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Ein Altar für Paris

Sehnsucht nach dem Salon: der Erfurter "Collierkreis" um Stephanie und Rolf Linder als Zentrum einer bürgerlichen Alternativkultur

Am 7. Januar 2007 wird "Dicky" in Paris garantiert Tango tanzen. An diesem Tag, weiß die vitale Kulturjournalistin Barbara Jacob, die ihre Freunde und auch ihre Feinde (1) einfach nur "Dicky" nennen, wird sie nicht mehr an ihrem abwaschbaren Sprelacart-Schreibtisch sitzen, in der Redaktion des Erfurter Provinzblättchens "Thüringer Tageblatt", und mit traurig-höhnischem Blick auf die Berichte der Staatsagentur ADN schauen, die sie wie jeden Werktag für die nächste Ausgabe aufbereitet, so, daß die spröden Zeilen für einen klugen Kopf wenigstens halbwegs genießbar sind.

An diesem 7. Januar wird in Paris alles anders sein. In einem kleinen Programmkino sieht Barbara Jacob dann endlich ihren lange Jahre entbehrten Kultfilm "Hirten der Nacht" von Marcel Camus, anstatt beim späten Nachhauseweg über die Krämerbrücke auf den jungen Mann im grau-beigen "Jumo"-Parka (2) zu achten, der ihr unauffällig, fast verschämt, aber vielleicht doch nicht ohne Auftrag folgt. Anschließend wird sie im Café am See im Bois de Boulogne am trockenen Sherry nippen. Dort, wo sich Gertrude Stein und die anderen Salon-Diven früher zum legendären Szene-Lunch trafen. Wenn es noch steht, wenn sie es findet, wird "Dicky" an diesem frühen Abend dort sein, anstatt vor Kälte bibbernd auf den ersten Zug zu warten, nachts um zwölf auf dem Weimarer Hauptbahnhof, der nach Pisse, dünnem Bier und Taubendreck stinkt, wie so oft, wenn die Jazz-enthusiastin keinen der wenigen Trabi-Besitzer zur gemeinsamen Rückfahrt überreden kann, nach der Session mit der lokalen Kultband "Bayon" (3) im "Kasseturm", dem immer überfüllten Studentenklub im Herzen einer verfallenden Stadt. Wenn der zweite Sherry und der vierte Haselnuß-Likör schließlich alle sind, und sie den Mut hat, den sie braucht, wird sie den Auftritt wagen, von dem sie so lange Jahre ein farbiges Traumbild vor Augen hat. Eine durchtanzte Tango-Nacht im raffiniert geschnittenen Pailetenkleid auf dem Parkett einer rauchgeschwängerten Pariser Bar, wo an der noblen Mahagoni-Theke die Herren in feinem Zwirn bei ihrem Anblick erstaunt vom Cognac aufschauen. Mit wem sie tanzen wird in dieser Nacht ist nicht wirklich wichtig, wenn nur die kleine Kapelle ihre zerkratzte Lieblingsplatte kennt - Prevert-Chansons, gesungen von Yves Montand. Sie kann sie fast alle auswendig, von einer Scheibe des tschechischen Labels "Supraphon", irgendwann gepreßt in den Jahren, wo in Prag noch die Sonne des Aufbruchs schien. So soll er sein, so sollte er sein: Der Tag, an dem Barbara Jacob in Erfurt endlich Rentnerin wird und fortan ins "nicht-sozialistische Wirtschaftsgebiet" reisen darf, wie die freie Welt hinter dem Stacheldraht im offiziellen Bürokratenjargon heißt.

