Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Wer “Traumhaft” gesehen hat, wird Günther Lindner kaum widersprechen können. Das vierstündige Opus, formal die Aneinanderreihung von acht halbstündigen Monologen, unterbrochen und kommentiert vom Chor der anderen Spieler, ist eine der radikalsten und zugleich poetischsten Kunstereignisse jener Zeit. Wie Dieter Kraft als introvertierter Stuhlmann seinen Körper mit der Sitzgelegenheit verknotetet, Werner Hennrich sich als Tuba Asher mit Braunkohlen-Asche einseift oder Uta Schulz in der Rolle als Singstimme absurde Wortreihen zu neuer Bedeutung führt – das ist unter anderem auch politisches Theater, mit feinster Klinge gefochten. Mit “Traumhaft” gelingt für vier Stunden der Aufstand geschundener Seelen. Die Zurückerlangung individueller Würde, die in der DDR ein Schattendasein fristet. Im damaligen Werbematerial, das in nächtelanger Arbeit auf Fotodokumentenpapier vervielfältigt wird, beschreibt die Gruppe die Inszenierung: “Die Figuren des Stücks sind Reisende auf der Stelle. Sie sind bepackt mir Requisiten einer merkwürdigen, grotesken Ausfahrt in den Raum ihrer Erinnerung, projiziert auf die leere Fläche eines kleinen Podestes (...) Es sind Eingesperrte ohne Bewachung, ohne Gitter, vor der offen Fläche des Podestes, traumverhaftet, zwischen Erwachen und Schlaf, zwischen Gehn-können und Bleiben-wollen, in der ambivalenten Situation eines Tagtraums, mit offenen Augen, die anderes sehen als das Unmittelbare um sich herum. Es sind Figuren, die warten müssen und nicht mehr können, maskierte, verpuppte Wesen, die unter ihren Hüllen, sie langsam abstreifend, eine Wandlung beginnen.”(12)

Zwei Jahre tourt Zinnober erfolgreich mit der Produktion übers Land, in FDJ-Jugendklubs und Studentenkellern, bei Privatfeiern und Theatertagen. Da die Gruppenmitglieder lediglich über Einzelzulassungen als Puppenspieler, nicht jedoch über die Lizenz einer freien Theatergruppe verfügen, kommt es bisweilen zu obskuren Spielverboten und kurzfristig abgesagten Auftritten. Die Genehmigungsbehörde, der Magistrat von Berlin, stößt sich am Anspruch der Gruppe, ein ‘Theater’ zu sein, auch wenn es sich im Titel kleinschreibt. Die Institution Theater, so das Verdikt der Gesetzeshüter, muß staatlich bleiben. Als Alternative bietet man Zinnober den Status eines ‘Wanderzirkus’ an, denn hierfür hält die DDR-Gesetzgebung die passenden Paragraphen bereit. “Wir haben uns also der Mühe unterzogen, weil das für uns der einzige Lichtblick war”, erinnert sich Dieter Kraft. “Gut, machen wir also einen Wanderzirkus. Wir haben uns der Arbeit unterzogen, ein Statut auszuarbeiten, mit Juristen zusammen, wobei wir immer versuchten, den Aspekt der Gruppe und der Gleichheit juristisch zu formulieren.”(13)

Letztendlich gleicht das Zugeständnis jedoch der Quadratur des Kreises. Aus den Zinnober-Leuten wird zum Glück niemals eine Dompteursriege, die mangels finanzieller Masse statt indischer Elefanten mecklenburgische Ziegen über die Zeltarena treibt. Die Idee verläuft im Sand, und der Zinnober-Mythos wächst von Aufführung zu Aufführung. Schließlich setzen Christa Wolf und Heiner Müller 1987 ein öffentliches Vorspiel der “Traumhaft”-Inszenierung durch – vor Mitgliedern der Akademie der Künste zu einer Sitzung der Sektion Darstellende Kunst im Studiotheater bat(14). In der anschließenden Diskussion erhitzen sich die Gemüter darüber, wie “Zinnober" eine offizielle Legitimation erhalten kann. So stellt beispielweise Heiner Müller fest: “Ihr habt den Status einer freien Truppe. Es geht darum, aus der freien Truppe eine notwendige Truppe zu machen. Und wer muß jetzt veranlaßt werden, die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Freiheit zu haben?”(15) Genau das ist das Problem, um dessen Lösung sich nach der Akademiesitzung auch unbekannte Helfer bemühen. Die Reaktion ist verblüffend: Zinnober gilt fortan als opportun, bekommt Reisepässe und einen Scheck über 30.000 Mark vom Kulturbund überreicht. Selbst die sonst so hasenfüßige Redaktion der Zeitschrift Theater der Zeit fühlt sich nach erlebter Katharsis berufen, für das mutige Projekt eine Bresche zu schlagen – zwei Jahre nach der Premiere von “Traumhaft”. So faßt TdZ-Redakteur Martin Linzer seine Rezension wie folgt zusammen: “Natürlich braucht die Gruppe Arbeits- und Auftrittsmöglichkeiten, einen Platz in unserer kulturellen Landschaft, den sie sich de facto – kraft ihrer Professionalität, ihrer künstlerischen Überzeugungskraft, ihrer politischen Haltung – beim Publikum längst erspielt hat.”(16)

