Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die
Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
"Hoffnung jenseits der Hoffnung"
Jeden Monat werden in Deutschland unzählige neue
Bücher auf den Markt geworfen. Nur ein Bruchteil davon erlangt
ein gewisses Maß an Bekanntheit. Noch seltener ist eines darunter,
dessen Stil und Thema unabhängig vom Vergehen der Zeit zu sein
scheint. Irgendwann wird es vielleicht zum Klassiker - zeitlos aktuell.
Der "Roman eines Schicksallosen" erschien erstmals 1975
in der ungarischen Heimat des Autors. 15 Jahre hat Kertesz daran
gearbeitet und nebenher zum Broterwerb Boulevardstücke fürs
Theater geschrieben. Zunächst blieb das Buch weitgehend unbeachtet.
Doch als vor vier Jahren erstmals die deutsche Übersetzung
herauskam, zeigten Kritik und Publikum überraschend starkes
Interesse. Kertesz Lesungen sind seitdem gut besucht, unlängst
hat er den Welt-Literaturpreis erhalten.
Die Vertreibung
Im "Roman eines Schicksallosen" erzählt
er die Geschichte des Jungen György. Es ist die Geschichte
eines Heranwachsenden, der tapfer seinen ersten Kuß, "eine
feuchte, einigermaßen klebrige Berührung" hinter
sich bringt. Der wie seine Altersgenossen aufs Gymnasium geht und
seine Mutter nicht weinen sehen mag. Und der mit aufmerksamem Blick
die Veränderungen um sich herum beobachtet. Ihm ist nichts
geblieben als die Beobachtung, denn als Jude gehört György
nicht mehr dazu, 1944 in Budapest.
Die Mechanismen des Ausschlusses sind längst in Gang gesetzt.
Er sieht den Bäcker, der ihn stets um einen Teil der Brotzuteilung
betrügt. Der Antisemit geworden ist, um Betrüger ohne
Skrupel sein zu können, nicht etwa, weil er etwas gegen Juden
hätte. Er sieht den Vater, der sein Geschäft aufgeben
muß und kurz darauf ins "Arbeitslager" befohlen
wird. Der sich vorher noch einen stabilen Rucksack und ein Taschenmesser
kauft. Alles, was man "unter ähnlichen Umständen"
brauchen könnte, wie der Verkäufer erklärt. Er muß
es wissen, denken die Eltern. Täglich kommen die Leute, um
Rucksäcke zu kaufen. György sieht die Verwandten, die
sich zum Abschiedsfest einfinden. Jeder hat sich mit einer anderen
Form der Hoffnung versehen. BBC oder Gott, das sind die Wahlmöglichkeiten.
Da ist Onkel Vilis, der glaubt, daß die Juden für die
Deutschen als wertvolles Pfand bei Friedensverhandlungen dienen
werden. "Wäre ich doch bloß bei einem einzigen meiner
Renn-Tipps so sicher gewesen wie bei dieser Sache, dann wäre
ich jetzt nicht so ein armer Schlucker!" sagt er, während
der Vater das Gewicht des Rucksacks ausprobiert. Und da ist Onkel
Lajos, der an die Vorsehung glaubt und kein Schweinefleisch ißt.
Sie beten und glauben an alles, außer an ihre Furcht. Davon
und vom gelben Stoff der Judensterne, der knapp ist zu jener Zeit,
berichtet der Junge. Nur von sich erzählt er nicht.
Noch einmal zuhören
Nach wenigen Seiten ist klar, wohin diese Geschichte
führen wird. Ein paar Worte genügen, um daran zu erinnern.
Im Schatten des "gelben Sterns" verbirgt sich jene Vergangenheit,
deren Existenz nicht zu leugnen und noch weniger zu akzeptieren
ist. Ein unhaltbarer Zustand, der zur Gewohnheit geworden ist. So
sehr, daß manchmal die Hoffnung aufkommt, man habe endlich
begriffen - die Illusion einer Hoffnung. Nur wer sich traut, nicht
begriffen zu haben, sollte noch einmal zuhören und lesen. Denn
Kertesz Buch erzählt nicht allein von Auschwitz. Auf einer
viel tiefer liegenden, dem Voyeurismus verschlossenen Ebene, versucht
es etwas aussichtsloses - das Vakuum zwischen den Zeiten vor und
nach Auschwitz mit den Worten eines Menschen zu füllen und
so ihren Gegensatz sprachlich zu versöhnen.