"Knackfrisch für Paris" heißt deshalb Jacobs Lebens-Motto seit ihrem 30. Lebensjahr. Der heute obskur anmutende Wunsch schnell und folgenlos zu altern, damit als Rentner das eigentliche Leben, viel zu spät, aber noch mit fast jugendlicher Kraft beginnen kann. Drei Jahrzehnte in der DDR-Warteschleife, bizarre Illusionen einer verriegelten Zeit. "Meine Sehnsucht galt nicht vordergründig dem Wohlstand des Westens", erinnert sich Barbara Jacob, "sondern der durch Bücher, Bilder, Filme, später auch Briefe von alten und Gespräche mit neuen Freunden aus dem anderen Teil Deutschlands vermittelten unerschöpflichen Vielfalt des Lebens schlechthin, die erst dort möglich wurde." (4)

Lodernde Sehnsüchte, illusionäre Projektionen, in die Tagwelt überdehnte Wunschträume als exzentrische Stimulanzien für die graue Wirklichkeit. Inkarniert in einem Schrein, den Rolf Lindner, ein enger Freund, gefertigt hat. Aus gußeisernen Ofentüren hat der Erfurter Künstler einen kleinen Flügelaltar geschweißt und ihn filigran ausgestattet. Den "Paris-Altar", wie ihn unisono die vielen Freunde nennen, für die Rolf Lindner zusammen mit seiner Ehefrau Stephanie, beide Jahrgang 1946, freizügige Gastgeber sind. Das Ehepaar ist mentales Zentrum eines vitalen Hauskreises, der seit Mitte der 70er Jahre besteht und von der örtlichen Stasi geheimnisvoll "Collierkreis" (5) genannt wird. Wahrscheinlich deshalb, weil Rolf Lindner ein international anerkannter Schmuckgestalter ist. Wegen der mickrigen Feinmetallzuweisungen in der DDR kann Lindner seine künstlerischen Fähigkeiten allerdings kaum in Silber und Gold ausarbeiten. Von der Anfertigung eines konspirativ funkelnden Colliers, das die Stasi-Leute bei der Namenswahl vor Augen gehabt haben müssen, ganz zu schweigen. Es wäre für den diplomierten Schmuckgestalter - er läßt sich in dieser Zeit von einem befreundeten Fotografen verweiskräftig mit einer Krone aus Blech porträtieren - auch zu teuer gekommen: der gelernte Goldschmied muß zu Beginn der achtziger Jahre immerhin 250 Mark für das Gramm Feingold hinblättern. Im Westen ist dagegen das Gramm schon Anfang 1984 für 34,20 DM zu haben. In solcher Situation tut es Gußeisen manchmal eben auch. Rolf Lindners "Paris-Altar" jedenfalls ist mit einer Skala versehen, deren Zeiger an jedem Geburtstag eine Position nach vorne rückt. Jahr für Jahr, bis er schließlich bei 2005 am Ende angelangt wäre. Der "Paris-Altar" - ein Geschenk für die Grafikerin Marie-Luise Leonhardt, für die an jenem Tag das fröhliche Rentner- und Reiseleben begonnen hätte - zwei Jahre vor Barbara Jacob, die gemeinsam mit der engsten Freundin die verbleibenden Jahre zählt. Gottlob hat Marie-Luise Leonhardt so lange nicht warten müssen, bereits 1979 gelingt ihr abenteuerlich über Ungarn die Flucht. Sie hinterläßt trotzige Trauer und wehmütige Gedanken an den einzigartigen Flügelschrein, der in den Vorwirren ihrer heimlichen Ausreise in irgendeinem Ramschladen oder Abstellkeller auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. "Wir haben in der Gruppe immer wieder über den ´Paris-Altar´ und Marie-Luise sprechen müssen", erzählt Barbara Jacob, "und als ich Marie-Luise nach fast zehn Jahren im Westen wiedertraf, konnte die sich nicht einmal mehr daran erinnern, jemals einen ´Paris-Altar´ gehabt zu haben." (6)

