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Leseproben:
Etienne François
Meistererzählungen und Dammbrüche: Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung
(Band I., S. 15 u. 16) zur Leseprobe
Horst Bredekamp
Bildakte als Zeugnis und Urteil
(Band I., S. 57 u. 58) zur Leseprobe
Frankreich
Henry Rousso
Vom nationalen Vergessen zur kollektiven Wiedergutmachung
(Band I., S. 227) zur Leseprobe
Großbritannien
Athena Syriatou
„Der Krieg wird uns zusammenhalten“
(Band I., S. 285 u. 286) zur Leseprobe
Niederlande
Ellen Tops
Lebendige Vergangenheit
(Band I., S. 427) zur Leseprobe
Litauen
Michael Kohrs
Von der Opfer- zur Täterdebatte
(Band II., S. 693) zur Leseprobe
Rumänien
Lucian Boia
Unterschiedliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
(Band II., S. 541 u. 542) zur Leseprobe
Ungarn
Éva Kovács und Gerhard Seewann
Der Kampf um das Gedächtnis
(Band II., S. 817 u. 818) zur Leseprobe |
Etienne François
Meistererzählungen und Dammbrüche:
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung
(Band I., S. 15 u. 16)
Nirgendwo, sagten wir vorhin, ist in den hier vertretenen Ländern die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Völkermord verblaßt. Diese immerwährende Gegenwart bedeutet allerdings nicht, daß seit dem Ende des Krieges die Erinnerung an ihn statisch gewesen und daß sie ohne große Änderungen von Generation zu Generation weitergetragen worden wäre. Das Gegenteil trifft eher zu. Zwischen dem Ende des Kriegs und der heutigen Zeit läßt sich nämlich ein tiefgreifender Wandel beobachten, der nicht nur Teilaspekte, sondern auch die ganze Struktur der Konstruktionen des Gedächtnisses an den Zweiten Weltkrieg, wie sie sich gleich am Ende des Konflikts formiert hatten, in Frage stellte.
Die prägenden Meistererzählungen der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden zuerst bei den Siegermächten. Sie formierten sich sehr schnell – meistens innerhalb von nur wenigen Jahren – in gemeinsamer Arbeit von staatlichen Stellen und Vertretern der siegreichen Kräfte. Sie hatten eine solche Überzeugungskraft und ihre Funktion für den Neubeginn und den Wiederaufbau nach der Katastrophe war gleichzeitig so eminent und evident, daß sie von der Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Ländern angenommen wurden und lange Zeit als glaubhaft erschienen.
An erster Stelle dieser Meistererzählungen – über die politisch-ideologischen Unterschiede hinweg, die der Kalte Krieg noch vertiefen sollte – steht selbstverständlich der Sieg über das Deutsche Reich und den Nationalsozialismus bzw. Faschismus. Daher rührt die bis heute währende Erhebung des 8. bzw. 9. Mai zum nationalen Feiertag in vielen europäischen Ländern. In den Ländern aber, die unter der Besatzung der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten zu leiden hatten, feierte man mehr noch als den Sieg die Befreiung, die in der allgemeinen Wahrnehmung als das eigentliche Kennzeichen des Kriegsendes gesehen wurde und immer noch wird. Überall nimmt die Erinnerung an die Befreiung vergleichbare Züge an. In Ost wie in West setzt sie sich aus Bildern zusammen, die den Einzug in die Hauptstadt von Soldaten und Widerstandskämpfern, die überschwengliche Freude der sie begrüßenden und empfangenden Volksmassen, wie auch die Waffenbruderschaft zwischen den Kämpfenden des eigenen Landes und den alliierten Soldaten darstellen. Drei Merkmale treten dabei immer auf: die führende Rolle der Soldaten und Widerstandskämpfer des eigenen Landes (wobei nicht selten unterstrichen wird, das Land hätte sich aus eigenen Kräften selbst befreit), die freudige Einheit des sich befreienden und dadurch sich selbst regenerierenden Volkes (Junge und Alte, Männer und Frauen, Arbeiter und Bürgerliche) und die doppelte Bedeutung der Befreiung als Befreiung von fremder Besatzung wie auch als Befreiung von ungerechten politischen und sozialen Verhältnissen. |
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Horst Bredekamp
Bildakte als Zeugnis und Urteil
(Band I., S. 57 u. 58)
In der Gestaltung der Erinnerung ist den Bildmitteln eine überragende Rolle zugefallen. Es waren vor allem Denkmäler, Filme, Fernsehserien und Photographien, mittels derer sie prägend wirkten. Diese haben sich aufeinander bezogen, in Motiven und Techniken durchdrungen und in numerisch nicht mehr erfaßbaren Mengen durch alle nur denkbaren Reproduktionsmittel von Plakaten bis zu Briefmarken verbreitet.
