Herbert W. Franke

Wege zur Computerkunst - ein Rückblick

25 Jahre sind vergangen, seit das Goethe-Institut mit der Ausstellung "Wege zur Computerkunst" an die Öffentlichkeit trat. In dem Titel steckt eine Provokation: Sollte das "Elektronenhirn", wie man den Computer damals häufig nannte, wirklich fähig sein, Kunstwerke hervorzubringen? Manche Künstler befürchteten bereits, arbeitslos zu werden, und Kritiker sahen uralte kulturelle Werte in Frage gestellt. Eine Kunst aus der Maschine - das widersprach dem Mythos vom Genie, das seine Werke aus tiefgründigen geistigen Eingebungen heraus schafft. So konnte man damals mit der Neugier breiter Kreise rechnen, die der Ausstellung Besucher zuführen würde, aber niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass das Interesse an ihr über viele Jahre andauern würde. Mit über 200 Präsentationen weltweit schlug sie alle Rekorde.

Der Titel war allerdings nicht nur provokant, sondern er drückt auch ganz sachlich zwei wesentliche Aspekte der neuen Gestaltungsmethode aus. Einerseits weist er auf ein neues Instrument hin, das sich offenbar in den Dienst der Kunst stellen lässt, andererseits wird aber keineswegs behauptet, dass es diese Art von Kunst schon gibt. Es gilt vielmehr eine Entwicklungslinie zu verzeichnen, die sich in künstlerisches Neuland hineinbewegt.

Die in der ausgestellten Sammlung zusammengefassten Bilder sollten das belegen. Unter den Künstlern befanden sich Fotografen - vor allem solche der abstrakten Richtung wie Gottfried Jäger und Hein Gravenhorst, bildende Künstler wie der Konstruktivist Klaus Basset und der Maler und Bildhauer Eugen Roth sowie Repräsentanten der mobilen Objektkunst wie Hans Geipel. Dazu kamen aber noch einige Namen, die kaum jemand kannte, vor allem Frieder Nake und Georg Nees - es sind jene, die als Pioniere der computerunterstützten Kunst in die Geschichte eingingen.

Was sie damals zu bieten hatten, waren meist nur einfache Strichzeichnungen, auf den ersten Blick dem Konstruktivismus verhaftet. Bei näherer Betrachtung fallen allerdings einige Unterschiede ins Auge, vor allem ein stochastisches Element - eine Abweichung von der strikten Ordnung zum Zufälligen hin, was den Bildern einen Anflug organischer Strukturen verlieh. Damit zeigten schon diese ersten Beispiele der frei gestalteten Computergrafik, was noch Jahrzehnte später tragendes Gestaltungsprinzip der computergenerierten Bilder sein sollte. Dennoch war es schwer, in diesen Erzeugnissen mehr zu erkennen als simple Überlagerungen gerader Striche - ein Umstand, der natürlich an den damals noch primitiven Geräten, den Computern und mechanischen Zeichenautomaten, lag.

Was war aber hat die Pioniere zu ihren Experimenten veranlasst? Schon in der ersten Stunde boten die Geräte etwas faszinierend Neues, ersetzten sie doch die menschliche Hand durch eine Mechanik, die weitaus schneller arbeitet als der Mensch, vor allem aber mit manuell nicht erreichbarer Präzision. Weiter stand in Form der Programme erstmalig in der Geschichte der bildenden Kunst ein grafisches Beschreibungssystem zur Verfügung; es war Musiknoten vergleichbar, übertraf diese aber durch die Tatsache, dass aus dem Programmcode auch das generative Prinzip, die in den Bildern manifestierte Ordnung, zu ersehen ist. Schon diese systemimmanenten Eigenschaften waren reizvoll genug, und sie betrafen nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis: Für bestimmte Anordnungen von grafischen Elementen, Reihungen, Überlagerungen und dergleichen, ist die konventionelle Arbeitsweise viel zu ungenau, doch nun ließen sich solche Darstellungen ohne nennenswerten Zeitaufwand und mit aller gewünschten Genauigkeit erstellen; trotz aller Mängel war es also mit Hilfe des neuen Instrumentariums schon am Beginn möglich, den Gestaltungsraum zu erweitern, und viele der frühen Bilder deuteten das an.

