Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die
Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
"Ich aß amerikanische
Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Ju-den.
Da wurde es meine Geschichte."
1. Entstehungsgeschichte
Ähnlich kontrovers wie schon Wolfgang Koeppens Werke der Fünfziger
Jahre, Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom als überhaupt
erste literatisierte Kritik an der noch jungen, heiligen deutschen
Demokratie vom Literaturbetrieb aufgenommen und bewertet worden
sind, stiftete auch die Wiederveröffentlichung von Jakob Littners
Aufzeichnungen aus einem Erdloch 1992 im neu initiierten Jüdischen
Verlag unter Suhrkampscher Federführung Verwirrung. So irritierte
Koeppen zunächst mit der, wenn überhaupt, dann nur auf
höchst diffuse Weise geklärten Autorschaft des Romans.
1948 ano-nym bei einem kleinen Münchener Verleger mehr oder
weniger unbeachtet veröffentlicht, erscheint das Buch 44 Jahre
später erneut, diesmal unter Koeppens Namen. Er erläutert
im Vorwort: "Der Verleger fragte mich: ‚Willst du es schreiben?'"
Die Situation scheint geklärt: der vom Holocaust gezeichnete
Jude Littner floh nach Kriegsende in die USA, seine wenigen Aufzeichnungen
hinterließ er Koeppen, damit dieser ein Buch daraus mache,
brachte ihn zur Belohnung mit amerikanischen Carepaketen durch den
deutschen Nachkriegshunger. Einzige Bedingung: Littner sollte fiktionaler
Charakter, der Autor anonym bleiben. Doch das 1948 publizierte Ergebnis
stellte Littner nicht zufrieden. Das Buch ver-schwand vom Markt,
Littner starb, bevor er eine eigene Fassung veröffentlichen
konnte. Erst 1992 er-schien die Neuauflage, durch Koeppen endlich
Gewinn versprechend. Doch plötzlich tauchte das Litt-nersche
Originalmanuskript auf. Dieses ähnelt dem 1948 veröffentlichen,
von Koeppen nach Littners angeblich nur spärlichen Notizen
geschaffenen Buch so sehr, dass die Frage nach Eigenprodukt oder
geistigem Diebstahl, nach dreistem Plagiat oder genialischem Einfallsreichtum
unvermeidbar wurde, ebenso unvermeidbar wie der darauffolgende Rechtsstreit
zwischen Suhrkamp und den Erben Littners. - Koeppen sollte die Aufdeckung
des Schwindels übrigens nicht mehr erleben, er starb 1996.
2. "Raub, Mord, Vergewaltigung kam über
uns wie ein Wetter."
Zum Inhalt: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch zeichnet
den Lebens- und Leidensweg des seit vielen Jahren in München
beheimateten, durch Zufall an die polnische Staatsbürgerschaft
gera-tenen, jüdischen Briefmarkenhändlers Jakob Littner
nach. Nach dem Novemberpogrom 1938 und den sich anschließenden
antisemitischen Hetzen, flieht er über Prag nach Krakau und
von dort in bereits deutsch besetztes ukrainisches Gebiet, wo er
von Tarnopol aus schließlich in den kleinen Ort Zbaraz gelangt.
Zunächst positiv überrascht von den einrückenden
Wehrmachttruppen, richtet sich Littner not-dürftig aber zuversichtlich
mit anderen Flüchtlingen im jüdischen Ghetto der Stadt
ein, wird aus entste-hender Heimeligkeit aber bald schon durch die
der Wehrmacht nachfolgenden SS-Brigaden aufge-schreckt. Willkür
beherrscht von nun an die Szenerie, aus nichtigsten Anlässen
werden Menschen er-mordet, dutzende Personen auf einmal und nur
durch Zufall zum Sterben ausgewählt - die Bevölke-rung
des Ghettos systematisch dezimiert. Diese Szenen sind auf so erschütternde
Weise direkt und prä-zise geschildert, dass es schwierig scheint,
Koeppen, der zu keiner Zeit des Zweiten Weltkriegs gefähr-det
war, abzunehmen, Grausamkeiten wie diese nur mit der Hilfe weniger
Notizen bereits 1948 erdich-tet haben zu können. Offensichtlich
ist, dass er die einzelnen Pogrome ausmalt, die geschilderten Ge-fahren
und unvorstellbaren Greuel mit Mythen durchwirkt und am Ende vielleicht
gar nicht so viel mehr getan hat, als Littners einfache, plumpe
Originalformulierungen zu glätten, um ihnen zur Veröf-fentlichung
zu verhelfen.
Littner und seine Freundin Janina sowie weitere Bewohner des Hauses
können der planlosen Blutgier durch einen von Hand gegrabenen
Bunker im Haus entgehen, ihr Haus bleibt von der Willkür der
Pog-rome verschont. Im Juni 1943 dann, einen Tag, bevor das Zbarazer
Ghetto endgültig aufgelöst wird, das heißt, alle
verbliebenen Bewohner erschossen werden, entkommen Littner und Janina
durch Zufälle und finden Zuflucht in einem weiteren unterirdischen
Bunker. In den folgenden neun Monaten werden sie nur aufs notdürftigste
versorgt von einem ukrainischen Bauern, der, jederzeit bereit, sie
bei Zah-lungsunfähigkeit den Deutschen auszuliefern, horrende
Raten für die unwürdige Unterkunft verlangt. Am Höhepunkt
dieser, dem Tageslicht neun Monate lang völlig entzogenen Hölle,
bricht Littner sich die Goldkronen aus den Zähnen, um den geforderten
Zahlungen weiterhin nachkommen zu können. Die endgültige
Rettung erfolgt erst viel später, im März 1944, beim Einmarsch
der Roten Armee.
3. "Ich hasse auch die Schuldigen nicht."
Littner findet zu Gott. Der zuvor wenig gläubige Jude entdeckt
in dem Roman in seiner monatelangen Verzweiflung den Glauben wieder
und beginnt, sich die nicht mehr für möglich gehaltene
Rettung al-lein mit seinem Vertrauen auf Gott und dessen Gnade zu
erklären. In seinen Glaubensbekenntnissen geht Littner dann
sogar soweit, dass ihn die zweifelhafte Überzeugung ereilt,
trotz seiner durchgestan-denen Leiden niemanden für diese hassen
oder anklagen zu dürfen. Nur Gott allein dürfe verurteilen,
nur ihm sei das Recht gegeben, zu bestrafen - ein Zusatz in der
veröffentlichten Koeppen-Variante des Manuskripts, der Littner
1948 dazu gebracht hat, die Erstveröffentlichung enttäuscht
abzulehnen, da er offensichtlich nicht annähernd so selbstverständlich
bereit gewesen ist zu verzeihen, wie es ihm Koep-pen in den Mund
gelegt hat. Tatsächlich drängt sich die Frage auf, mit
welchem Recht der vollkommen unbetroffene Christ Koeppen dieses
Buch dazu nutzen durfte, im Namen des gläubigen Judentums so-wohl
die Verbrecher des Zweiten Weltkrieges, als auch kollektiv die deutsche
Bevölkerung (und damit auch sich selbst, Wolfgang Koeppen)
von ihrer Schuld zu entbinden, ihre Richtbarkeit an eine göttliche
Instanz weiterzuleiten.
Kevin Vennemann
Koeppen, Wolfgang, Jakob Littners Aufzeichnungen aus
einem Erdloch. Frankfurt am Main 1992. ca. 8 €.
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