In Lindners idyllisch gelegenem Haus, direkt am Flüßchen Gera, hinter einer mannshohen Mauer und dichten Bäumen vor neugierigen Augen versteckt, mit der Werkstatt im Erdgeschoß und dem geräumigen Salon im ersten Stock, muß der Freundeskreis in den kommenden Jahren weitere "Abgänge" verbuchen. Doch für Stephanie Lindner, die ohne Aufstiegschance im Büro des Erfurter Stadtplaners arbeitet, ist der Weg in den Westen verstellt: "Wir haben hier Wurzeln geschlagen", sagt sie, "und den Grundsatz meines Vaters verwirklicht: Da wo man lebt, dort muß man auch zurechtkommen." (7)

Ihr Traum von einem kleinen und kunstsinnig geführten Café bleibt in der DDR unerfüllt. Deshalb versucht die beruflich kaltgestellte Architektin, der selbst simple Stadtführungen wegen ihrer fortgesetzten Kritik am Verfall der Domstadt untersagt bleiben, sich "privat zu verwirklichen", wie sie ihr persönliches Motiv benennt. Gemeinsam mit Ehemann Rolf beginnt sie in den eigenen Räumen ein vitales Kulturleben zu installieren, das mit den Ritualen der in der DDR so beliebten Brigadeabende und den alkoholisierten Kulturpflichtveranstaltungen nicht zu vergleichen ist. Zuerst in der kleinen Wohnung in der Schillerstraße 52, später dann im 1979 gekauften Haus an der Moritzstraße 21 b, führen die Lindners seit Mitte der 70er Jahre vor allem Gesprächsrunden, Ausstellungen und künstlerische Veranstaltungen durch. Inspiriert werden sie dabei wohl auch von den "Dada"-Festen und Kostüm-Feten im offenen Haus von Inge und Jürgen Wolf, die bereits einige Jahre vorher stattfinden. Dort avanciert der gutbürgerliche Wohnraum im nobleren Erfurter Süden zum "Café Dada", bevor er zum russischen Emigrantentreff in Paris, später zum amerikanischen "Speak Easy-Lokal" zur Zeit der Prohibition ausstaffiert wird. Dabei "strebten wir keine Konflikte an, die das ZDF auf den Plan riefen", resümiert Jürgen Wolf, "sondern wir wollten schon eine gewisse kulturelle Ernsthaftigkeit in unseren Aktivitäten." (8)

Ganz ähnliche Aktivitäten entfalten in dieser Zeit auch Gabi und Hans Wittig. Vor allem die privaten Theateraufführungen und Karnevalsfeste bei der späteren Puppenspielerin und dem Architekten sind stadtberühmt, so daß "sich immer auch Leute im Schutz der Masken und Kostüme einschmuggelten, die gar nicht eingeladen waren." (9) An diese städtischen Traditionen knüpfen Lindners an und entwickeln sie mit eigenen Ideen weiter. Eine kulturelle Idylle entsteht, die jedoch nicht zum Refugium, nicht zum resignativen Rückzugsraum wird. Vielmehr ein privater Ort, durch die DDR-Gesetze zumindest halbwegs geschützt, von dem aber dennoch oder gerade deshalb weitreichende Impulse ausgehen, wie die Stasi konstatiert und prompt den OV "Collier" gegen das mutige Ehepaar einleitet. "Sie (Lindners - d.A.) organisieren in ihren Wohnräumen", heißt es in einer MfS-Analyse, "pseudo-kulturelle Veranstaltungen, unter Teilnahme politisch indifferenter bzw. politisch-negativer Personenkreise, welche sich aus Kunst- und Kulturschaffenden, nichtorganisiert künstlerisch tätigen Personen, Journalisten sowie aus Angehörigen der medizinischen und technischen Intelligenz zusammensetzen." (10) Ein sozialer Querschnitt, der die Identifikations- und Legitimationsprobleme des ostdeutschen Mittelstandes im Staat der herrschenden Arbeiter und Bauern deutlich umreißt. Zum engeren Kreis, der etwa aus 15 Personen besteht, gehören neben Barbara Jacob und Marie-Luise Leonhardt die Fotografen Heike Stephan und Bernd Hiepe (11), letzterer gerät nach seiner Haftzeit wegen Verweigerung des NVA-Reservedienstes auch ins Visier des MfS. Daneben zählen Juliane Adler (12), die Mitte der 80er Jahre in ihrem Erfurter Wohnungsflur eine kleine Privatgalerie betreibt, sowie der renommierte Innenarchitekt Albrecht von Kirchbach zu Lindners eingeschworener Runde.

