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Capri-Fischer auf der Saale

Wie die Pop-Art nach Halle kam: Wasja und Moritz Götze als künstlerisches Familiendoppel und vitale Protagonisten der Stadt-Bohème

Die "Schelmuffsky-Troffi" ist das härteste Radrennen der östlichen Welt. Jedenfalls zwischen Braunsbedra und Löbejün, wie Wasja Götze, Liebhaber italienischer Rennräder und stadtbekannte Koryphäe für alle subkulturellen Belange, augenzwinkernd erzählt. Halles tollkühne Wettfahrt findet seit Ende der 70er Jahre statt. Die etwa fünf Kilometer lange Strecke führt rund um den Petersberg, mit 250 Metern die höchste Erhebung in unmittelbarer Nähe der Saalestadt. Namenspatron für das sagenumwobene Pedaltreter-Ritual ist der einheimische Dichter Christian Reuter, er veröffentlichte vor 300 Jahren den Lügenroman "Schelmuffsky". Seinen legendären Ruf aber verdankt das schräge Rennen zweifelsfrei Wasja Götze.

Getreu nach dem literarischen Schelmuffsky-Prinzip ist auf der jährlichen Kurz-Tour, die der Maler und Grafiker organisiert, außer roher Gewalt fast alles erlaubt: Blockaden, Possen, Spaßeinlagen. Den kostümierten Rennfahrern wird statt antrainierter Muskelkraft vor allem kleinkriminelle Phantasie abverlangt, um die Gunst der alkoholisierten Jury zu erlangen. Nur wer zuerst durchs Ziel fährt, hat garantiert verloren. "Die einzige Trophy", erzählt Wasja Götze nicht ohne Ausrichter-Stolz , "bei der Betrug, Manipulation und Gemeinheiten zugelassen sind." (1)

Jenes groteske Rennen ist unumstrittener Höhepunkt der Petersberg-Rallye, die bis heute jährlich an einem Mai-Sonnabend losgetreten wird. Eine spektakuläre Radeltour zum Petersberg, ein "Jux auf Rädern", wie Götze meint. Privat organisiert zum kulturellen Gaudi der Stadt-Bohème, aber gleichzeitig auch provokanter Gegenentwurf zu den verordneten Aufmärschen und DDR-Jubelparaden. Die Geschichte der Rallye beginnt 1967. Auf der "Burg" - der "Hochschule für industrielle Formgestaltung", wie die ehemalige Kunstschule in der Burg Giebichenstein seit 1961 heißt. Hinter ihren dicken Mauern, zusätzlich geschirmt durch eine funktionstüchtige Zugbrücke, regiert in den 60er Jahren noch nicht wieder das kleinkarierte Dogma der renitenten Gralshüter reiner sozialistischer Gestaltlehre. Im Gegensatz zu den ideologisch behüteten Kunsthochschulen in Sachsen und Berlin wirkt Giebichenstein in dieser Zeit als "Hort individueller Freiheit". (2) So schreitet auch keiner ein als der damalige "Burg"-Student mit rund 20 Kommilitonen, Stadtindianern und befreundeten Künstlern aus dem Anliegerbezirk Kröllwitz eine scheinbar harmlose Radtour unternimmt. Das lokaltouristische Unternehmen, das sich wenig später zum kulturpolitischen Skandalon erster Güte auswachsen wird, bekommt zu dieser Zeit sogar vom Parteisekretär der Kunsthochschule als Wegzehrung eine Obsttorte spendiert. Die mit Konditoreiwaren verzierte Kulanz endet allerdings jäh, da sich die kleine Rallye schon recht bald zur eigenwilligen Demonstration individueller Lebensstile und -rechte mausert, an der sich, wie die Stasi in einem Maßnahmeplan formuliert, vor allem "politisch labile und politisch negative Personen" (3) beteiligen.