Ihr erstes Ergebnis war die visuelle Formulierung, Bündelung und Durchsetzung der ersten Nachkriegsmythen: der Einheit des Widerstandes, des antifaschistischen Gründungsauftrages der neuen Staaten und der Abmilderung der inneren Widersprüche der Nachkriegsgesellschaften. Die Rolle der Bilder bei der Abschwächung des offenen oder latenten Bürgerkrieges etwa in Italien oder Frankreich kann kaum überschätzt werden. In diesem Gestus haben die Bilder eine große, im Rückblick aber auch problematische Leistung erbracht. In der Erschaffung ihrer Geschichtskonstruktionen waren sie auch Deckmäntel, und dies begründete, daß der von ihnen mitproduzierte Nachkriegsmythos nicht länger als 20 Jahre überdauerte.
Die sich seit den 70er Jahren durchsetzende Dekonstruktion der Nachkriegsmythen, die zu den großen Leistungen der Geschichtswissenschaft zu rechnen ist, hatte in einer Reihe von Filmen Vorläufer, die den Nachkriegskonsens im Westen wie im Osten unterliefen. Die Holocaust-Fernsehserien haben die Sicht der Judenvernichtung maßgeblich verändert, und wenn jemals von „Bildakten“ gesprochen werden kann, dann in bezug auf diese Ereignisse.
Eine ähnliche Wirkung haben die Bilder erst wieder erfahren, als sie eine dritte Phase der Erinnerungskultur einleiteten oder zumindest zu einer vehement geführten Diskussion brachten: die Entlastung von jener Verkrampfung, die auch die bestbegründete Moral mit sich bringt, wenn sie sich zur Mechanik internalisiert. Art Spiegelmans Comic „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (1973–1985) suchte erstmals die Ratlosigkeit der eigenen Generation, sich unter dem Gewicht der Verbrechen und der Erfahrungsschwere der Elterngeneration bewegen zu können, zu lösen (Abb. 50: USA 13). Gerade seinen Zeichnungen gab Spiegelman den Anspruch, nicht-fiktional zu sein.
