlanger Rußregen ergießt sich über ihn, strömt erbarmungslos durch Türen, Fenster und kleinste Ritzen ins Theater o. N. in der Kollwitzstraße 53, das im Februar 1996 mit einer Premieren-Serie eröffnet wird. Kohlrabenschwarz das ganze Treppengebäude, mittendrin der staunende Pechvogel, der auch dem schwarzen Elend mit hellen Augen noch etwas Positives abgewinnt. Sechs Etagen mit Wischlappen und Wassereimer, lacht Theatermitglied Hartmut Mechtel, wenigstens kenne ich jetzt im Haus alle Ecken.(1) Die Ecken im Prenzlauer Berg kennt Hartmut Mechtel schon länger. Zum Beispiel 150 m weiter links, Knaackstraße 45. Dort leuchtet ab 1980 hinter der großen Fensterscheibe eines Parterre-Ladens immer ein gelber Lampion. Ein weise lächelndes Mondgesicht wirft sein fahles Licht auf den Kollwitzplatz. Allabendlich, fünfzehn Jahre lang heimliches Wahrzeichen des stillen Aufruhrs, seitdem das theater Zinnober die begehrten Räume 1980 mit schlitzohriger Energie bezieht. Dort arbeitet, lebt und probt die freie Theatergruppe bis zum Frühsommer 1995, bis sie ihre Vertreibung aus dem heimatlichen Domizil mit einer ausverkauften Abschlußwoche als kollektives Kunstereignis zelebriert. Auslöser der Vertreibung aus dem baufälligen Privatgebäude, das in der DDR von den Behörden zwangsverwaltet wurde, ist der neue Besitzer, der die Zukunft der gut plazierten Immobilie lieber nach Maßgabe der Gewinnmaximierung am Reißbrett eines auf Luxussanierungen spezialisierten Architektenbüros entwirft. So belibt kein Platz mehr für das defizitäre Theater o. N., wie sich Zinnober seit der Wende nennt. Doch Künstlerfreunde aus dem Kiez, in dem der solidarische Zusammenhalt mitunter noch funktioniert, vermitteln rasch einen neuen Theaterraum, so daß das Kofferpacken nicht allzu schwer fällt. Der Lampion allerdings liegt noch heute, tief verkramt und wohl gehörig lädiert, in irgendeiner Kiste im Abstellraum in der Knaackstraße 45. Den ausgeräumten und besenreinen Räumen sieht man nicht mehr an, daß hier jahrelang ein Theater geprobt hat. In den Anfangszeiten, erzählt Zinnober-Mitglied Uta Schulz über die Tagesablauf der freien Gruppe, haben wir uns immer morgens um 9 Uhr getroffen. Nach fünf Jahren rutschte die Anfangszeit auf 10 Uhr. Dann wurde Bewegungstraining gemacht und mit der Arbeit begonnen. Meistens wurde am Nachmittag pausiert, und am Abend begann die nächste Probe.(2) Es ist dennoch mehr als ein gewöhnlicher Umzug auf Raten. Der Auszug aus den angestammten Räumen ist zugleich das amtlich beglaubigte Ende eines inspirierten Ortes, der in den 80er Jahren mehr als die Probestätte eines bekannten Off-Theaters westlicher Prägung ist das theater Zinnober versteht sich als autonomes Biotop und freiwillig bezogene Versuchslabor eines anderen Lebensmodells mit offenem Ausgang. Dies gilt zumindest für die Zeit, als die Gegend um den schönsten Platz im Prenzlauer Berg noch nicht zum Eldorado einer gesamtdeutschen Yuppieszene verkommen ist. Damals, wo es den heutigen SPD-Vize Wolfgang Thierse noch gerechtigkeitsbesessen mit wehendem Trenchcoat durch die Straßen im Viertel treibt, im Künstlertreff 1900 ein schnöder Strick den Eingang vor ungebetenen Gästen schützt, und der Trabant 601 Kombi des steppenden Saxophonisten und Zinnober-Spielers Günther Lindner vor der Fahrt zu einem Auftritt mal wieder nicht in die Gänge kommt. Wir haben uns hier am Kollwitzplatz in die Klausur zurückgezogen, erinnert sich Günther Lindner an die Motive der frühen Jahre, die Jalousien runtergelassen und die Schotten dichtgemacht. Wir wollten Theater machen, glaubwürdig, zu dem wir stehen konnten. Aber auch unsere Art von alternativem Leben versuchen. Dafür haben wir die offiziellen Theater verlassen und sind ins Ungewisse gegangen. Einerseits waren wir so etwas wie Kanalratten, andererseits hat uns die gemeinsame Arbeit unheimlich viel Spaß gemacht.(3) Folgenreich zusammengerauft haben sich die Theatermacher beim ersten Engagement im 1976 gegründeten Neubrandenburger Puppentheater, das damals ein Sammelbecken talentierter Absolventen ist, die nach einem nonkonformen Arbeits- und Lebensstil streben und in einer wenig kulturvollen Kommune kurzzeitig auch Verbündete in den staatlichen Entscheidungsebenen finden. Wir hatten das Gefühl, sagt Gabriele Hänel, Zinnober-Mitglied und Mitbegründerin des Neubrandenburger Puppentheaters, über die damalige Hochstimmung, wir haben ein Pferd geklaut.(4) Dieter Kraft sieht sein Engagement damals als letzten Versuch, ob man in den gegebenen Strukturen so etwas wie eine Insel schaffen könnte.(5) Nach anderthalb Jahren, als sich das Theater mit bemerkenswerten Inszenierungen im Land bereits einen Namen gemacht hat, endet der erfolgversprechende Unternehmen. Zum einen bemühen sich die lokalen Kulturfunktionäre mit Erfolg um mehr Mitsprache, was unweigerlich zu Spannungen und konzeptionellen Abstrichen führt. Zum anderen scheitert der Entwurf einer demokratischen Theaterstruktur, die viele erst den beschwerlichen Weg in die mecklenburgische Provinz hatte antreten lassen, ausgerechnet am autoritären Gehabe einiger Mitstreiter. Die Enttäuschung sitzt tief. Dennoch halten die übrigen Puppenspieler am Ziel einer unabhängigen Theatergruppe fest. Vor diesem Hintergrund gründet sich im Sommer 1979 im sächischen Crimmitschau das theater Zinnober. Der märchenhafte Name leitet sich von der chemischen Verbindung Quecksilbersulfid her, das als rotes Pigment für Künstlerfarben verwendet wird. Beteiligt sind die enttäuschten Neubrandenburger sowie Therese Herwig und Hans Krüger, die als bereits bestehende Puppenspieler-Zweiergruppe sozusagen die Keimzelle des neuen Theaters bilden.
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