In den 70er Jahren löst sich die Petersberg-Rallye organisatorisch von der Kunsthochschule. Ein kleiner städtischer Bohème-Zirkel organisiert künftig das skurrile Radlertreffen in Eigenregie - neben Götze sind das vor allem der hünenhafte Maschinenbauingenieur und Baskettballspieler "Elvis", Jürgen Fritz, und Keramiker Martin Möhwald, umtriebiger Sohn der bekannten Hallenser Maler- und Keramikerdynastie. Außer der Verbreitung des Termins per Flüsterwerbung und einer Absprache mit den Wirten, deren Gasthäuser auf der Strecke liegen, haben die Veranstalter allerdings nicht viel zu tun. Die Fahrt wird zum Selbstläufer: Bis zum Ende der 70er Jahre hat sich die Petersberg-Rallye derart in der kleinen Republik herumgesprochen, daß jedesmal 400 bis 500 kostümierte Pedaleure die graue Bezirksstadt wesentlich bunter und die holprigen Landstraßen im schönsten DDR-Wortsinne unsicher machen. Dabei stehen die Stationen unverrückbar fest: Die Tour beginnt mittags an der "Burg", führt dann über die Wirtshäuser in Sennewitz und Teicha bis zum Dörfchen Nehlitz. Auf dem Anger dort kicken zwei Teams aus dem Fahrerpulk nackt um den Sieg. Im Anschluß an das Fußballspiel folgt der Aufstieg zum Petersberg. Die rasante "Schelmuffsky-Troffi" und ein standesgemäßes Besäufnis beenden die Petersberg-Rallye, auf der durch Bierlaune und Gruppenbildung eine angstfreie Atmosphäre entsteht, die der aufgeschreckten Staatsmacht bereits Mitte der 70er Jahre nicht mehr steuerbar erscheint.

Denn in der Euphorie der luftbereiften Gesellschaft wird selbst das Gespenst der Stasi verlacht, wie 1979 etwa IM "Ralph Winter" empört notiert: "Im Gartenlokal der Gaststätte Waldschänke animierte Götze die Teilnehmer zu einem Gruppenbild, um, wie er meinte, damit die Arbeit der Staatssicherheit zu erleichtern." (4) Um die Fahrt zu verbieten, vergreift sich die Staatsmacht allerdings vehement im Maßnahmen-Fundus. Zunächst wird eine Gegenveranstaltung organisiert - eine gemeinsame Fahrt von Studenten und Dozenten der Hochschule zum zeitgleich stattfindenden "Blütenfest Seeburg". Die Kosten für Freibier und zünftige Blasmusik erweisen sich jedoch als glatte Fehlinvestition. Die Teilnahme am verordneten Fest geht konsequent an der Zielgruppe vorbei, berichtet der Hochschul-Intimus und eifrige IMS "Jacob Müller", denn "diese Maßnahme wurde von den Studenten als `lächerlich` aufgenommen und ihr Interesse zur Teilnahme an der Petersbergrallye bestärkt." (5)

Genau so untauglich entpuppt sich der Versuch, die Rallye einfach zu verbieten. Zwar wird das Veranstalter-Trio um Götze zum Kadi zitiert, doch was nicht genehmigt sein will, braucht auch keinen Verbotsstempel zu fürchten - zumal sich Götze & Friends für die Ansammlung als nicht zuständig erklären. Die Rallye, so verlachen die versammelten Pedalritter schließlich das verlesene Fahrverbot, findet statt und sei es als individuelle Kaffeetour zufällig versammelter Friedensfahrt-Fans. Zwar bleiben zu dieser Petersberg-Tour ausnahmsweise die Türen der Gasthöfe versperrt, die sonst hilfsbereiten Wirte nehmen auf behördliche Anweisung seltsamerweise ihren Ruhetag genau am jährlichen Umsatz-Rekordtag, aber der Freiheitsdrang erweist sich in diesem speziellen Falle stärker als der Durst. Auch der dritte Versuch, die radelnde Künstlermeute zu stoppen, schlägt fehl: Da Stasi und SED-Bezirksleitung trotz eines Riesenaufgebots an Inoffiziellen Mitarbeitern die Quelle der fahrradfahrenden Opposition fälschlicherweise in der "Burg" ausmachen, erhält Wasja Götze im Juni 1982 über den Rektor Paul Jung ein Hausverbot erteilt. Damit sollen die subversiven Kontakte zwischen ihm und der Kunst-"Burg" unterbunden werden. Aus Angst vor interner Konfrontation in den Hochschulgremien werden die Zettel wie mittelalterliche Bannsprüche an die Außen-Türen der "Burg" geheftet. Wer die enge Verflechtung der Kunsthochschule mit den städtischen Künstler-Kreisen kennt, weiß, daß solche Maßnahmen statt zur beabsichtigten Ausgrenzung zu einer klaren Lobbybildung für den Ausgesperrten führt. So kommt es auch - zumal Götzes Ehefrau Inge weiterhin als anerkannte Dozentin für Bildteppichgestaltung an der "Burg" unterrichtet -, daß Ehemann Wasja aus erster Hand ständig von neuen Solidaritätsbekundungen erfährt. Bei den alkoholisierten Lage-Runden in der Stammkneipe "Zum Mohr" oder in der "Gosenschänke", dem Studentenklub des Hochschule, wird der "Fall" Götze ausgiebig diskutiert, er steigert seinen Bekanntheitsgrad enorm.