Diesen bescheidenen Erfolgen gegenüber kamen aber noch andere, schwerer wiegende Impulse hinzu, die sich an die Zukunft knüpften. Zunächst einmal bestand bei den Künstlern und Veranstaltern kein Zweifel daran, dass bald bessere technische Hilfsmittel entwickelt werden würden, und das natürlich nicht den Künstlern zuliebe, sondern weil sich die computergrafische Methode auch für verschiedenste technische und wissenschaftliche Zwecke eignete. Der Trend der technischen Entwicklung war vorgegeben:

  • Geschwindigkeit und Präzision der Geräte wurden verbessert.
  • Die Farbpalette wurde erweitert.
  • Die Auflösung wurde gesteigert.

Gerade der letzte Punkt erschien wichtig: Wenn es erst gelingen würde, die grafischen Elemente, die Bildpunkte, unter die Sichtgrenze des menschlichen Auges hinaus zu verkleinern, dann sollten sich mit Hilfe von Bildrastern auch Grauwert- und Farbverläufe wiedergeben lassen, und das bedeutet, dass man mit Computergrafik beliebig komplizierte Figuren und Szenerien darstellen kann. Die Erwartung erfüllte sich einige Jahre später mit dem Übergang vom mechanischen Zeichengerät, dem Plotter, zum Monitor. Dieser Übergang war ein entscheidender Fortschritt, es bleibt aber festzustellen, dass viele der grundlegenden Prinzipien, an denen das Neue der Computerkunst deutlich wird, schon im Plotterzeitalter ausgearbeitet wurden.
Einer der Fortschritte betrifft etwas so Einfaches wie die Geschwindigkeit, mit der die Grafik erzeugt wird. Hinweise darauf wurden von den Kritikern oft mit dem Hinweis abgetan, dass es sich dabei um eine quantitative Größe handelt, etwas, was vielleicht in der Technik, aber nicht in der Kunst bedeutsam sei: Mit etwas mehr Zeitaufwand ließe sich jede Computergrafik auch manuell erstellen, und das sei ein Beweis dafür, dass die neue Methode nichts prinzipiell Neues und Wertvolles hervorbringen könne. Genau das sollte sich als schwere Fehleinschätzung erweisen. Man muss sich vor Augen halten, dass schon bei den ersten Computergrafiksystemen das Verhältnis zwischen den für die Generierungsphasen benötigten Zeiten unangemessen erschien: Während der Computer für die Berechnung der Grafik nur Sekunden brauchte, musste man auf die Erstellung der Zeichnung oft 20 bis 30 Minuten warten. Erst mit dem Monitor wurde ein Ausgabeinstrument verfügbar, bei dem sich die Dauer der Ausführung auf Bruchteile von Sekunden reduzierte. Und genau damit ließen sich die von den Pionieren erhofften erweiterten Darstellungsmöglichkeiten realisieren:

  • Übergang zur Animation: Infolge der Geschwindigkeit des Bildaufbaus eignen sich Programme für unmittelbare (so genannte Echtzeit-)Ausgaben von Filmen.
  • Übergang zur Interaktivität: Infolge der praktisch unverzögerten Reaktion des Systems auf Eingaben - über Druckknöpfe, Tasten, Steuerhebel usw. - wurde das Bild vom Benutzer beeinflussbar.

Damit ist der entscheidende Schritt weg vom vorgefertigten Werk getan: Das Resultat ist flexibel, es schließt viele, oft unübersehbare Variationen in sich ein, es macht den Beschauer zum aktiven Teilnehmer am Prozess, zu dem es geworden ist. Alles das erfolgt Hand in Hand mit einer Abkehr vom materiellen Kunstwerk, an seine Stelle tritt etwas elektronisch Aktivierbares, Flexibles und Veränderliches. Und genau das bringt es überdies mit sich, dass es nun in digitalen Speichern, beispielsweise einer CD, aufbewahrt werden kann und dass es sich über elektrische Leitungen oder über Funk transportieren lässt. Hält man sich das vor Augen, dann wird klar, dass damit eine völlig neue Ebene der bildenden Kunst erreicht wurde. Die dadurch induzierten Veränderungen reichen weit über die Aspekte der Gestaltung hinaus:

