Financial Times Deutschland, 16. Februar 2002
Die Banalität des Bösen
Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt die bislang umfassendste
Ausstellung über den Holocaust
Von Kai Michel
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Die Debatten sind kaum mehr zu zählen:
Goldhagen oder Historikerstreit, die Walser-Bubis-Debatte oder Norman
Finkelsteins Buch "Holocaust-Industrie" - um nur einige der
letzten Jahre zu nennen. Noch immer erregt der Holocaust die Gemüter;
und das über fünfzig Jahre nach Kriegsende. Dabei herrscht
in zivilisierten Kreisen längst Einigkeit darüber, dass die
von Staats wegen betriebene, bürokratisch organisierte und fabrikmäßig
durchgeführte Ermordung von Millionen von Menschen die Menschheitskatastrophe
schlechthin darstellt. Gerungen wird aber immer wieder darum, welche
Lehren aus den nationalsozialistischen Untaten zu ziehen sind, welche
Konsequenzen sie für das Heute haben.
Gegen Adornos berühmtes Diktum, die "Forderung, dass Auschwitz
nicht noch einmal sei", habe die Grundlage jeder Erziehung zu sein,
wird niemand etwas einzuwenden haben; ebenso wenig gegen die Feststellung
des Historikers Heinrich August Winkler, der nationalsozialistische
Völkermorde sei "das denkbar stärkste Argument für
Demokratie und Freiheit". Heftig umstritten sind aber Ansichten,
wie die in der alten Bundesrepublik weit verbreitete, die Teilung Deutschlands
sei die gerechte Strafe für Auschwitz gewesen. Oder dass die Verbrechen
der Wehrmacht es verbieten, deutsche Soldaten in die Welt zu schicken.
In solchen Diskussionen scheint der Holocaust instrumentalisiert zu
werden. Oft fällt dann das wenig schöne Wort: "Auschwitz-Keule".
Zeit also sich dem Holocaust in einer Ausstellung zu widmen, die sich
auch mit der Rezeptionsgeschichte, also mit der Auseinandersetzung mit
den Verbrechen im Land der Täter, beschäftigt. Das tut nun
das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin. Dass dabei auch die
nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik gegenüber
Juden und anderen Gruppen selbst ausführlich dargestellt wird,
ist nicht nur dem Anlass, dem 60. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, auf
der die Durchführung der "Endlösung" beraten wurde,
geschuldet. Dahinter steht Grundsätzlicheres.
"Nur, was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt in Erinnerung"
- dieser Satz Friedrich Nietzsches weist auf die Gefahr hin, die eine
wissenschaftliche Vergangenheitsaufarbeitung birgt. Sie führt zur
Versachlichung. Mit wachsendem Zeitabstand - die Zeitzeugen sterben
aus - wird die emotionale Distanz immer größer. Das fördert
das Vergessen.
Dem wirkt das DHM entgegen, indem es den Massenmord ganz konkret ins
Zentrum stellt und seinen Vollzug am einzelnen Menschen demonstriert.
Das von dem polnischen Bildhauer Mieczyslaw Stobierski geschaffene Modell
des Krematoriums II im Auschwitz-Birkenau zeigt den perfiden Ablauf
der Vernichtung: Es zeigt, wie die Juden in die unterirdische Anlage
gezwungen werden, sich dort ausziehen müssen, dann in die Enge
der Gaskammern gepfercht werden. Gas strömt ein. Eine Ebene höher
werden derweil die Leichen der letzten Vergasungsaktion zu den Öfen
gekarrt und verbrannt. Hier wird sichtbar, was oft hinter der Rede von
der "industriellen" Vernichtung in der "Todesfabrik"
Auschwitz verloren zu gehen scheint. Die Betrachtung der kleinen Figuren,
der Blick in ihre verzerrten Gesichter, ihre aufgesperrten Münder:
Es tut weh.