Die Peters-bergrallye überlebt die DDR schließlich mit widerständiger Energie, auch wenn in den 80er Jahren zunehmend weniger Leute mitradeln. Vor allem die enorme Ausreisewelle zwischen 1983 und 1985 reduziert Halles Subkultur beträchtlich. Fast der komplette Freundeskreis packt die Koffer zum endgültigen Abschied. "Von diesem Kreis gingen fast 90 Prozent in den Westen", sagt Wasja Götze. "Die Ausreisewelle begann in Halle schon Mitte der 70er Jahre und steigerte sich dann enorm. Es betraf immer unser Milieu. Es waren ja nicht die Proleten, die fortgingen."(6) Aber auch für die nachwachsende Generation, die in Götzes Sohn Moritz, Jahrgang 1964, einen neuen Protagonisten und agilen Ideenmotor findet, bleibt die Fahrt auf den Petersberg ein kollektives Pflichtereignis. Trotz Punkmusik und demonstrativ artikulierter Null-Bock-Stimmung "eine tolle Situation", erinnert sich Moritz Götze heute, "wenn man bedenkt, mit welch geringem Einsatz man einen ganzen Polizeiapparat auf die Beine brachte."(7)

Das im Zusammenhang mit der Petersbergrallye verhängte "Burg"-Verbot ist dabei nicht die erste und letzte Repressionsmaßnahme, die das kleine Wohnhaus der Familie Götze in der Burgstraße zum überregional bekannten Anlaufpunkt in der Hallenser Szene macht. Bereits 1969 wird Wasja Götze, frischgebackener Absolvent, zum Staatsfeind gestempelt - wegen einer eher harmlosen Ausstellung im Innenhof seines späteren Wohnhauses, der nach einer zweitägigen Entrümpelungsaktion zum idyllischen Ausstellungsort umfunktioniert wird. Der begabte Gebrauchsgrafiker und Maler experimentiert seit einiger Zeit mit Stilmitteln der amerikanischen Pop-Art, auf deren Herausforderung außer dem Dresdner Maler Willy Wolf kaum einer in der DDR ernsthaft reagiert. Bei der Hofausstellung, die in lockerer Form fortgesetzt werden soll, stellen auch abstrakte Künstler aus. Improvisierter Jazz und ein kritisches Puppenspiel erwarten die Gäste der Vernissage. Mehrere Maler erstellen ein Gemeinschaftswerk. Eine "Dempe", wie das Kollektivprodukt aus bacchantischem Spaß und gruppendynamischer Inspiration im sächsischen Szene-Vokabular heißt. Eine lebendige Tradition, vom Hallenser Maler Fritz Müller begründet, auf fast jedem nonkonformen Künstlerfest in den 70er Jahren weitergeführt. Für die betriebsblinde Geheimpolizei, welche mit Hilfe des extra angereisten Bezirksstaatsanwalts die Hofausstellung nach drei Tagen verbietet, sind diese absonderlich wirkenden Kunstäußerungen zweifelsfrei der Beweis, daß "die Aussteller und ein großer Teil der Besucher dieser Ausstellung ähnliche Tendenzen in ihrer Tätigkeit ersichtlich werden lassen, die bei den radikalen Kräften der außerparlamentarischen Opposition in der CSSR und in Westdeutschland zu verzeichnen waren." (8)