  • Computergrafik in all ihren Spielarten stellt den Begriff des Originals in Frage. Setzt er einen Zufallsgenerator ein, dann kann selbst der Urheber nicht voraussehen, was entstehen wird.
  • Diese Art von bildender Kunst, ob unbewegt, animiert oder interaktiv, lässt sich beliebig vervielfältigen, und zwar mit der Qualität
    des Originals (soweit man noch von einem solchen sprechen kann).
  • Diese Bilder werfen die Frage der Bewertung neu auf. Manchmal sind Kriterien des Films oder der Objektkunst anwendbar, darüber hinaus aber bedarf es eines neuen Kanons für die Beurteilung bisher im Kunstbereich kaum aufgetretener Spezifika.
  • Diese Art von Kunst macht die Grenzen zwischen ihren Bereichen illusorisch; so kann man beispielsweise mit ein und demselben Programm zugleich laufende Bilder und dazugehörige Musik ausgeben.
  • Computergrafik verlangt neue Wege der Kommunikation, beispielsweise über das Internet; die klassische Galerie kann sie kaum vermitteln.
  • Computergrafik erfordert andere Arten des Vertriebs und der Honorierung; die Modalitäten lehnen sich eher an jene der Musik an als an die des althergebrachten Kunsthandels.
  • Computergrafik zwingt zu neuen Methoden der Vermittlung, vor allem im Unterricht.
  • Computergrafik lässt sich sehr leicht in triviale Bereiche überführen - die Grenzen zur Wissenschaft und zum Design sind fließend.

Natürlich ist es in der Rückschau leicht, alle diese Konsequenzen zu benennen und zu überschauen, jedoch ein Blick in die Literatur der frühen Jahre, von 1965 bis zur Einführung des Monitors rund zehn Jahre später, beweist, dass die Protagonisten der neuen computerbasierten Kunst vieles davon vorweggenommen haben. Sie sahen ihre Art der Gestaltung keineswegs als vorübergehende Mode an, sondern als Wende in der Geschichte der Kunst.

Einschätzungen dieser Art konnten damals nur jenen vorstellbar sein, die Kenntnisse über die Entwicklung des Computers hatten und zudem genügend Fantasie, um sich auch die weitere Entwicklung vor Augen zu halten. So schien es nicht weiter erstaunlich, dass von vielen Seiten erbitterter Widerspruch kam. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass eine kulturelle Instanz wie das Goethe-Institut die Möglichkeiten einer auf digitaler Technik beruhenden Gestaltungsform erkannte. Mit der Ausstellung hat es einen nennenswerten Beitrag dazu geleistet, diese weltweit bekannt zu machen und Diskussionen darüber auszulösen. Was heute - nicht zuletzt als Basis und Ausgangspunkt der weit verbreiteten Medienkunst - selbstverständlich erscheint, war damals ein Experiment mit unsicherem Ausgang, und es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass es die Verantwortlichen auf sich nahmen, dieses Wagnis einzugehen. Wie die Künstler waren auch die Veranstalter Visionäre, und sie haben gegen alle Einwände und Widerstände Entscheidendes dazu beigetragen, um etwas zu verwirklichen,
was damals nicht viel mehr war als eine vage Hoffnung.

 

Der Artikel ist in der Festschrift zur gleichnamigen Ausstellung erschienen:

Murnau Manila Minsk
50 Jahre Goethe-Institut
Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums
und des
Goethe-Instituts Inter Nations e.V.
vom 5. Juli bis 25. September 2001

im Kronprinzenpalais
Unter den Linden 3
10117 Berlin-Mitte

erschienen im C.H. Beck Verlag
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter verkauf@dhm.de bestellt werden.
Preise: DM 25,- für Ausstellungsbesucher und DM 39,- im Buchhandel. ISBN 3 406 47542 6.