Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die
Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
Das Denkmal im
Bayerischen Viertel
Das Bayerische Viertel liegt im Berliner Bezirk Schöneberg.
Es ist eine Insel der Ruhe im schwankenden Hauptstadtmeer. Fünf
Autominuten vom Ku´damm entfernt säumen Platanen die
Straßen; die Wohnungen in den Bürgerhäusern und
Wirtschaftswunderbauten sind begehrt und teuer. Das war schon um
die Jahrhundertwende, als die ersten Baugesellschaften das sumpfige
Terrain erschlossen hatten, nicht anders.
Anfang der 30er Jahre wohnten hier -neben Kurt Tucholsky, Erich
Fromm und Else Lasker-Schüler- mehr als 16 000 Bürger
mitsamt ihrer Familien, die sich als Rechtsanwälte, Ärzte
oder Unternehmer einen respektablen Platz in der Gesellschaft erworben
hatten. Benedict Lachmann z.B., der am Bayerischen Platz Bücher
verkaufte und verlieh. Oder Fritz Zuckermann, ein Praktischer Arzt
und Geburtshelfer, der im Ersten Weltkrieg als Stabsarzt gedient
hatte. Und natürlich Luise Zickel, die in der Kufsteiner Straße
eine bekannte "Höhere Privatschule für Knaben und
Mädchen" unterhielt. Daß sie Juden waren, war für
die meisten zweitrangig. Viele besuchten nur noch an den hohen Feiertagen
die Synagoge, andere empfingen das Abendmahl in der evangelischen
Kirche in der Heilbronner Straße. Jüdische und nichtjüdische
Kinder gingen gemeinsam auf das Werner-von-Siemens-Realgymnasium.
Es war ein überwiegend friedliches Miteinander. Religions-
oder gar Rassenunterschiede spielten hier, anders als in den ärmeren
Bezirken der Stadt, kaum eine Rolle. Das zumindest berichten die
wenigen, die die 12 Jahre der Verfolgung überlebten. 171 von
16 000 Menschen sind es gewesen.
Ein alltägliches Denkmal
Von 10 000 Menschen jedoch sind bislang nicht einmal
die Namen bekannt. Sie sind ebenso spurlos verschwunden, wie die
kriegsbeschädigte Synagoge in der Münchener Straße,
die man Mitte der 50er Jahre wegen Einsturzgefahr abriß. Es
gab niemanden mehr, der hier hätte beten können. Heute
steht an ihrer Stelle ein in Stein geschlagener Chanukka-Leuchter,
dazu ein paar karge Sätze über den Abriß - versteinertes
Gedenken.
"Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wir
Denkmäler." hat Robert Musil einmal über das Paradoxon
des Monuments gesagt. Übersehen seiner Größe, seiner
lebensfremden Abstraktheit wegen. Ein Denkmal, hinter dem das Leben
verschwindet, an das es eigentlich erinnern soll. Wie sonst aber
soll man an etwas erinnern, dessen Spuren vollkommen ausgelöscht
sind?
Vielleicht so: 1993, fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende,
tauchten überall im Viertel diese merkwürdigen Tafeln
auf. Sie waren das Ergebnis eines Ideenwettbewerbs, den der Bausenat
zusammen mit dem Bezirksamt Schöneberg zwei jahre zuvor ausgeschrieben
hatte. Die Jury aus Künstlern, Stadtplanern, Historikern und
einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde entschied sich für
die Tafeln der beiden Künstler Renata Stih und Frieder Schnock
. In drei Metern Höhe wurden sie an Laternenmasten befestigt,
über 80 zwischen Rathaus Schöneberg und Hohenstaufenstraße.
Kein Straßenzug blieb ausgespart.
Es sind Gedenktafeln der besonderen Art: Ein Paar
blonder Zöpfe ist da zu sehen oder ein Abendmahlskelch. Alltagsgegenstände,
Persönliches, Vertrautes. Die Älteren mögen sich
an die Emaille-Reklametafeln ihrer Kindheit erinnert fühlen.
Nostalgie aber wird keinen bei ihrem Anblick befallen. Denn dort,
auf der Kehrseite von Zopf und Kelch ist jeweils ein Gesetz, ein
Erlaß, eine knappe Notiz vermerkt. Ohne Kommentar, nur mit
dem Datum der Veröffentlichung versehen, steht da, gleichsam
die Auflösung des Bilderrätsels, daß: "Vererbungslehre
und Rassenkunde (...) an allen Schulen als Prüfungsgebiete
eingeführt" werden, (13.9.1933), daß "Die Taufe
von Juden und der Übertritt zum Christentum (...) keine Bedeutung
für die Rassenfrage" hat. (4.10.1936)
Indem die Gedenktafeln sich solcherart auf die Alltagserfahrungen
des gegenwärtigen Betrachters und der damals Betroffenen beziehen,
lassen sie den dünnen Firnis zwischen dem Jetzt und dem Damals
durchlässig werden. Unausgesprochen fordern sie den Passanten
auf, sich selbst in die Rolle des Betroffenen zu versetzen. Darin
liegt ihre Stärke. Denn nur wenige werden sich nicht betroffen
fühlen, wenn sie, vielleicht selbst vom Einkauf kommend, vor
einem Laden am Bayerischen Platz lesen: "Lebensmittel dürfen
Juden in Berlin nur nachmittags von 4-5 Uhr einkaufen (4.7.1940)".