Ein gnadenloses Verdikt von der Qualität eines Vorschlaghammers, das rechercheunwillige Bürokraten später immer wieder aufs Neue in ihre Maßnahmepläne und Personen-Einschätzungen kopieren. Renommierte Kunstwissenschaftler wie Ingrid Schulze alias "IM Born", führende Kunsthistorikerin an der Hallenser Martin-Luther-Universität, arbeiten mit Dossiers eifrig zu. So heißt es etwa in einer Expertise, daß Götzes Bilder "sich mit bewußter Bösartigkeit gegen unseren Staat und unsere Gesellschaft, insbesondere gegen die Freundschaft zur SU richten".(9) Ikonographische Tatbestände, deren Motivwelt offensichtlich "dem künstlerischen underground zuzurechnen" sind, finden sich für die promovierten Spitzel viele: Die zwei Buchstaben "MO" in einem Bild stehen natürlich für "Mord" oder, noch schlimmer, für "Moskau", und die Zahl "13" meint selbstverständlich den 13. August 1961, den Tag des Mauerbaus. Lupenreine Denunziationen, schmutziger Handlangerdienst. "Mitunter scheint es so", analysiert Rüdiger Giebler, der sich intensiv mit den Spitzelprotokollen namhafter Kunstkritiker beschäftigt hat, "als wären die Bilder von Wasja Götze nur der Vorwand, um endlich mal frei von der Leber weg über die vom Berichtschreiber selbst erfahrene vielzitierte "Perspektivlosigkeit des Sozialismus" zu sinnieren. Immer mit dem Künstler als Buhmann, dem man die eigene Verbitterung in seinen Bildern nur allzuleicht unterstellen konnte."(10) Diese bösartige Form intellektueller Prostitution bringt Wasja Götze bis zuletzt obskure Ausstellungsverbote und vorzeitige Schließungen ein. Selbst als sich der kulturpolitische Wind für seine Kunst in günstigere Richtung dreht, bleiben Ausstellungen (11) in seiner Heimatstadt für ihn tabu - stattdessen kann man seine farbintensiven Werke, die in den 70er Jahren zu kaum verschlüsselten Sinnbildern individueller Bedrängnis werden, ab und an außerhalb des Bezirkes Halle sehen. Das rigorose Ausstellungsverbot ist Teil eines im Operativvorgang "Torso" (12) präzisierten Zersetzungsprogramms, das Götze in die Knie oder zur Ausreise zwingen soll. Vor allem nach seiner Unterschrift unter die Protestresolution gegen Biermanns Ausbürgerung, die er als einziger Hallenser Künstler unterschreibt, wird die Luft dünner, in der sich der charismatische Hallenser bewegt.

Doch der passionierte Pfeifenraucher, der eine "starke Affinität zu Landstreichern und Assozialen hat" (13), geht lieber wandern als sich im unproduktiven Dauerclinch künstlerisch zu verbarrikadieren. Zusammen mit seinem Bohème-Freund Matthias "Matz" Griebel (14), den er 1966 bei einem morgendlichen Kehraus eines Künstlerfestes in Dresden-Loschwitz kennenlernt, greift er jeden Frühsommer zu Gitarre, Hut und Wanderstock. Von 1969 bis 1989 durchpirschen Griebel und Götze im Juli zu Fuß die südlichen DDR-Provinzen. Sie singen in den überfüllten Kneipen ihr bald schon abendfüllendes Wanderlieder-Programm, das von Griebel, Haustexter des Dresdner Kabaretts "Herkuleskeule" bis Anfang der 70er Jahre, zeitgemäß aktualisiert wird. Der Erfolg wächst mit der Routine - bei ihren in der Regel zweiwöchigen Trips, auf denen gewissenhaft Tagebuch geführt wird, nehmen die landstreichenden Wandermusikanten, oft unter freiem Himmel schlafenend, immerhin zwischen 500 und 800 Mark ein. Die erste Walz-Tour führt von Loschwitz nach Halle, sie dauert genau 9 Tage, 7 Stunden und 18 Minuten. Weitere Ziele sind der Fläming, die Landschaft bei Muskau oder das thüringische Grenzrevier.

