Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Rallyes, Feten, Burggeflüster

Aufruhr an der Saale: In Halle etablierte sich trotz der räumlichen Nähe zur Schwesterstadt Leipzig eine eigenständige und bunte Stadt-Bohème

Bevor Lyonel Feininger zwischen 1929 und 1931 seine berühmten Halle-Bilder malt, fotografiert er zunächst die ihn inspirierenden Kirchen, Häuser und Plätze. Eine künstlerische Verfahrensweise, die heute bei vielen seiner damaligen Motive nicht mehr möglich ist - mangels architektonischer Masse. Denn Halle, die mit 235.000 Einwohnern einst sechstgrößte Stadt der DDR, avanciert in der realsozialistischen Malaise zum traurigen Sinnbild städtebaulichen Verfalls. Nirgendwo sonst wird eine historische Altstadt in solch radikalen Weise "auf Abriß gestellt", so der höhnische Jargon der Stadtplaner.

Während in Halle-Neustadt eine gigantische Trabantenstadt für 92.000 Einwohner hingeklotzt wird - "Fickzellen mit Fernheizung" nennt Heiner Müller die trostlosen DDR-Plattenbauten - verrotten in der Innenstadt massenhaft Fachwerkhäuser, Adelsvillen und Gründerzeitbauten. Der giftige Wind aus Buna, dem größten Chemiekomplex im Lande, und der Phenolgestank von der Saale tut ein übriges.

Aus Halle, der "Diva in Grau", wird in den letzten beiden DDR-Jahrzehnten eine gebrechliche Alte, reif für die Sterbestation. "Man muß hier leben, inmitten der Altstadt, die den Namen wirklich verdient, in einem der grauen, schiefen, über Strecken von Putz befreiten Häuser, denen man Lepra, Pest, Aussatz und andere delikate Dinge andichten möchte", diagnostiziert der Prenzlauer-Berg-Dichter Detlef Opitz, der fünf Jahre in Halle wohnt, "und es kann einem gelingen, den Charme der Stadt zu entdecken, der Gräue, der Morbidität, der Vergänglichkeit; es ist dieser Charme, der die Stadt abstoßend macht". (1)

Der rasante Verfall hat allerdings auch positive Seiten - er gibt Räume frei, die anderenorts undenkbar wären. So existiert in der Hallenser Altstadt schon ab Ende der 60er Jahre eine vernetzte Wohnungs- und Hausbesetzerszene. In Straßenzügen, deren bereits beschlossener Abriß sich wegen der sozialistischen Planungsmisere oft lange Jahre hinauszögert, mitunter auch ganz unterbleibt, sammelt sich die Subkultur. Es entstehen Quartiere, die, trotz Rattenplage und Trockenklosetts, für unangepaßte Milieus zum Eldorado auf Zeit werden. Eine von der überforderten Staatsmacht tolerierte Inbesitznahme von Stadträumen, die zu jener Zeit in dieser Dimension im Lande unerreicht bleibt. Vor allem im Gebiet um die Fleischerstraße und die Kleine Marktstraße - aber auch in den Arealen um die Straßenzüge Kuttelhof, Spitze und Kellnerstraße. Dort proben Anfang der 70er Jahre junge Studenten, Künstler und Aussteiger westliche Lebenskonzepte. "Eine Zeit voller Lebenslust und Flausen", wie sich Volker Petzold, einer der Kommunarden im Haus Kellnerstraße 7, an den Beatnik-Rausch erinnert, "angefüllt mit Arbeit und Feten, mit Liebelein und ´politischer Betätigung`". Gegen die aus den Fenstern dröhnende Musik von Jefferson Airplaine schreiten die örtlichen Ordnungshüter nur mit Bußgeldern ein. Als aber in den hedonistischen Kreisen und marxistischen Debattierzirkeln wenig später selbstverfaßte Sozialismus-Konzepte und schriftliche DDR-Diagnosen kursieren, statuiert die Stasi im November 1973 ein Exempel: Christoph Prüfer, intellektueller Vordenker der Kellnerstraßen-Clique, wird zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt, später aus der Haft in den Westen abgeschoben. (3) Auch in der Fleischerstraße 13, bis 1989 eine legendäre Adresse, beginnt bereits Ende der 60er Jahre eine Ära alternativer Kulturarbeit. Jochen Friedrich und Dieter Zimmermann gründen eine illegale Galerie, wegen der baulichen Substanz des Hauses schlicht "Feuchtraumgalerie" genannt. Sie führen Ausstellungen und Auktionen durch, welche später auch unter Mitwirkung von Uli York zu stadtbekannten Ereignissen werden. "Auf jeden Fall dachten wir uns die Feuchtraum-Aktionen eher als einen chaotischen Spaß mit ernstem Hintergrund" berichtet Jürgen Friedrich, "und keinesfalls als ernste, oder betuliche Veranstaltungen mit programmatischem Vordergrund." (4)

