Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015

 

Die Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM

 

174 517 Levi
Beobachtung der Entmenschlichung - Eine Rezension
von Lennart Laberenz

Levi, Primo: Ist das ein Mensch?
Ein autobiographischer Bericht. München: dtv 102001. 8 Euro.

.01
Unter den schriftstellerischen Werken, die sich mit dem Überleben des Holocaust - zumal im Konzentrationslager - auseinandersetzen, sticht ein Name oft genug hervor: Es ist der des Primo Levi. Das literarische Werk des 1919 in Turin geborenen nichtpraktizierenden Juden Levi, der eben dort Chemie studierte, ist dabei schon durch sein Beschäftigung mit seinem eigenen Überleben im Vernichtungslager Auschwitz ein oft gelesener Bezugspunkt. Levi, dessen 'autobiographischer Bericht' an seine ebenfalls in Buchform veröffentlichte Widerstandszeit anknüpft, beeindruckt durch seine Erzählposition, von der aus der Autor einen vorsichtigen und unpathetischen Beobachtungs- und Erzählstil entfaltet. Als Überlebender der "Außenstelle der Hölle", wie Halina Birenbaum das Lagersystem Auschwitz einmal nannte, versucht Levi die funktionalen Prozesse, die strukturellen Gegebenheiten unterhalb der grausamen Alltäglichkeit des Lagerlebens mit dem Drang nach einer objektiven Erläuterung darzustellen. Seine Schilderungen gewinnen so an Ruhe und geraten oft genug in die Position eines Erklären-Wollens, durch die Levis Erzählposition eine tiefe, eigentümlich teilbare Eindrücklichkeit erlangen.
Primo Levi überlebte Auschwitz im Arbeitslager der Außenstelle Buna. Seine Schilderungen des grausamen Alltages vermögen bis heute sämtliche aktuellen Debatten über die Zwangsarbeiterentschädigung mit einem gleichsam ruhigen aber aufwühlenden Kontrapunkt zu karikieren: die Lektüre von Primo Levis nüchternen Darstellungen lassen einen Horizont, der schlicht nicht zu entschädigen ist, erahnen. Und doch zeigen sie zudem den ganzen Zynismus der defensiven Argumente, wie sie von Wirtschaftsvertretern gegen eine materielle Beteiligung am Fonds artikuliert werden, schonungslos auf. Und so sind es die bedächtigen Stimmen etwa eines Primo Levi, die auch den gegenwertig in der Medienöffentlichkeit kritisierte Modus der Zahlungen und den peniblen Verhandlungsmodus der deutschen Seite als keine kaum zu übertreibende Niveaulosigkeit darzustellen vermag.
Primo Levi, der seine Familie in Auschwitz verlor, kehrte nach der Flucht des Wachpersonals und der Kapitulation Italiens in seine Heimatstadt Turin zurück, wo er zunächst in der Chemieindustrie beschäftigt war, bevor er in den späten 70er Jahren als freier Schriftsteller arbeitete. Am 11. April 1987 nahm er sich das Leben.