Worüber zürnt aber Generalmajor Schwarz, Leiter der zuständigen Abteilung XX, besonders? Seit 1978 gibt es bei Stephanie und Rolf Lindner beispielsweise ein "Fest der Collage", das immer am 29. April veranstaltet wird. Eingeladen werden jeweils zirka 30 bis 40 Freunde - ein fester Kreis, handverlesen, die kleinen Kuverts mit den Einladungen sind handgesiegelt. Spätestens am Abend vor dem Fest müssen die Gäste ihre Bringschuld erfüllen. Dann ist Abgabetermin für die selbstgefertigten Collagen und Assemblagen zu ausgewählten Themen der Zeit. Bei Künstlergästen, die zum ersten Mal oder nur besuchsweise den Weg in die vertraute Runde finden, wird manchmal auch der routinierte Griff in den Grafikschrank toleriert. Das inhaltliche Spektrum der mitgebrachten Arbeiten ist ein Kaleidoskop individueller Ortsbestimmungen im DDR-Sozialismus. Facettenreich und tabulos, das in solch unverblümten Direktheit zu dieser Zeit in keiner offiziellen Kunstausstellung in Erfurt zu sehen ist. Es reicht von der fernwehkranken Paris-Collage "Die dunklen und die bunten Träume" bis zu brisanten Gesellschaftsdiagnosen, die ab Mitte der 80er Jahre akzentuierter werden. Mit deutlichen Verweisen auf aktuelle Politiktendenzen heißen die Blätter schlicht "Perestroika" oder "Wir tapezieren nicht!", eine Illustrierung des berühmt-berüchtigten Satzes von Kurt Hager, der in einem Interview den Umgestaltungskurs Gorbatschows schroff ablehnt. Was als Cartoon in die Zeitung oder als Collage in eine aktuelle Ausstellung gehört hätte - bei Lindners hängt politische Kunst für wenige an der Wand. Die künstlerische Betätigung zum Fest bleibt über die Jahre hinweg ein akzeptierter Pflichtbeitrag.

Ohne mitgebrachte Collage ist der Weg zum behaglichen Salon versperrt. Wohl auch eine Vorsichtsmaßnahme, wie Rolf Linder nachdenklich anfügt, damit der Alkoholpegel unter dem Limit bleibt und die Zusammenkünfte über die langen Jahre nicht ihren Reiz verlieren. Zumal der Exodus in den Westen vor allem in den 80er Jahren schmerzliche Löcher reißt. Das in diesen Jahren immer stärker werdende Thema Ausreise soll bei den Treffen nicht zum lähmenden Trauma werden, das jedes Vorhaben sinnentleert und blockiert. Wie bei so vielen Runden im Land, wo die Diskussionen nur noch in einem fatalistischen Was-soll-das-überhaupt-noch-nützen? enden. Wer wie Lindners dagegen "Hierbleiben als tätige Aufgabe" (13) begreift, wird den heiklen Punkt umschiffen, ohne ihm allerdings ganz gewappnet zu sein. Denn der Sog wird mit den Jahren stärker und bei jeder aus Prinzip verweigerten Westreise kocht bei Rolf Lindner die Wut hoch. Mit jedem ausgereisten Freund wachsen die Zweifel, ob seine künstlerischen Talente in diesem Land wirklich gebraucht werden. Ob es auch für die Entwicklung der Kinder richtig ist, der Versuchung auf Dauer zu widerstehen. Zwischen den ÜSE - den Übersiedlungsersuchenden, wie die Antragsteller auf ihren Formularen heißen - und den zumindest vorerst zum Bleiben Entschlossenen, klafft bei den monatlichen Runden jedoch kein wirklicher Riß. Die Seelenverwandtschaft ist stärker als die Differenz der Wege, die jeder für sich in dieser Zeit zu formulieren hat. Übergesiedelte Freunde beteiligen sich weiterhin an der liebgewordenen und ernstgenommenen Tradition. Sie schicken ihre Collagen im gelben Postpaket oder Erfurts Rentner bringen die farbiger gewordenen Kunstwerke von ihren Westreisen im Koffer mit. Die Stasi registriert konsterniert, das die "erfaßten Personenkreise die Verbindung zu den ehemaligen DDR-Bürgern aufrechterhalten, diese werden über die Aktivitäten und Zusammentreffen des Hauskreises informiert." (14)