Diese Lageeinschätzung trifft das spezifische Mischungsverhältnis der Hallenser Bohème: Trotz des offensichtlichen Verfalls der Stadt agiert hier eine lebensfrohe und phantasiereiche Szene. Miteinander fast familiär verbunden, in zahllosen Festen und Partys konstituiert. Der wichtigste Motor bleibt allerdings die "Burg", die "Hochschule für industrielle Formgestaltung" in der Burg Giebenstein. Die Hallenser Kunsthochschule ist das steinerne Kontinuum in der Geschichte der regionalen Subkultur. Nicht als unmittelbarer Aktionsort, eher als lokaler Bezugs- und Reibungspunkt der facettenreichen Szenerie. Der Studentenklub der "Burg", die "Gosenschänke", wird neben der später abgebrannten Kneipe "Zum Mohren" zu einem wichtigen Treffpunkt. Unangepaßte Dozenten und Studenten bereichern die mitunter skurrilen Aktivitäten der städtischen Spaß-Bohème. Etwa die jährlich stattfindende Petersberg-Rallye, vom umtriebigen Maler Wasja Götze (5) organisiert, die bis heute losgetreten wird. Trotz der räumlichen Nähe zu Leipzig, beide Städte trennen gerade mal 36 Kilometer, entstehen kaum Kontakte zwischen den unangepaßten Künstlerszenen, die ihre gegenseitige Abneigung zudem in Ignoranz stilisieren. Intellektuelle Impulse kommen eher aus dem Umfeld der Hallenser Martin-Luther-Universität und von der "Leopoldina", der ältesten deutschen Naturforscher-Akademie. Ihrem langjährigen Generalsekretär Horst Hanson gelingt es, hochkarätige Wissenschaftler zu Vorträgen nach Halle zu holen. Geistige Freiräume, die von Haus- und Lesekreisen geweitet werden.

Doch die zunehmende Agonie können solche Aktivitäten nur lindern. Mehrere große Ausreisewellen reduzieren die kritische Masse in der Stadt. Eine neue Generation tritt auf: Anfang der 80er Jahre formiert sich in Halle eine starke Aussteigerkultur, die republikweit Akzente setzt. In der Christuskirche, vom unorthodox agierenden Pfarrer Siegfried Neher (6) ermöglicht, finden die ersten überregionalen Treffen ostdeutscher Punkgruppen statt. In dieser Zeit werden die Abrißbuden in der Altstadt wieder wichtiger - etwa das "Objekt 5" in der Seebener Straße. Dort liest Kultfigur "Matthias" BAADER Holst (7), spielen Punkbands wie "Größenwahn" und "Die letzten Recken". Im Unterschied zu anderen Stadtszenen mischen sich im kleinen Halle die Generationen. Punker nehmen an der hippiemäßigen Petersbergrallye genauso teil, wie gestandene Mittfünfziger an den "kulturellen Festen" in der Mansfelder Straße, wo ab Mitte der 80er Jahre mit New Wave und Art-Punk die Post abgeht. Überschaubare Zustände zwischen Intimität und Abschottung, exzentrischen Loslösungsversuchen und bindenden Kleinstadthierarchien. "Die Hallenser Szene war wie eine große Familie" erinnert sich Moritz Götze, heute einer der shooting stars auf dem deutschen Kunstmarkt, "eine begrenzte Welt, die für unsere Auffassung vom Leben der richtige Ort war."(8)


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