.02
In einem an den Übersetzer gerichteten Brief, vom Verlag als Vorrede abgedruckt, stellt Levi fest, dass nicht Hass, Rache, Schuldvorwürfe, ja nicht einmal die Bewältigung der eigenen Vergangenheit Sinn und Zweck des Buches ist. Seine Intention skizziert er als "Zeugnis ablegen" - freilich nicht sinnfrei, sondern um in einen Verständnisprozess einzutreten, der im Spiegel des Nachhalls auf seine Werke in Deutschland seine Struktur erhalten sollte. Hier sind wir Lesenden also gewissermaßen miteinbezogen - und genau das macht eben die Eindrücklichkeit, die Teilbarkeit der generellen Frage nach dem Verständnis historischer Ereignisse, die uns Levi präsentiert, aus. Denn, so schreibt er, "ich kann nicht sagen, daß ich die Deutschen verstehe. Und was man nicht verstehen kann, bildet eine schmerzhafte Leere, ist ein Stachel, ein dauernder Drang, der Erfüllung fordert."
Und doch ist unter dieser Oberfläche eine tiefere Aussage verborgen - Levi versteht den Prozess des Konzentrationslagers als einen, der als Entmenschlichung verstanden werden muss. Die Verschleppten und Gefolterten werden in Lumpen uniformiert, ihnen wird Besitz genommen und auch der Name durch eine unpersönliche Nummer ersetzt, sie werden durch die interne Organisationsstruktur allen menschlichen Verhaltensweisen entwöhnt. Levi notiert: "Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht; ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, ist nicht mehr denkbar.[...] Nun denke man sich einen Menschen, dem man, zusammen mit seinen Lieben, auch sein Heim, seine Gewohnheiten, seine Kleidung und schließlich alles, buchstäblich alles nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschränkt auf Leid und Notdurft und verlustig seiner Würde und seines Urteilsvermögens, denn wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst; so sehr, daß man leichthin und ohne jede Regung verbindenden Menschentums, bestenfalls aber auf Grund reiner Zweckmäßigkeit über sein Leben und seinen Tod wird entscheiden können. So wird man denn die zweifache Bedeutung des Wortes Vernichtungslager verstehen [...]." Levi selbst ist nur noch die Nummer 174 517.
Der US-amerikanische Soziologe Barrington Moore stellt in seinen Untersuchungen zur "sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand" fest, dass diese "Zerstörung der Selbstachtung des Gefangenen, die Vernichtung jeglicher Individualität, jeglichen Status, den er in der Außenwelt besessen haben mochte", darüber hinaus aber auch der Verlust jeder Form von Privatheit in der "erzwungenen Intimität" der Kollektive zu einer konsequenten Entsolidarisierung geführt hatten. Ein wichtiger Teil der Gewalt sei, so Moore, nicht direkt vom Bewachungspersonal der SS ausgegangen, sondern sei indirekt durch die von ihnen geschaffenen Strukturen entstanden. "Die meiste Brutalität [...] ergab sich [...]aus dem Verhalten der anderen Gefangenen, die in derselben Situation waren."(Moore 1984:101)
Dies bedarf genauerer Erläuterung. Primo Levi berichtet an einer Vielzahl von Stellen, dass die Gefahr des Diebstahls, Verlust von überlebenswichtiger Kleidung, Nahrung oder das Zurückhalten von existentiellem Wissen unter den Häftlingen an der Tagesordnung stand. Die Beraubung der Eigenwürde bedeutet somit auch einen generelle Verlust von Würde und Respekt im Zusammenspiel mit anderen Leidensgenossen. Es vollzieht sich der absolute und nicht zu denkende Verlust jeder menschlichen Perspektive, den Levi am Beispiel der älteren Lagerhäftlinge skizziert: "Für sie ist seit Monaten, seit Jahren die Frage nach der weiten Zukunft gegenstandslos geworden, hat jeden Sinn vor den so viel dringlicheren und konkreteren Problemen der nahen Zukunft verloren, nämlich was es heute zu essen gibt, ob es schneien wird, ob Kohlen auszuladen sind." In dieser Situation wird der Mithäftling nicht mehr als ein Leidensgenosse, sondern als Feind identifiziert, als Quelle von Angst und Konkurrenz um Nahrung, Kleidung und Überleben. Vom düsteren Ideal des hobbeschen Krieges Aller gegen Alle sind die Lagerhäftlinge oft nur wenig entfernt.
In einem späteren Moment, als er aus einer gleichsam reflektierende Position im Krankenlager den Betrieb vor dem Fenster beobachtet, fasst Levi noch genauer, was das Werk derjeniger ist, die das Lager dachten, bewirtschafteten und organisierten. Die Kameraden, so schreibt er funktionierten wie Automaten. "Tot sind ihre Seelen, und die Musik treibt sie dahin wie der Wind das welke Laub und ersetzt ihren Willen. Denn ein Wille ist nicht mehr da, und jeder Pulsschlag wird zu einem Schritt, zu einer reflexbedingten Kontraktion verbrauchter Muskeln; das haben die Deutschen zuwege gebracht. Zehntausende sind sie, und doch nur eine einzige graue Maschine, willfährig bis zum Äußersten; sie denken nicht und sie wollen nicht, sie marschieren." Interessant wird dieses Bild in seiner Ambiguität: es passt auf die Soldaten und SSler in gewisser Hinsicht genauso wie auf die Häftlinge.