Die Collagen der gebliebenen und fortgegangenen Freunde werden in den 80er Jahren von Stephanie Lindner gleichermaßen sorgsam plaziert. Sie bleiben auch nach dem Fest noch über mehrere Wochen hängen und für ausgewählte Besucher zugänglich. Jedes Fest gerät zum professionell durchgeführten Kunstereignis - mit Eröffnungsrede, vorzüglichem Buffet und einer Preisverleihung als Höhepunkt. Die Jury besteht aus allen Gästen, die auf Zettel ihre Favoriten notieren. Der meistgenannte Collagenkünstler erhält als Sieger das "Goldene C". Ein veritabler Schmuckanhänger, aus einer Scheibe Kuhhorn und ein wenig Goldfarbe gefertigt. Das C steht dabei stolz für Collage. Der Preisträger darf es für ein Jahr mit nach Hause nehmen und bei den Veranstaltungen des Hauskreises an der eigenen Kette tragen. Glückliche, selbstbestimmte Stunden, gegen deren subversive Vorbildwirkung die Stasi schwerstes Geschütz auffahren läßt: Im Maßnahmeplan der Abteilung XX (15) erscheint der politisch eher harmlose Hauskreis - der keinerlei Verbindungen zu dissidentisch-oppositionellen Kreisen unterhält, jedoch durch seine bloße Existenz selbst zum regionalen Politikum wird - gar als feindliches Lagezentrum. Mangels renitenter Staatsfeinde schießt der arbeitssuchende Sicherheitsapparat da schon mal prophylaktisch mit Kanonen auf freche Spatzen. Die diensteifrige Erfurter Stasi-Bezirks-verwaltung ordnet "die Beseitigung der Bedingungen für das Wirksamwerden des Collierkreises" (16) an, wie man im Mielke-Jargon den prophezeiten Gruppenexitus bezeichnet. Ein Exempel scheint dem bearbeitenden Offizier, Major Stark, notwendig zu sein, vor allem um "analoge Aktivitäten in den v.g. Haus- und Interessenkreisen, vorbeugend zu verhindern." (17) Keine ganz unbegründete Vorsichtsmaßnahme - vor allem Barbara Jacob organisiert später nach dem Lindner-Vorbild in ihrer Wohnung in der Augustinerstraße 8 subkulturelle Veranstaltungen. Nach einem Dichterwort von Truman Capote nennt sie ihre Lesereihe programmatisch "Andere Stimmen, andere Räume". Im Winterhalbjahr stellt sie jeden Montag Texte von in der DDR kaum bekannten Autoren vor, etwa von Stanislaw Przybyszewski oder auch Else Lasker-Schüler, die sie in einer mit Musik und passender Bewirtung abgestimmten Atmosphäre selbstbewußt intoniert. Mitreißende Höhepunkte sind aber auch ihre Tangorunden zu alten Schellackplatten, die Jacob immer wieder auf einem umgebauten DDR-Plattenspieler, Marke Ziphona, mit Saphirarm und 78er-Geschwindigkeit rotieren läßt.