Das wilde Leben der Wander-Bohème beschäftigt die Gesetzeshüter so stark, daß sie selbst im notorisch unterbesetzten Urlaubsmonat Juli zu Groß-Observierung blasen. Die Stasi-Dienststellen in Dresden und Halle, dort wo Griebel und Götze "feindbearbeitet" werden, versenden jeden Sommer verzweifelte Telex-Depeschen. Die Adressaten sind diejenigen Kreisdienststellen, deren Zuständigkeitsbereich die voraussichtliche Wanderroute der beiden Landstreicher tangiert. Da die per IM's beschafften Informationen über den Kurs der Wandermusikanten allerdings nur dürftig sind, artet die sinnlose Überwachungsaktion bisweilen zur kostenintensiven Rasterfahndung aus. So telegrafiert etwa die MfS-Bezirksverwaltung Halle am 8. Juni 1982 gleich an sechs MfS-Kreisdiensstellen des Bezirkes Magdeburg - nach Gardelegen, Genthin, Osterburg, Salzwedel, Stendal und Tangerhütte. Neben dem "Feststellen von Aufenthaltsorten und Aktivitäten" sollen die Schnüffler vor allem den "Inhalt von Liedprogrammen", die "Sammlung von Geld für Auftritte" sowie die "Schaffung von Beweisen (Zeugen) über Auftritte" (15) besorgen. Ein sommerfüllendes Arbeitsprogramm, aus dem sich bizarre Dokumente in den Stasi-Akten von Matz Griebel und Wasja Götze finden. Hintergrund der hypertrophen Sicherheitsaktion ist die Angst vor einem "zweiten Biermann", den die städtische Stasi im recht passablen Moritatensänger Götze ausmacht. So urteilen wenigstens die Spitzel nach den euphorischen Publikumsreaktionen: "Die eingesetzten IM brachten zum Ausdruck, daß man Götze mit Biermann vergleichen würde." (16) Das Votum langt - nach nur drei Auftritten in Kirchen und im Dresdner Leonhardi-Museum erhält Götze auch für diesen Teil seiner vielfältigen Begabung ein rigoroses Verbot, was die Häscher in den Kneipen allerdings nicht durchsetzen können. Ab Mitte der 80er Jahre zieht sich Halles führender Bohemien zunehmend in die innere Emigration zurück. Erst im revolutionären Herbst ist Wasja Götze wieder mit dabei. "Wer jetzt aus der DDR abhaut", schreibt der überwinternde Pop-Artist im Sommer 1989 seinem Freund, dem Dichter Kurt Bartsch, nach Westberlin, "ist bekloppt! Hoffnungslosigkeit? Nicht die Spur! Wir wissen, daß wir dabei sein werden, wenn diese absurde Gesellschaft ihre letzte absurde Pirouette drehen und auf Arsch und Schnauze zugleich landen wird." (17) Eine politische Prophetie, gespeist aus gelebter Staatsferne, künstlerischem Wagemut und widerständigem Humor.

Nicht das schlechteste Rüstzeug für Sohn Moritz, der schon früh neben seinem Vater auf der Bühne bei Künstlerfesten in Giebichenstein und Kröllwitz steht, wo sie zusammen mit Schwester Nele, die einen passablen Baß zupft, als gefeierte Künstlercombo auftreten. Dabei ist der Ausstieg aus den offiziellen Strukturen für Moritz Götze kein allzu großes Problem mehr. "Im Gegensatz zu den 70er Jahren", erzählt er, "konnte man die DDR im Prinzip total ignorieren." (18) Halle in den 80er Jahren - das ist eine Stadt in Agonie. Von permanenten Ausreisewellen, dem typischen Gestank aus den Buna-Werken und dem rapiden Verfall seiner historischen Altbauten geprägt. Eine Stadt, die massiv Raubbau an der eigenen Substanz betreibt, materiell und personell. "Es hat einem wehgetan, daß ganz Stadtviertel verschwanden und verfielen", berichtet Moritz Götze, der seit der Wende zum shooting star in der Kunstszene avanciert. "Aber das Morbide hatte auch etwas Romantisches. Dieser Geruch der feuchten Abrißhäuser, das ist für mich der Geruch der Jugend." (19)