.03
Unter diesen Voraussetzungen ist annähernd verstehbar, was Primo Levi erlebt hat, wenn er skizziert, dass "die Fähigkeit des Menschen, sich auch in offenbar verzweifelten Situationen einen Schlupfwinkel zu schaffen, sich abzukapseln, eine dünne Schutzwand rings um sich zu errichten," erstaunlich groß sei. Schlupfwinkel sind auch diejenigen im internen Machtgefüge, konnten bedeuten über den Tod von Kameraden zu entscheiden um selbst am Leben zu bleiben und stumpf gegenüber fremden Leid zu werden. All das versteht Levi als einen strukturellen und direkten Angriff auf eben jenes fundamentale Mensch-Sein. Das Klima der Angst, von den oberflächlich sinnlosen Gewalt der LageraufseherInnen geschürt und stets lebendig gehalten, wurde zum existentiellen Grundschema des Verhältnisses zwischen den Gefangenen.
Dieses gegenseitige in-Schach-Halten bildet wohl den Kern, der ein Nichtentstehen eines Widerstandes im größeren Stil von Seiten der Gefangenen verhinderte. Moore geht dabei auf verschiedene Aspekte ein, die traditionelle Feindschaften und auch ein nicht Realisieren der eigenen Zwangslage umfassen. Dabei gab es sogar noch aktive Gruppenbeziehungen, die intern explizit gegen ein kollektives Aufbegehren arbeiteten. Für Barrington Moore funktioniert darum die Gesamtheit der sozialen Organisation in Konzentrationslagern so, "daß sie jede Handlung, die nach heroischem Widerstand roch, hemmte." (Moore 1984: 110)
Als bei der einzigen wichtigen Aktion im Winter 1944 es einigen Lagerhäftlingen gelingt, eine der Gaskammern im Stammlager Auschwitz zu sprengen, wird Levi mit einigen Anderen Zeuge der Hinrichtung der vermeintlichen Täter. Das Erstaunen, ja die Fassungslosigkeit eine solch widerständige Tat gedacht, geplant und durchgeführt zu haben, zeigt aber gleich auch die grausame Dialektik ihrer eigenen Realität. Auch wenn sie ihre Selbsterhaltungstriebe mit Diebstahl und Sabotage bis zur ‚Brillanz', wie Levi sagt, ausgeweitet hatten - eine konzertierte Aktion war offensichtlich niemals auch nur angedacht. Und mit dem Letzten der Widerständigen, so scheint es, stirbt auch der Letzte der Menschen. Levi kommentiert, dass die Nazis nun 'ihr Werk vollbracht' hätten. "Den Menschen zu vernichten ist fast ebenso schwer wie ihn zu schaffen: Es war nicht leicht, es ging auch nicht schnell, aber ihr Deutschen habt es fertiggebracht, Da sind wir nun, willfährig unter euren Augen. Von uns habt ihr nichts mehr zu befürchten. Keinen Akt der Auflehnung, kein Wort der Herausforderung, nicht einmal einen richtenden Blick."
Und dabei ist die letzte Stufe vor dem eigentlichen Tod noch nicht erreicht. Diejenigen, die als lebende Tote nur noch durch die Tage straucheln und denen jedes Leben bereits genommen und unwichtig ist, werden (selbst Levi kennt die Begründung nicht) 'Muselmänner' genannt. In ihnen personifiziert sich die Gewalt der Nationalsozialisten in ihrer physischen Konsequenz und die eigene Selbstaufgabe in irreparabler Weise. War Widerstand hauptsächlich Angelegenheit einer dünnen Gefangenenelite, so bildeten die Muselmännern ihre Antipoden. Sie stellten "die extremste Form der Kapitulation" dar, "wandelnde Leichen, die jede Bemühung, sich gegen eine überwältigende Umgebung zu behaupten aufgegeben hatten."(Moore 1984: 196) Für Primo Levi sind sie "der Nerv des Lagers; sie die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu fassen." Damit ist auch dem Prototypen des Entmenschlichten für Levi Gestalt gegeben. Vielleicht aber sind sie auch ein überzogener Idealtypus der Machthaber, ihre Nichtüberlebensfähigkeit zeugt von der Begrenzung, die einer Abschaffung des Mensch-Seins im menschlichen Körper selber noch widerfährt.