Trotz des Maßnahmeplans gelingt der Erfurter Stasi nicht die angestrebte Zerschlagung des Kreises um Stephanie und Rolf Lindner. Nur ein Überaschungscoup, wie sich nach der Akteneinsicht der Lindners herausstellt - einer der engen Mitstreiter wird zum IM "Willi" und plaudert, widerwillig wohl, aber effizient über die Veranstaltungen im offenen Hause. Nur einmal droht der latente Konflikt zwischen Staatsmacht und Hauskreis zu eskalieren. Hatten Lindners in den Veranstaltungen der Gruppe immer sorgsam darauf geachtet, daß keine Einladungen "draußen" die Runde machen, so hält sich die Fotografin Gundula Schulze (18) nicht an die verabredete Vorsichtsregel. Sie muß der Berlinerin auch überzogen ängstlich erscheinen, interessiert sich im Prenzlauer Berg doch längst keiner mehr für die gefertigten Infos im Eigenverlag. Doch in der Provinz ticken die Uhren anders: Die Einladung ist für die staatlichen Stellen der Beweis, daß die Zusammenkünfte des "Collier-kreises" Veranstaltungscharakter tragen. Veranstaltungen müssen in der DDR aber grundsätzlich polizeilich angemeldet und genehmigt werden. Ein erwiesener Verstoß gegen die Veranstaltungsverordnung also, der oft zum Abbruch von Untergrund-Lesungen und inoffiziellen Ausstellungseröffnungen führt - begleitet von makabren Straßenabsperrungen, ausschwärmenden Postenketten und rigiden Personalausweiskontrollen. Um den "Collierkreis" zu sprengen wird auch Barbara Jacob unter Druck gesetzt. Wenn sie die Mitarbeit verweigert, so die "Zer-setzungs"-Konzeption, ist die enge Freundin des Hauses "im Collierkreis als IM des MfS zu dekonspirieren, d.h. eine inoffizielle Zusammenarbeit vorzutäuschen, um so Unsicherheit in ihrem Umgangs- und Verbindungskreis zu erzeugen." (19) Ein perfider Plan, der an der moralischen Resistenz der Journalistin und am vertrauensvollen Umgang der Gruppe mit solchen Methoden scheitert. Auch über Rolf Lindner setzt das MfS janusköpfige Gerüchte in die kleine Erfurter Welt.

Alles umsonst - außer IM "Willi" wird es in diesem Hauskreis keine Ausfälle geben. Der Stasi ist vor allem der monatliche "Jour fixe" ein Dorn im Auge. Seit 1982 laden Lindners immer am ersten Sonntag im Monat zu Vorträgen, Diskussionen und kleinen Ausstellungen ein. Ob der traurige Leipziger Nonsenskabarettist Wolfgang Zwieback Krause seine nach Sinn im Unsinn schürfenden Wortkaskaden zelebriert, ein Insider über das grafische Werk des östlich der Elbe fast unbekannten Horst Jansen referiert oder der lange Zeit reglementierte Weimarer Komponist und Kirchenmusiker Michael von Hintzenstern über seine künstlerische Freundschaft zu Karlheinz Stockhausen spricht - die sorgfältig vorbereiteten Veranstaltungen geraten mitunter zu hochkarätigen Ereignissen, an denen sich die bis zu 30 geladenen Teilnehmer noch lange später erfreuen. Die Söhne Felix und Lorenz, 1973 und 1980 geboren, werden, wie die anderen Kinder der Freunde auch, früh in die kleine Welt der Gruppe einbezogen. Zu den Hauskonzerten füllen auch schon mal bis 50 Besucher den Salon. Über die Themen der anschließenden bis in die Nacht dauernden Gespräche führt die Stasi über Zuträger gewissenhaft Protokoll: "Bei den jeweils am 1. Sonntag im Monat fest geplanten Zusammenkünften des Hauskreises wurden neben v.g. Thematiken auch Diskussionen zu solchen Themen wie Friedenserhaltung im Sinne pazifistischen Gedankengutes, Umwelt- bzw. Ökologieprobleme, Rolle der Frau in der Gesellschaft, Vereinsamung des Menschen in der Industriegesellschaft geführt. Auf Grund vorliegender inoffizieller Informationen kann eingeschätzt werden, daß in diesen Diskussionen in den Wohnräumen des Ehepaares L. der z.T. politisch-indifferente bis politisch-feindliche Diskussionsverlauf wesentlich durch das Ehepaar L. bestimmt, in jedem Fall geduldet und akzeptiert wird." (20)