Nach einer Lehre bei einem privaten Tischler in Bad Kösen jobt sich der Leader einer Punkband, die er unbescheiden "Größenwahn" nennt, durchs realsozialistische Leben. Als Aushilfsheizer und Möbelrestaurator, mal als Hilfsarbeiter in einer Kohlenanzünderfabrik. Nebenher hilft er in der Christuskirche bei der Organisation der ersten überregionalen Punkmusiktreffen, seine Linolschnitt-Plakate für die Konzerte sind erste Versuche in bildender Kunst. Bereits als 19jähriger stellt Götze einen Ausreiseantrag - wegen der Trennung von seiner ebenso jungen Geliebten, die zusammen mit ihren Eltern rüde ausgebürgert wird. Die Stasi "bearbeitet" ihn daraufhin künftig im Operativvorgang "Max". (20) Moritz Götze erhält einen Sonderausweis "PM 12", der seinen Aktionsradius auf die unmittelbare Heimat beschränkt und selbst Reisen nach Prag oder Warschau unmöglich macht. Da der Name Götze in den zuständigen Dienststellen sofort Alarmstufe Rot auslöst, unterstellt die Stasi sofort meisterliche Fluchtideen: "Die vorliegenden Informationen lassen die Wertung zu, daß der im OV bearbeitete Übersiedlungsersuchende glaubhaft beabsichtigt, die DDR ungesetzlich zu verlassen und zu diesem Zweck ein Fluggerät zu bauen. Entsprechende Literatur kann M. bereits besitzen."(21) Daraufhin durchforsten Spitzel sämtliche erreichbare Bibliotheken, um in den Ausleihformularen verdächtige Literatur zu entdecken. Vergebliche Recherchen: In der lähmenden Zeit des Wartens auf den endgültigen Abschied beschäftigt sich Moritz Götze intensiv mit Malerei und grafischen Techniken. Stippvisten beim Grafiker Helge Leiberg und dem Siebdrucker Ekkeland Götze in Dresden geben praktische Anstöße. Die ersten Versuche mit der Serigrafie, noch in der Werkstatt des Vaters, belegen mehr als ein vergängliches Interesse. Nach der Begegnung mit seiner jetzigen Frau Grita Schulze zieht er 1984 schließlich den Ausreiseantrag zurück. Seitdem entwickelt Götze junior eine schier unglaubliche Produktivität - im Saaledorf Döblitz renoviert er ein verfallenes romanisches Kirchenhaus, mit Freunden verlegt er die Text-Lyrik-Edition "Die Mappe" (22), und zugleich erhebt er die Arbeit am Siebdruck zur lebensfüllenden Passion. Offiziell ist er dabei Angestellter bei seiner Lebensgefährtin, die sich nach einem Studium an der "Burg" in einem verfallenen Haus an der Grellstraße als freischaffende Keramikerin niederläßt. Während sich in den Endjahren der DDR viele Altersgenossen mit dadaistischem Furor an den Mythen des sozialistischen Alltags abarbeiten, scheint es in Götzes grellfarbigen Comiczyklen den grauen Arbeiter-und-Bauern-Staat nur noch als semiotisches Koordinatensystem einer vergangenen Epoche zu geben.

Statt exaltierter Reservaten-Rituale greift Moritz Götze lieber in den Fundus der Kultur- und Technikgeschichte und orientiert sich an den Werken des Vaters, von dem er nicht ganz ohne familiäre Reibung den Stafettenstab aufnimmt. Im Stil-Mix zwischen der Pop-Art eines Roy Liechtenstein, der Sprechblasenlyrik der DDR-Comic-Serie Digedags und der Farbwirkung mittelalterlicher Bibel-Illustrationen gelingen Moritz Götze zeitgemäße Bildfindungen, die sich ab Mitte der 80er Jahre vor allem in der jüngeren Künstlergeneration herumsprechen. Denn hinter der dekorativen Oberfläche brodelt ein Mikrokosmos origineller Welt- und Geschichtsbetrachtung, der den Sensus der jüngeren Bohème-Generation trifft. Von seinen imaginierten Reisen, zumeist solchen mit dem Finger auf der Landkarte, bringt er ganz eigene Typologien mit: Kahlköpfige Herren tragen amerikanische Wolkenkratzer auf dem Tablett, laszive Salon-Damen erwarten mit wollüstigem Blick ihre Herzens-Buben, hungrige Nil-Krokodile und Berliner Straßen-Köter runden die kosmopolitische Ornamentik ab. Das alles in ungetrübter Freude am Patchwork und mit der Kraft ungemischter Farben - vom Marlboro-Rot bis zum klecksenden Blau des Schulfüllers. In der grauen Patina der verfallenden DDR-Bezirksstadt wirkt seine Ästhetik wie die stolze Erscheinung eines verirrten Caprifischers auf der Saale. Damals wie heute nicht der schlechteste Ort für einen Künstler, in dessen Bildern es an Fregatten, Schlachtschiffen und Ozeandampfern nur so wimmelt.


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