.04
Die ganze Breite des Entmenschlichten wird dabei allerdings erst bewusst, wenn man bedenkt, dass denjenigen, die die Organisation und Durchführung der Konzentrationslager übernehmen auch nicht mehr dem Bild des Menschen entsprechen. Die ganze Dimension ergibt sich aus der oben ausgeführten Verzweigtheit der Gewalt - ohne allerdings den zentralen planerischen Ausgangspunkt und seine Intentionen angreifen zu können oder zu wollen - und ist so gesehen eine Transponierung der allgemeingesellschaftlichen Verhältnisse auf ein existentielles Extrem. Die Regel, "man biete einigen Individuen, die ein Sklavendasein führen, eine privilegierte Stellung, gewisse Annehmlichkeiten und die Aussicht zu überleben, man fordere dafür den Verrat an der natürlichen Solidarität mit ihren Kameraden, und einer von ihnen wird sich gewiß bereitfinden. [...] Und er wird erst dann genug haben, wenn er die von oben auf oben erlittene Unbill auf seine Untergebenen abgewälzt hat," formulierte Primo Levi bewusst so allgemeingültig. Er hält die "hier beschriebenen Personen" nicht für Menschen. Ihr Menschsein ist verschüttet..."
Es scheint, als lege die absolute Extremsituation des Konzentrationslagers für den Gefangenen Levi auch einige essentielle Strukturen des Menschlichen frei. Anders lässt sich die Regelhaftigkeit, die er fixiert nicht erklären. Und dennoch muss vor einem populär auch immer gerne gezogenen Rückschluss auf eine 'Natürlichkeit' dieser Verhaltensformen gewarnt werden - sind doch die strukturellen Rahmenbedingungen absolut künstliche und in diesem Sinne 'unnatürliche', dass sie nur so diskutiert werden können.
Naturgemäß kann dieser Zirkel nur durch den eigenen Tod oder das Ende des Konzentrationslagers durchbrochen werden. Und als es nach der Flucht der SS zwischen den wenigen überlebenden Gefangenen zu einzelnen kleinen und langsam sich wieder zu Kooperation und Mitleid kommt, bemerkt Levi, dass das Lager nun wirklich 'tot sei'. Aus diesem unausdrückbaren Leiden und der langen Wegstrecke, die die individuellen Erfahrungen abgeschritten haben, lässt sich die Schwierigkeit nicht denken, dem das Zurückgelangen zu menschlichem Verhalten sich ausgesetzt sah. Schließlich, "Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder leidet, kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist."

Literatur
a)
Levi, Primo: Wann, wenn nicht jetzt? Deutscher Taschenbuch Verlag: München 52000

Anissimov, Myriam: Primo Levi: die Tragödie eines Optimisten. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.
b)
Aly, Götz: >>Endlösung<<. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 21998.

Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 51975. [dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts Band 9]

Moore, Barrington: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand. Frankfurt: Suhrkamp 21984.



Zurück zur Übersicht