Auch Lindners großer Garten avanciert zum alternativen Kunstort: Eine bizarre Modenschau von Erfurter Künstlerinnen (21) geht etwa im September 1983 über die selbstgezimmerte Bretterbühne, dazu haben die liberalen Lindners auch die jüngere Avantgarde aus Dresden und Berlin geladen - die Malerin Cornelia Schleime zeigt provokante 8mm-Filme und die schräge Artpunkband "Factory" (22) geht mit Frontmann Sascha Anderson, der diesmal ausnahmsweise nur als Künstler und nicht zugleich auch als Spitzel erscheint, und dem Multitalent Helge Leiberg nah an die Dezibel-Grenzen des für die bürgerliche Runde Erträglichen. Selbstinszenierte Glanzlichter im abgedunkelten Raum, die das armselige offizielle Kulturangebot der Stadt nicht ergänzen wollen, sondern eindrucksvoll konterkarieren. Aber auch intellektuelle Gegenwehr einer vom hohlen Propagandalärm angewiderten Menschengruppe, die ihre eigene Kultur selbstbewußt präsentiert. Zum Beispiel in einer Ausstellung von künstlerisch gestalteten Briefen. Ausdruck einer Kommunikationslust und Lebenskunst, die in der zeitreichen und telefonarmen DDR zu neuer Blüte findet. Genauso wie die selbstgestalteten Neujahrskarten, die als unnormierte Botschaften von Haus zu Haus gehen, werden sie wie wertvolle Relikte gesammelt und als massenhaftes Zeichen vernetzter Solidarität empfunden. Ihre Herstellungsweisen verraten allerdings die Bedingungen der Diktatur. Der Neujahrswunsch, der einfach in ein Stück übriggebliebenes Küchenlinoleum geritzt wird. Die Schnipsel-Collage aus Versatzstücken von DDR-Illustrierten, die selbst abfotografiert und später in großen Stückzahlen daheim in der Dunkelkammer auf dem erschwinglichen Orwo-Fotopapier abgezogen wird. Bis hin zum selbstverfaßten Gedicht, das nur mit Hilfe des simplen Kinder-Stempelkasten "Famos" (23), der bis zum Ende der DDR echte Bückware bleibt, aufs Blatt findet. Häufig werden auch künstlerische Druckverfahren verwendet, deren Handhabung das Können der Autoren oft übersteigt. Was soll's, in Zeiten ohne Kopierer, PC-Drucker und einem zensierten Zugang zu privaten Druckmöglichkeiten gerät die mit der Kaltnadel seitenverkehrt in eine abgestaubte Aluminium-Radioleiterplatte geritzte Botschaft dennoch zum trotzigen Überlebenszeichen - und das allein zählt. "Wir hatten uns einen Lichtschacht geschaffen", beschreibt Barbara Jacob die intensive Zeit in der Gruppe, "der durch unsere Phantasie illuminiert wurde. So gelang es, die Finsternis außen vor zu lassen.

Nur wenn sie dann und wann gewaltsam in unsere helle Festung eindrang, überkamen uns Wut, Haß und Verzweiflung. Uns war eben das Leben auf hoher See bei Windstärke 12 beschieden: mal oben, mal unten. Und das, fanden wir, sei allemal besser als Stumpfsinn und Apathie und halte uns knackfrisch für Paris." (24)


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