Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die
Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
Verdrängen wir die Menschlichkeit?
"Beinahe mit der Tür stürzt einer der Männer
zu mir herein und teilt mir aufgeregt mit, dass man beim Wegräumen
der Leichen eine lebende Frau gefunden hätte.
Ich greife nach meiner immer bereitstehenden Arzttasche, und schon
renne ich in die Gaskammer hinunter. Am Eingang des riesigen Raumes,
direkt an der Wand, liegt eine sich in Krämpfen windende junge
Frau. Sie gibt keuchende Laute von sich. Erschüttert stehen
die Leute des Gaskommandos um sie herum. [..]. Drei Spritzen nacheinander
gebe ich dem ohnmächtigen, schwer atmenden Kind. Seinen eiskalten
Körper bedecken die Männer mit dicken Mänteln. Einer
rennt zur Küche, um heißen Tee oder Suppe zu holen. Jeder
will hier helfen, als kämpfe er um das Leben des eigenen Kindes."
Ein Leidensweg
Miklós Nyiszli, ein ungarischer "Jude"
mit rumänischer Staatsbürgerschaft, wurde im Mai 1944
zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Vom 27. Juni
1944 an arbeitete er als Häftlingsarzt für den Lagerarzt
von Auschwitz-Birkenau, SS-Hauptsturmführer Dr. med. et phil.
Josef Mengele. Nyiszlis Aufgabe war es die Leichen, die ihn Mengele
zukommen ließ, zu sezieren und eine vergleichende Analyse
der inneren Organe der Opfer vorzunehmen. Wenn Nyiszli bei den Analysen
Auffälligkeiten entdeckte, so wurden die Organe präpariert.
Diese Präparate wurden verpackt und mit dem Stempel: "Eilig,
kriegswichtiger Inhalt!" zur genaueren "wissenschaftlichen
Auswertung" an das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem
geschickt. Zunächst war das Prosektorium, in dem Nyiszli die
Leichen im Auftrag Mengeles "wissenschaftlich" ausschlachten
musste, im Block 12 des Lagerabschnitts B II f des Lagers Birkenau
untergebracht. Ende August 1944 wurde Nyiszli in das Sonderkommando
des Krematoriums II in Birkenau überstellt, wo er weiterhin
Leichen sezieren musste. Nyiszli war wegen seiner Tätigkeit
kein gewöhnlicher Häftling des Sonderkommandos, er war
Mengele direkt unterstellt. Mengele war sogar auf seine beruflichen
Fähigkeiten als Gerichtsmediziner angewiesen. Diese Ausnahmeposition
sicherte Nyiszli, zumindest für eine gewisse Zeit, sein Leben.
Am 17. Januar 1945 wurde Auschwitz evakuiert, Mengele verließ
an diesem Tag das Lager mit den Aufzeichnungen über die Experimente,
die bis heute als verschollen gelten. Nyiszli und 30 weiteren Häftlingen
des letzten Birkenauer Sonderkommandos gelang es im Chaos der Räumung
des Lagers sich unter die anderen Häftlinge zu mischen. Er
wurde am 7. April 1945 im Konzentrationslager Eibensee in Oberösterreich
befreit. Im Oktober 1947 sagte Nyiszli als Zeuge vor dem Internationalen
Militärtribunal in Nürnberg über seine Zeit im Sonderkommando
des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aus.
Bereits im März 1946 hatte er seinen Erlebnisbericht, der danach
in viele Sprachen übersetzt wurde, niedergeschrieben. Am 5.
Mai 1956 starb Nyiszli an einem Herzinfarkt, er wurde 54 Jahre alt.
Im Mai 1992 wurde sein Erlebnisbericht erstmals in die deutsche
Sprache übersetzt, 46 Jahre nach der Anfertigung dieses Zeugnisses
über einen Menschen im "Jenseits".
Persönliche Einschätzung
Unser Wissen über die Sonderkommandos beschränkt
sich auf die Tätigkeiten der Häftlinge und die technischen
Abläufe in den Krematorien. Wir wissen zwar, wie die Krematorien
funktionierten, aber wir ahnen nicht, was die Häftlinge der
Sonderkommandos empfanden. Dies erklärt sich zum einen daraus,
dass nur wenige Mitglieder der Sonderkommandos überlebt haben
und dass wenige dieser Überlebenden in der Lage waren über
ihre Erlebnisse zu berichten oder gar über ihre Gefühle
zu sprechen. Zum anderen liegt es aber auch an uns selbst, denn
wir sind oft nicht bereit uns den Empfindungen dieser Menschen zu
stellen. Fast schon zwanghaft versuchen wir solche Aussagen über
die Konzentrations- und Vernichtungslager auszublenden, weil wir
sie nicht ertragen können. Was es heißt, sich als Mensch
in den Krematorien wiederzufinden, lässt sich kaum in Worte
fassen. Nach diesem Buch lässt es sich aber wenigstens ein
Stück weit erahnen.
Nyiszli unternimmt den Versuch das Erlebte in Auschwitz sachlich
darzustellen. Bemerkenswert an diesem Zeugnis ist, dass er die sachliche
Schilderung nicht immer durchhalten konnte. Jedes Mal, wenn er schildert,
wie etwas Außergewöhnliches geschieht oder wenn ihn seine
Vergangenheit vor Auschwitz eingeholt, durchbricht er diesen Darstellungsstil.
Immer dann wurde er, wenn auch nur für einen kurzen Moment,
wieder zu einem Menschen, der sich in den Krematorien von Auschwitz
wiedergefunden hat.
Schritt für Schritt und Seite um Seite wird die "Entmenschlichung"
seiner Empfindungen durch das in Auschwitz Erlebte deutlicher. Dieser
Prozess der "Entmenschlichung" wurde für mich nachempfindbar.
War ich am Anfang seines Berichts über eine bestimmte Art der
Ermordung eines Menschen schockiert, so nahm ich eine vergleichbare
Tat 40 Seiten später als eine sachliche Beschreibung des Gewesenen
hin. Auch ich bin durch dieses Buch ein Stück weit "entmenschlicht"
worden, ich musste meine Empfindungen verdrängen, damit ich
weiterlesen konnte.
Aber ich konnte zu jeder Zeit das Lesen unterbrechen und in meine
Welt zurückkehren, wieder zu einem "Menschen" werden,
wieder zu einem Menschen mit Empfindungen werden. Nyiszli hat versucht
einen sachlichen Bericht über seine Erlebnisse in Auschwitz
zu schreiben, aber es ist ihm weit mehr gelungen als das. Auch wenn
dies vielleicht gar nicht seine Absicht gewesen war, hat er der
Nachwelt eine Ahnung von diesem "Jenseits" vermittelt.
Genau dieses Gefühl, diese Ahnung von den Empfindungen dieses
Menschen "im Jenseits der Menschlichkeit", macht neben
den Sachinformationen über Auschwitz dieses Buch so lesenswert.
Dirk Mirbach
NYISZLI, Miklós, Im Jenseits der Menschlichkeit.
Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz, herausgegeben von Friedrich
Herber, Dietz Verlag Berlin, 1992.
Weiterführend:
CZECH, Danuta u.a., Auschwitz - Nationalsozialistisches
Vernichtungslager, Auschwitz-Birkenau 1997.
DELBO, Charlotte, Trilogie - Auschwitz und danach, Frankfurt am
Main 1993.
KLEE, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt
am Main 2001.
PRESSAC, Jean-Claude, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik
des Massenmordes,
München 1994.
ROSH, Lea, JÄCKEL, Eberhard, "Der Tod ist ein Meister
aus Deutschland", Hamburg 1991.
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