Dieser Gestus ist seit den 90er Jahren zu einem Gebot der Generation der Enkel geworden. Alan Schechners „It's the real thing“ (Abb. 51: USA 14) (1993), Roberto Benignis „La vita è bella“ (1997) und die New Yorker Ausstellung „Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art“ (2002) sind Beispiele einer ihrerseits zwanghaften Entkrampfung, in der sich der Wunsch, hinter dem Schutzwall eines scheinbaren Zynismus eine eigene, nicht-entlehnte Position finden zu können, mit dem Unbehagen über die relative Leichtigkeit des eigenen Seins mischt. |
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Frankreich
Henry Rousso
Vom nationalen Vergessen zur kollektiven Wiedergutmachung
(Band I., S. 227)
In Frankreich hat das Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg während eines halben Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen erfahren. Gegen Kriegsende lebten die Franzosen in einer Art offensichtlichem Paradoxon. Einerseits war das Land physisch und moralisch verwüstet. Durch die vernichtende Niederlage von 1940, die der „Erbfeind“ ihm zugefügt hatte, und die folgende Besatzung war es empfindlich getroffen. Überdies war es zeitweise einem Bürgerkrieg nahe gewesen, was auch durch die unerwartet schnelle und unblutige Befreiung nicht vollständig kompensiert werden konnte. Viele ahnten schon bald, daß die Nachwehen dieser Ereignisse andauern würden, selbst wenn das Verlangen zu vergessen sich sehr früh manifestierte. Andererseits waren die Franzosen stolz, zu den Siegern des Krieges zu gehören, was zwar General Charles de Gaulle und der Résistance zu danken, aber so kaum vorauszusehen gewesen war. „Der Mann des 18. Juni“, wie er wegen seiner berühmten Rede von 1940 genannt wurde, hatte es geschafft, die Alliierten davon zu überzeugen, daß Frankreich seinen Rang unter den großen Nationen behalten müsse. Es konnte so den Anschein einer imperialen Großmacht wahren, was keine ganz unbegründete Auffassung war, da Frankreich in den internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit weiterhin eine treibende Kraft blieb. Diese politische Vorstellung gestattete es, die Erinnerung an die Leiden der vier Jahre unter dem Joch der Nationalsozialisten, zumindest deren öffentliche Wirkung vorläufig zu verdrängen.
Aber die „schwarzen Jahre“, wie sie der Schriftsteller Jean Guéhenno treffend nannte, verschwanden niemals wirklich aus dem Gedächtnis. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Krieg erlebte Frankreich ihre plötzliche Rückkehr in das öffentliche Bewußtsein. Die Erinnerung an die Besatzung gewann binnen weniger Jahre in Reden, in der Politik und in der historischen Forschung wachsende Bedeutung und veränderte somit die Beziehung der Nation zu ihrer Geschichte. Der Phase kollektiver Amnesie folgte eine Phase der Anamnese, die manchmal die Form einer Hypermnesie annahm. Solche Erscheinungen konnte man weltweit beobachten, als in den 80er und 90er Jahren die Erinnerung an den Holocaust zu einem Gegenstand umfassender Unruhe wurde und diesem schließlich die Form eines Paradigmas aller Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts verlieh.
Nachdem sie einmal wieder an die Oberfläche gelangt war, hinterließ diese Vergangenheit das Gefühl, eine unausweichliche und unverjährbare Tatsache zu sein – für die Menschen unserer Zeit mehr noch als für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration. |
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Großbritannien
Athena Syriatou
„Der Krieg wird uns zusammenhalten“
(Band I., S. 285 u. 286)
In den Kreisen der Historiker, die sich mit der Geschichte Großbritanniens befassen, ist weitgehend unbestritten, daß das heutige Selbstverständnis der britischen Nation auf dem Erbe des Zweiten Weltkrieges aufbaut. Dieser Krieg war grundlegend für die Ausgestaltung der modernen britischen Gesellschaft und des modernen britischen Staates. Dies gilt nicht nur für die Institutionen, die während des Krieges aus der Not geboren worden waren und die sich bis weit in die Nachkriegszeit hinein bewährten, sondern auch für ein neues Verständnis des Gefüges und der Ordnung dieser Gesellschaft, das in der Zeit des Krieges erstmals aufgekeimt war und sich bis in die Gegenwart durchsetzt. So begann in der Nachkriegszeit eine Entwicklung, in deren Verlauf sich Großbritannien zu einer egalitären Überflußgesellschaft wandelte, die eine populäre Monarchie mit stetigem Ausbau der Demokratie verband.