Und welchen Eltern oder Kindern fiele es nicht leicht, sich darüber
zu empören, dass ab 1938 "Arischen und nichtarischen Kindern
(...) das Spielen miteinander untersagt" war?
Aktives Gedenken
Aber Anteilnahme nutzt sich schnell ab. Dieses Denkmal
setzt pathosfrei und nüchtern einen schwer zu erfüllenden
Anspruch gegen die Gedenkroutine: Indem es eine vordergründige
Interpretation des Geschehenen verweigert, überläßt
es die Suche nach Erkenntnis dem, der sich nicht in die behagliche
Höhle seiner Betroffenheit zurückziehen will: dem "mündigen
Bürger", dem homo democraticus, der auch in diesem Land
nur mit Mühe heimisch werden will. Er wird sich Fragen stellen,
die dieses Denkmal nicht beantwortet. Wer hat das "J"
in die Pässe der Juden gestempelt? Wer hat die dazu notwendigen
Gesetze erlassen und wer hat sie durchgesetzt? Und warum haben so
wenige sich gegen diese Gesetze gewehrt, deren tödliche Absurdität
heutzutage doch jedem ins Auge springt?
Einstweilen versteht der Fragende, während er
lesend das Viertel durchstreift, dass jede der Tafeln einen Knoten
im Netz der Entrechtung markiert. Daß jede weitere Bestimmung
seine Maschen ein Stück enger zog. So lange, bis es keinen
Ausweg mehr gab. Nicht in das Berufsleben ("Juden dürfen
kein selbständiges Handwerk mehr betreiben. 12.11.1938"),
nicht ins Private. ( "Juden dürfen keine Haustiere mehr
halten. 15.5.1942") Die Diskriminierung war allumfassend. Sie
zielte nicht allein auf die Entrechtung und Enteignung der Menschen,
sondern auf ihre umfassende Entwürdigung, die sie schließlich
zu dem machen sollte, was die Nazis "Jude" nannten: Aussätzige,
"Volksschädlinge". So ist es mehr als eine Schikane,
wenn es am 26.6.1941, vier Monate bevor die Massendeportationen
aus Berlin begannen, hieß: "Juden sollen keine Seife
und Rasierseife mehr erhalten." Dem realen Tod ging der soziale
voraus. Auschwitz, so wird dem Passanten hier beklemmend deutlich
vor Augen geführt, begann nicht am Deportationsbahnhof Grunewald,
nicht im Sammellager Große Hamburger Straße. Es begann
inmitten der scheinbaren Normalität, die in diesem Fall Bayerisches
Viertel hieß. Unmöglich, dass irgendeiner der "arischen"
Nachbarn von alldem nichts gewußt hat. Von den Berufsverboten,
den Enteignungen, dem gelben Stern an den Mänteln von Benedict
Lachmann, Fritz Zuckermann und Luise Zickel. Schließlich von
ihrer Verschleppung, die den Tod bedeutete.
Wer will, kann auch dieses Denkmal übersehen,
kann sich an die scheinbar harmlosen Tafeln gewöhnen. (Und
Gewöhnung ist nur eine andere Form des Vergessens.)
Wer will, kann durch seine emotionale und rationale Anstrengung
die ferne Vergangenheit zu einem Teil der Gegenwart machen. Das
ist Arbeit, Erinnerungsarbeit, die niemals endet. Sie schafft in
den Köpfen der Lebenden einen Ort, an dem das Leben der Ermordeten
vor dem endgültigen Tod, dem Vergessen, bewahrt wird. Mehr
kann ein Denkmal nicht bewirken.
Andreas Stirn
Literatur:
Kunstamt Schöneberg, Schöneberg Museum in
Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz
(Hg.): Orte des Erinnerns, Bd. 1 u. 2, Das Denkmal im Bayerischen
Viertel/ Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel, Berlin
1994/ 95.
Das Schöneberg Museum bietet weitergehende
Informationen und ein museumspädagogisches Begleitprogramm,
v.a. für Schüler aller Altersklassen an. Tel: 7560-6164
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