Unaufdringlich fließen die Sätze dahin. Beinahe elegant
fügen sich Worte zu Sätzen und Sätze zu Kapiteln
und eine Geschichte entsteht. Nichts sträubt sich. Kertesz
hat jeden Widerstand ausgeräumt. Vorher Undenkbares wird "natürlich".
Uniformierte befehlen, Güterzüge fahren und zwangsläufig
taucht jener Ort auf, dessen Namen noch niemand kennt. Auch für
den Jungen ist das alles "natürlich" und obwohl es
möglich wäre, flieht er nicht. Erst verbietet es ihm die
Ordnung seiner Erziehung und später, als alle Ordnung tödlich
geworden ist, ist es "natürlich", einfach weil es
geschieht.
Kein Wort hält den Lauf des Schicksals auf. Mit jeder gelesenen
Zeile verrinnt die Zeit und bringt den Endpunkt näher. Unaufhaltsam.
Noch während die Züge rollen, wissen wir, was kommen wird.
Hier ist Wissen Ohnmacht. Denn für uns, die Nachlebenden, sind
die Gegenstände und Worte längst zu Codes des Unaussprechlichen
geworden. Ein Zug ist kein Zug mehr und jeder Hochstand kann ein
Wachturm sein. Durch die Erzählung des Jungen erfahren wir,
daß die Worte ihre Unschuld verloren haben und das es eine
Zeit gegeben haben muß, in der das anders war.
Als der Zug vor dem Lager noch ein letztes mal hält, sieht
der Junge aus der mit Stacheldraht versperrten Luke hinaus und plötzlich
kommt "von hinten ein scharfer, dünner roter Strahl hervor,
und ich begriff: ich sah die Sonne aufgehen." Schönheit,
wo sie unserer Meinung nach nicht sein darf. Denn das würde
die Grenzen zwischen hier und dort, damals und heute verwischen.
Die Rückkehr
Der Junge überlebt und kehrt zurück. "Aber
es war doch schrecklich." sagen die ehemaligen Nachbarn und
wenden sich ab. Für sie muß das Leben weitergehen. Für
den Jungen jedoch ist Auschwitz Teil des Lebens selbst geworden.
Ein Teil, auf den er nun, zum Unbehagen der anderen, Anspruch erhebt:
"...nur war es nicht einfach so, daß die "Dinge"
kamen, wir sind auch gegangen", erklärt er einem verstörten
Reporter. An dieser Stelle, 1945 im befreiten Budapest, in dem es
noch die selben Straßen, die selben Bäume und Nachbarn
gibt und doch alles anders ist, endet die Geschichte. 15 Jahre später
beginnt der Jude Kertesz sie aufzuschreiben. György erzählt
auch seine Geschichte.
Vielleicht könne es etwas wie "Hoffnung jenseits der Hoffnung"
geben, sagte Kertesz bei seinem letzten Besuch hier in Berlin. Vielleicht
könne man irgendwann in der Shoa die maßlos radikale
Offenbarung der menschlichen Existenz an sich wahrnehmen. So wie
seine Romanfigur György besteht er darauf, nicht nur Opfer
zu sein. Er will, daß seine Hoffnung auf menschliches Lernen
selbst aus dieser Erfahrung nicht mehr als die Notlüge eines
Verzweifelten abgetan wird.
Vielleicht wird dieser Versuch Kertesz und sein Buch zum Klassiker
des 20. Jahrhunderts machen. Gerade im Land der Klassiker.
Andreas Stirn
Imre Kertèsz: Roman eines Schicksallosen, Taschenbuch
Rowohlt 1998, DM 16,90
Zurück zur Übersicht
|