Die staatliche Anerkennung wirkt auf die Zinnober-Spieler, die doch sonst so feinnervig den düsteren Wahrheiten in den deutschen Märchen nachspürt, wie ein vergifteter Trank. Die erste Westreise zu einem Kinder- und Jugendtheaterfestival, bei dem Zinnober statt des abgespielten “Traumhaft”-Stückes Einblicke in die Puppenspielarbeit gibt, bleibt noch folgenlos. Doch wenig später verlassen zwei wichtige Spieler die Truppe. Der Zenit ist überschritten, die Flucht in die Arbeit kann diese am kollektiven Ego zehrende Diagnose nur noch verdrängen. “Es war die Zeit des Ausblutens”, meint Günther Lindner: “Wir sind im höchsten Grade verunsichert gewesen, was unser Selbstverständnis in der DDR betraf. Es gab immer wieder Diskussionen, was soll das noch, das hat sowieso keinen Zweck mehr. Wir müssen fort, ein Zeichen setzen.”(17) Mit “Sponsai”, ihrer speziellen Fassung des Shakespearschen Sommernachtstraumes, versucht Zinnober sich nochmals gegen diesen internen Sog zu stemmen. Vergeblich – es entsteht zwar eine bemerkenswerte, jetzt auch dialogisch aufgebaute Inszenierung, die 1989, kurz vor der Maueröffnung noch zum Hamburger Festival “Theater der Welt” eingeladen wird. Die ursprüngliche Kraft von “Traumhaft” erreicht sie allerdings nicht mehr. “Bei ‘Traumhaft" sind wir noch an das Publikum herangegangen mit der Erwartung”, resümiert Dieter Kraft, intellektueller Kopf der Gruppe, das spürbare Defizit, “ihr seid die Besseren, die Klügeren, die Reiferen, ihr werdet verstehen, was wir tun. Bei ‘Sponsai’ war die Geste, sich niederzuknien, die Hand aufzuhalten und zu betteln, daß Vertrauen Sinn hat, daß es dafür einen Raum geben muß usw., – wie jemand, dem der eigene Boden weggezogen ist, eine Art Wurzellosigkeit. Es war die Hoffnungslosigkeit, keinen Raum im umfassenden Sinne zu haben, wo ein Aufbau möglich ist.”(18)

Mit der Wende zerbricht der Zinnober-Ring. Die Gruppe ist zum Opfer der eigenen Legende geworden, die in der euphorischen Feuilletonschlacht um die Ost-Subkultur stark verzeichnet in Umlauf kommt. An diesem Anspruch kann und will sich das kleine Häuflein der Dagebliebenen nicht mehr messen. Also benennt man sich um: Theater o.N.: Theater ohne Namen – und mit blutendem Herzen.

Der Berliner Senat hat den Neuanfang finanziell unterstützt. Doch die gemeinsamen Zinnober-Jahre haben ihre ganz eigene Beharrungskraft entwickelt: Nach und nach kehren die Spieler fast alle an den Kollwitzplatz zurück – leicht angegraut, die meisten nun schon um 45, mit neuen Erfahrungen und Ideen im Gepäck – eigentlich viel Stoff für die Bühne. Und irgendwann wirft sicher auch wieder der alte Lampion sein gelbes Licht auf die Straße.


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