Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Robert Rehfeldt ist ein wichtiger Anreger für die Dresdner Mailartisten Jesch, Gottschalk, Giersch und Stange, ansonsten sind die vier befreundeten Individualisten auf sich allein gestellt. Ohne kollektiven Anspruch und jeder auf eigene Weise beginnen sie mit der Produktion von Mail Art-Karten. Die Vervielfältigungstechniken entsprechen den Bedingungen der Diktatur, wobei das Beschriften von hunderten Kuverts per Hand dabei noch die lustigste Übung darstellt, zumal die Nächte mit reichlich “Cabernet” und Musik wie von selbst vergehen. Die eigentliche Mail Art-Produktion erweist sich als komplizierter. Da werden Motive aufwendig mit dem Fleckenwasser "Nuth" von Illustrierten und Dokumentvorlagen abgepaust. Aus Radiergummis werden Stempel geschnitten. Mit der alten Hand-Wäschemangel aus Omas Zeiten werden Linolschnitte gedruckt, und der in der DDR-Subkultur berühmte Kinderstempelkasten “Famos” leistet auch hier vortreffliche Dienste.

Das meistgenutzte Medium aber ist die Schwarz-Weiß-Fotografie. Als Vorlage verwenden die Postkünstler Text-Bild-Collagen, die selbst mit der “Practika” abfotografiert und danach mühsam entwickelt und Stück für Stück vervielfältigt werden. Für die Herstellung von 200 bis 300 Einladungskarten verbringen die sächsischen Mailarter mehrere Tage in der Dunkelkammer. “Ich hatte in Dresden keine Dunkelkammer”, erinnert sich Birger Jesch. “Alle Fotos machte ich in Nachtschichten bei Freunden, insgesamt bei sechs verschiedenen Freunden. Den kleinen Katalog zum Projekt ‘Hommage à Wilhelm Reich’ auf Dokumentenpapier trocknete ich auf der Trockentrommel eines Drogisten, der hinterher über die Motive erschrak, als er noch ein Blatt in der Presse fand.”(6) Und Lutz Wohlrab fügt sarkastisch hinzu: “Ich erinnere mich, in der Ausstellung des KZ Buchenwald primitive Druckgeräte aus dem Lager gesehen zu haben, die frappierend denen glichen, welche in unseren Wohnungen beschlagnahmt wurden.”(7)

Jürgen Gottschalk sind die zeitaufwendigen und uneffektiven Vervielfältigungsmethoden bald ein Ärgernis. Bereits 1976 bekommt er aus dem Westdeutschland eine kleine Siebdruckausstattung mitgebracht, bestehend aus drei Rakeln, ein paar Töpfen Farbe und einem Siebdruck-Sieb. Der Darmstädter Besucher, hilfsbereiter Dozent an der dortigen Fachhochschule, gibt erste Anleitung. In der DDR ist das Medium in jener Zeit fast noch unbekannt. Für Gottschalk, der sich vorher zusammen mit Birger Jesch am aufwendigen Holzschnitt und Tiefdruck versucht, ist der moderne Siebdruck nicht nur wegen der erreichbaren Auflagen geradezu eine Offenbarung. In den nächsten zwei Jahren bildet sich der ehemalige Wismut-Hauer selber zum Drucker aus. “Ich war wie ein Schwamm”, erzählt Gottschalk, “ich habe alles aufgesogen, was für mich zum Thema an Informationen greifbar war. Wenn die Kinder im Bett waren, habe ich nächtelang probiert. Alle Kniffe mußte ich mir mühselig erarbeiten. Es war verrückt: Ich teilte ich die Menschheit plötzlich in Frauen und Siebdrucker ein.”(8)

Die durchgemachten Küchen-Nächte zahlen sich aus. Jürgen Gottschalk erreicht solch ein handwerkliches Niveau, daß künftig auch Verbandskünstler bei ihm drucken wollen. In der Anton-Graff-Straße baut er sich eine Siebdruckwerkstatt aus. Im November 1979 erhält der Autodidakt mit der Unterstützung einer von seinen Druckerqualitäten überzeugten Künstlerlobby die auf zwei Jahre befristete Arbeitsgenehmigung, ohne allerdings als Drucker regulär in den Bezirksverband Bildender Künstler aufgenommen zu werden, was für eine dauerhafte Druckerkarriere notwendig wäre. So sind die eingeräumten zwei Jahre zugleich Probezeit und Galgenfrist.

Mit Gottschalks sanktionierter Druckwerkstatt brechen für die Mail Art-Crew vorerst gute Zeiten an. Das Dresdner Quartett schreibt und stempelt die ersten internationalen Projekte aus. Birger Jesch eröffnet 1980 mit seinem Schießscheiben-Projekt, an dem sich 5O Partner beteiligen. Gestaltungsgrundlage sind dabei Schießscheiben aus der in der DDR üblichen “vormilitärischen Ausbildung.” Ein Jahr später setzt er mit “Please stamp for me” fort. 195 Partner aus 29 Ländern stempeln auf die aus Dresden zugeschickten rosa Löschblätter. Etwa zur selben Zeit initiiert Jürgen Gottschalk sein Projekt “Visuelle Erotik”, auf das er immerhin 141 Kunstreaktionen erhält. Trotz erheblicher Kosten und anfänglicher Probleme beim Versand der Einladungen: Er verschickt sie per Einschreiben und bekommt alle 267 Sendungen wegen angeblichen Verstoßes gegen die Postordnung entwertet zurück. Steffen Giersch folgt 1982 schließlich mit seinem Mail Art-Debüt “Mobil ohne Auto”, und Joachim Stange greift zeitgleich das in der DDR bis zum Ende des Honecker-Staates aktuelle Hippie-Motiv “Make love – not war” als postkünstlerische Initialzündung auf. “Für uns war das ein Stück Emanzipation”, erklärt Birger Jesch die damalige Mail Art-Euphorie, “man war nicht mehr auf den kleinen Zirkel angewiesen und hatte das Gefühl, sich Stück um Stück ein verloren geglaubtes Territorium zurückzuerobern.”(9)


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