Dann steigt man empor in den zweiten Stock, in die Zeit nach 1945, als
sich die deutsche Gesellschaft an die "Vergangenheitsbewältigung"
macht. Eine wirkliche Entnazifizierung scheiterte spätestens an
der veränderten Weltlage, an Westbindung und Wiederbewaffnung der
jungen Bundesrepublik, die eine Integration der alten Eliten notwendig
zu machen schien. Mit Hans Globke und Theodor Oberländer erlangten
ehemalige Nazis Staatssekretär-, ja Ministerwürden. Währenddessen
gab es wenige zaghafte Versuche, jüdische Gemeinden wieder aufzubauen.
Die, die die Hölle der Verfolgung überlebten, quälten
sich nun mit endlosen Anträgen herum, um bescheidene Wiedergutmachungszahlungen
zu erhalten.
Damals war der deutschen Bevölkerung nichts an der jüdischen
Katastrophe gelegen, nur die deutsche interessierte sie. Wie hatte diese
Kulturnation, das Land Goethes und Schillers, so tief fallen können?
Nun, man dämonisierte Hitler und seine Kumpanen, sie hätten
das deutsche Volk verführt und dessen Pflichtbewusstsein missbraucht.
Adenauer brachte dies auf den Punkt, als er 1951 im Zuge der Wiedergutmachungsverhandlungen
mit Israel die Worte sprach: "Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden
Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat
sich an ihnen nicht beteiligt."
Umso schockierender wirkte der 1963 in Frankfurt beginnende Auschwitz-Prozess,
der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Er zeigte, dass jene, die die "Todesfabrik" Auschwitz am Laufen
hielten, keine bestialischen Monster waren, sondern ganz normale Bürger.
Der Eichmann-Prozess führte zur selben Erkenntnis und Hannah Arendt
prägte angesichts dieses Biedermanns das Wort von der "Banalität
des Bösen". Das aber war das zutiefst Verstörende, das
ins allgemeine Bewusstsein trat. Hinter den Toren der Vernichtungslager,
so der Frankfurter Richter begann "eine Hölle, die für
das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken" war - und der
Täter war Herr Jedermann.
Erst in den siebziger Jahren rückten die Verbrechen an den Juden
in den Mittelpunkt. Die DDR hingegen hielt sich all die Jahre für
das antifaschistische und "bessere" Deutschland und verweigerte
jegliche Verantwortung für die Verbrechen. Für sie standen
die Kommunisten als "Opfer des Faschismus" im Vordergrund.
Im Westen etablierte die amerikanische Fernsehserie "Holocaust"
den Begriff. Seither hat das Thema in den Wissenschaften wie in den
Medien eine so enorme Konjunktur, dass viele darin die Trivialisierung
fürchten. Böse Worte, wie "Gedenkstättentourismus"
und zuletzt gar "Holocaust-Industrie" machten die Runde.
Dass so etwas begierig in rechtsradikalen Kreisen goutiert wird, verschweigt
die Ausstellung nicht. Das jüngste Beispiel war der Streit um den
missratenen Slogan "Den Holocaust hat es nie gegeben", mit
dem Spenden für das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden
Europas eingeworben werden sollten. Mit hämischer Freude zitierte
ihn die NPD auf ihren Wahlplakaten.
Besonders thesenfreudig ist die Ausstellung nicht. Dazu waren mit der
Stiftung Topographie des Terrors, dem Haus der Wannsee-Konfererenz,
dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst und der Stiftung Brandenburgische
Gedenkstätten zu viele Institutionen beteiligt. Zudem präsentieren
im Rahmen der Ausstellung das Museum Auschwitz-Birkenau, die Gedenkstätte
Yad Vashem und das U.S. Holocaust Memorial Museum ihre Arbeit. Im DHM
wird eine große und außerordentliche Bestandsaufnahme geleistet.
Debatten gibt es genug.
DHM, Kronprinzenpalais, Unter den Linden
3, 10117 Berlin, 17.1.-9.4.2002, täglich außer Mi 10-18,
Do 10-22 Uhr, Eintritt frei, Katalog EUR 20, www.dhm.de.