Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die
Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
"Blindes Vertrauen"
- Ein Kinderbuch über den Holocaust und einen blinden Helden
"Wer sind die Nazis?" fragte die kleine
Inge eines Tages ihre Mutter, das war irgendwann zu Beginn der 1930er
Jahre. Inge Deutschkron wurde 1922 in Finsterwalde geboren. Sie
ist Jüdin. Seit 1927 lebte sie mit ihrer Familie in Berlin,
wo sie auch die Schule besuchte. Als junge Jüdin wurde sie
1939 zur Fabrikarbeit zwangsverpflichtet. Durch eine selbst zugefügte
Knieverletzung gelingt es Inge, ihre Entlassung zu provozieren.
Der Unternehmer Otto Weidt holt sie daraufhin 1941 in seine Blindenwerkstatt
in der Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte. Weidts Werkstatt
war ein "wehrwichtiger" Betrieb. Wehrwichtig, weil er
Bürsten und Besen für die Wehrmacht liefern sollte. Hier
arbeiteten vor allem Blinde, aber auch Juden. "Unter Juden
war bekannt, dass er die Nazis hasste und dass er half, wenn sie
mit ihren vielen Verordnungen den Juden das Leben zur Hölle
machten", schreibt Inge Deutschkron in der Einführung
ihres Kinderbuches "Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn".
Weidt, der selbst nahezu blind war, bot den ca. 30 jüdischen
Beschäftigten seiner Blindenwerkstatt Schutz vor der Gestapo
und mehr noch das Gefühl von Menschlichkeit. Liebevoll nannten
sie ihn daher auch "Papa Weidt".
Papa Weidt und seine Blindenwerkstatt
Inge Deutschkron versteht es, die Kinder und Jugendlichen in dieses
dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte behutsam einzuführen.
Einer Pinwand gleich finden sich auf den Innenseiten der Buchdeckel
einige der vielen Nazi-Verordnungen gegen die Juden. Dort, wo in
Kinderbüchern normalerweise farbenfrohe Zeichnungen prangen,
erblickt der junge Leser hier Bekanntmachungen, wie zum Beispiel
"Der Besuch von Kinos, Theater, Oper und Konzerten wird Juden
verboten. 12.11.1938" oder "Keine Frischmilch für
Juden. 10.7.1942". Anschaulich berichtet Deutschkron vom Leben
und der Arbeit der Juden in der Blindenwerkstatt. Sie erzählt
von der Angst und den Schikanen, denen Juden in dieser Zeit ausgesetzt
waren. Papa Weidt, der selbst kein Jude war, setzte sich für
sie ein. Er ging für sie zu Behörden und hatte auch keine
Hemmungen davor, Beamte - auch die gefürchteten Gestapo-Beamten
- zu bestechen, um "seine" Juden zu beschützen und
sie vor der Deportation in die Todeslager zu bewahren. Einigen Juden
besorgte er gar Verstecke, so zum Beispiel der Familie Horn und
der Familie Licht. Doch diese Verstecke wurden verraten, die Juden
deportiert. "Ich kann sie doch nicht einfach umkommen lassen"
, sagte Papa Weidt. "Ich fahre nach Auschwitz". Tatsächlich
stand er schon bald vor den Toren des Todeslagers Auschwitz, um
dort seine Bürsten und Besen anzubieten. Er bestach einen polnischen
Arbeiter, der Zugang zum Lager hatte, und versuchte auf diesem Weg,
"seinen" Juden weiterhin zu helfen.
Auch nach dem Krieg kümmerte sich Papa Weidt bis zu seinem
Tod im Dezember 1947 um jüdische Menschen. Er baute in Berlin-Niederschönhausen
ein jüdisches Kinder- und Altersheim wieder auf. An die Zeitschrift
"Der Aufbau" in New York schrieb Weidt im Oktober 1947:
"Wir haben den Kindern ein kleines Paradies und den Alten,
die als Strandgut aus den KZ-Lagern wieder an das Ufer des Lebens
geworfen wurden, ein behagliches Dasein errichten können."
Der Künstler Lukas Ruegenberg hat den Text sehr farbig illustriert.
Auch Auschwitz ist bunt, aber der Himmel über dem Stacheldraht
erscheint giftig-gelb.
"Papa Weidt" - Ein Kinderbuch?
Kinderbuchautoren tummeln sich zumeist auf neutralen Schauplätzen,
erzählen von schönen und guten Helden und deren Abenteuern.
Inge Deutschkron dagegen berichtet von ihrem persönlichen Erleben
im "Dritten Reich". Mit einfachen Sätzen versucht
sie Kindern ihre positiven Erfahrungen aus dieser dunklen Zeit zu
vermitteln. Sie schildert, was es damals hieß, Jüdin
zu sein, dass aus Diskriminierungen Mord wurde. Die Geschichte von
dem guten und listigen Otto Weidt und "seinen" Juden verstehen
bereits Achtjährige. Dennoch sollten Kinder mit diesem Buch
nicht alleine gelassen werden. Sie werden Fragen stellen, die uns
Erwachsenen viel abverlangen. Wie erklärt man einem Kind, warum
das nationalsozialistische Deutschland alle Juden vernichten wollten?
Wie kann man erklären, dass Millionen Juden ermordet worden
sind? Ist dies überhaupt erklärbar?
Um neugierig gewordenen Kindern Erläuterungen
geben zu können, sollte parallel Deutschkrons Autobiographie
"Ich trug den gelben Stern" gelesen werden. Hier dokumentiert
die Autorin ihre Überlebensgeschichte im Untergrund. Auch ein
Besuch mit den Kindern im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in
der Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte, einer Dependance
des Jüdischen Museums, kann die Geschichte für Kinder
greifbarer machen. Vor dem Museum ist übrigens auch eine Gedenktafel
für Otto Weidt in den Boden eingelassen. Der letzte Satz heißt:
"Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben." Und
so endet auch das Buch von einem wahren Helden.
Robert Kain
DEUTSCHKRON, Inge/ RUEGENBERG, Lukas: Papa Weidt.
Er bot den Nazis die Stirn. Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer
1999. 36 Seiten, ISBN 3-7666-0210-1. (für Kinder ab 8 Jahre)
Weiterführend:
· DEUTSCHKRON, Inge: Ich trug den gelben Stern, Köln
1978.
· Homepage des MUSEUMS BLINDENWERKSTATT OTTO WEIDT: http://www.blindes-vertrauen.de
Zurück zur Übersicht
|