Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Das eigene Leben selbstbestimmt zu leben, das war die Haltung in dieser nonkonformen Gegenwelt, aus deren Konsens und mit deren Beistand Gottfried Reinhardt im Dezember 1972 zum ersten Mal sein selbstgezimmertes Puppenbühnenhaus aufstellt – in der Schinkel-Wache neben dem Zwinger, wo in der Außenstelle des Institutes für Theater und Kulturbauten zwei ehemalige Kommilitonen untergekommen sind. Bei der privaten Aufführung in den Büroräumen taucht der bekannte Puppenspieler Herbert Ritscher auf, einer der letzten Nachfahren des sächischen Wandermarionettentheaters, der Reinhardt auf seinem neuen Weg ermutigt, nachdem die beiden selbstverfaßten Kurzstücke “Die Hochzeit im Spreewald” und “Don Giovanni” bei der Premiere mit tosendem Beifall aufgenommen werden.

Damit hat der Puppenspieler sein ureigenstes Metier gefunden, das ihn bis heute nicht losgelassen hat. Gottfried Reinhardt spielt in den folgenden Jahren griechische Tragödien, sächsische Schwänke, groteske Genremischwerke und große Opernstoffe, die “Mord in der Elbe”, “Ein Bankeinbruch” oder “Die Fortsetzung der Oper Carmen” heißen(13). “Mein Theater soll die Bombe des Lebens entschärfen”, formuliert er seit jener Zeit nicht ohne Pathos sein Künstlerziel, “es soll die Menschen ein wenig lösen, erlösen kann ich sie nicht.”(14) Diesem Credo bleibt er treu, auch wenn er sich von seinen anfangs noch selbstgebauten Marionetten bald schon verabschiedet – vor allem wegen schwindender Muskelkraft, denn bei den immer zahlreicher werdenden Auftritten hängen ihm die geschnitzten Protagonisten wie Blei in der Hand, wenn das Publikum nach jedem anrüchig-doppeldeutigen Vers (und was war in der DDR nicht alles auf die konkrete Lage zu beziehen) minutenlang klatscht und den hinterm Bühnenhaus verborgenen Verfasser feiert, ehe der endlich in der Handlung fortfahren kann. Zudem ist die verschraubbare Marionettenbühne bei Wind und Wetter ohne Auto nur mit großem Kraftaufwand auf dem Rücken des Knstlers zu transportieren.

“Ein Ballon steigt, indem er Ballast abwirft”(15), kommentiert Reinhardt seinen ästhetischen Figurenwechsel und bastelt fürderhin Handpuppen. Mit denen muß er zwar auf expressive Gesten und wirkungsvolle Tanzschritte verzichten. Dafür sind seine neuen Helden aber um ein vielfaches mobiler und stecken leicht auf der Hand. Die Puppenköpfe stellt er in anstrengender Nachtarbeit aus Dübelmasse oder Plastilina her, auf die er immer neue Papierschichten klebt, die später geglättet und abgeschliffen werden. Auch bei den Kulissen und Requisiten greift Reinhardt auf einfachste Materialien zurück. In seiner “Faust”-Adaption beispielsweise holt Gevatter Tod das gefallene Gretchen ab, und die blondgezopfte Unglückspuppe beklagt inbrünstig schluchzend ihr Frauenschicksal: Ich habe von der Liebe kaum genippt/und bin schon umgekippt./Gleich bricht mein Herz entzwei./Es kracht./Und alles ist vorbei. “In diesem Moment”, sagt der Puppenspieler lächelnd, “bin ich immer mit voller Kraft auf eine Eierkiste oder ein dünnes Brett gelatscht. Wenn das Herz bricht, dann muß es doch knallen!”(16)

Wo Gottfried Reinhardt spielt, ist die Macht nicht zu Gast. Wo er hinkommt, trifft er auf rätselhaft vernetzte kulturelle Kreise und Cliquen, eine sinnstiftende Gegenwelt zur staats- und parteitreuen Kamarilla in der DDR, “die sich irgendwie alle kannten und rochen.”(17) Da bricht für einen Abend ein Lebensgefühl auf, das sich nicht unter die Normen und Regelwerke sozialistischer Kulturpolitik zwängen läßt. Ein Impuls, den er von seinen Zuschauern aufgenommen fühlt – wo immer seine Puppen Gerichtstag über die Menschenwelt halten. Am liebsten hat er im Publikum aber Maler und Theologen sitzen, wegen der unverstellten Reaktion. Studenten seien dagegen nur sehr bedingt aufnahmebereit. Ob im Ostsee-Atelier von Otto Niemeyer-Holstein, in der kleinen verrückten Kellergalerie der Dresdner Konstruktivistin Inge Thiess-Böttner, im offenen Salon von Ardennes auf dem Weißen Hirsch oder in einer für den Abend mehr schlecht als recht kaschierten Leichenhalle eines Pflegeheims in Sperenberg – sein Ruf eilt ihm voraus. Reinhardts Produktionen gelten in der “Szene” bald als legendär. Seine Aufführungen in Privatsalons, Kirchenräumen und Hinterhofgalerien sind poetische Lichtblicke im abgedunkelten Raum. “Ich habe die DDR nicht angegriffen, gar niemanden. Ich habe nur einfache Dinge gesagt, in einem Stück zum Beispiel: ‘Die mächtig uns erscheinen,/sind schwächer als die Kleinen./Sie wagen keinen Schritt allein/ aus Furcht, es könnt’ ihr letzter sein.’ Und wer diese Jacke anziehen wollte, der zog sie eben an.”(18)

Bald spielt er zwei bis drei Vorstellungen in der Woche, was mit der Zeit jedoch unweigerlich die Staatsmacht auf Trab bringt, die den anscheinend so harmlosen Philanthropen Anfang der 80er Jahre plötzlich disziplinieren will. Da er ohne behördliche Auftrittsgenehmigung durch die ostdeutschen Provinzen tourt, verweigert ein vorgeschickter Kulturfunktionär weitere Puppenspiele, es sei denn, Reinhardt ließe sich ordnungsgemäß als Volkskünstler einstufen. Von seiner Profession als Architekt und Bühnenbildner könne er jedenfalls kein Recht zum öffentlichen Puppenspiel ableiten. Reinhardt versteht, beißt in den sauren Apfel und spielt mit mißmutigem Gesicht vor einer Abnahmekommission die wohl schlechteste Vorstellung seines Lebens. Belohnt mit dem größtmöglichen Erfolg, den ihm die hämisch grinsenden drei Kulturwächter bei diesem erniedrigenden Abstrafungstermin gönnen: einer Volkskunstzulassung, Prädikat “Mittelstufe sehr gut”, die ihm künftig erlauben soll, 19 Mark Entschädigung pro Abend zu nehmen. Daneben muß er ein paar Jahre lang seine Texte zur Prüfung einreichen, bis auch diese Auflage mit der ‘Wende’ versandet. Jetzt muß er einfach nur schmunzeln, wenn er seine Gutachter hin und wieder in Dresden auf der Straße trifft. “Eigentlich waren wir immer wie freche Kinder”, resümiert Gottfried Reinhardt, der heute von einer kleinen Rente und Einkünften aus seinen Puppenspielen lebt, “und eigentlich wollen wir das auch bleiben.”(19)


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