Eine Untersuchung der Bedeutung des Zweiten Weltkrieges für die Nachkriegsgeschichte Großbritanniens und der sich wandelnden Art und Weise, in der dieses Krieges gedacht wurde, muß sich auf die Leitmotive konzentrieren, aus denen sich der Mythos des Krieges aufbaut. Die britische Heimatfront, die BBC, der D-Day, die Luftschlacht um England, die deutschen Luftangriffe auf London („the Blitz“), das britische Informationsministerium, die mit dem Namen Bletchley Park verbundenen britischen Bemühungen, den Kode der sogenannten Enigma-Maschine zu knacken, Winston Churchill und das Kriegskabinett, die Geburt des Wohlfahrtsstaates im Anschluß an den „Beveridge Report“ von 1942, der Triumph des Gemeinschaftsgeistes mit dem Wahlsieg der Labour Party 1945 und die Konferenz von Jalta, wo Großbritannien noch einmal als eine Macht unter den Großen Drei der Weltpolitik auftrat – das sind nur einige der Meilensteine eines Krieges, den der damals einem Koalitionskabinett vorstehende Premierminister Churchill bereits zu Beginn der Luftschlacht um England nach der deutschen Besetzung Frankreichs als „their finest hour“ (Englands größte Stunde) qualifiziert hatte und für den Historiker später den Begriff „people's war“ (Volkskrieg) prägten.
Großbritannien nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, weil es eines der wenigen europäischen Länder war, die von einer Besetzung durch die Nationalsozialisten verschont blieben. Der Krieg brachte zwar wesentlich weniger Leid über Großbritannien als über andere europäische Länder, dennoch bildete er in vielerlei Hinsicht den Katalysator für einen Neuanfang in der Geschichte der britischen Nation. Soziale Spannungen, die in den 30er Jahren mit der Weltwirtschaftskrise und der Mißwirtschaft einen Höhepunkt erreicht hatten, setzten dem britischen Volk zu. Doch nun, obwohl die Hauptstadt des Landes bombardiert wurde und die Bevölkerung Entbehrungen und sogar Hunger zu ertragen hatte, einte der Krieg die gesellschaftlich gespaltene britische Nation.
Diese Einigung war eine Folge dessen, wie der Krieg im Ausland und an der Heimatfront erlebt wurde. Es war dies ein Krieg mit klarer ideologischer Zielsetzung, ein Krieg, in dem die Monarchie ihren Untertanen beistand, in dem der Adel seine Herrenhäuser den gefährdeten Kindern Londons zur Verfügung stellte, in dem die Oberschicht und die Arbeiterklasse sich während der Bombenangriffe auf London Seite an Seite in den Luftschutzkellern zusammendrängten. Die meisten Briten aus allen Schichten der Gesellschaft betrachteten sich am Ende des Krieges als die Befreier Europas, als die wichtigsten Sachwalter der Freiheit. Dazu trug bei, daß ein riesiger, vom Informationsministerium und der BBC koordinierter Propagandaapparat mit allem Nachdruck das Bild einer durch die gemeinsame Sache zusammengeschweißten Nation hinaustrug und der Bevölkerung des Landes versicherte, sie werde den Krieg überstehen und am Ende den Sieg davontragen, wenn weiterhin alle am selben Strang zögen. |
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Niederlande
Ellen Tops
Lebendige Vergangenheit
(Band I., S. 427)
Ein Paß als persönliches Dokument symbolisiert eine Schnittstelle zwischen Staat und Individuum, ist Ausdruck lebendiger Beziehung von räumlicher und nationaler Identität. Vielleicht, weil die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit in den Niederlanden eine prägnante Rolle spielt, wurde hier von 1994 bis 2001 auf jeder Seite je eine Episode aus der niederländischen Geschichte in den Paß aufgenommen. Auf S. 26 steht, wie im Zweiten Weltkrieg die Grenzen dieses Territoriums überschritten wurden:
„Am 10. Mai 1940 griffen deutsche Flugzeuge und Truppen die Niederlande an. Auf einen kurzen verzweifelten Kampf folgten Jahre der Angst und des Elends, beide symbolisiert in der Skulptur ‘Die zerstörte Stadt' von Zadkine. Im September 1944 wurde der Süden befreit, der Westen erst im Mai 1945.“
Der moralisierende Sprachgebrauch der Besatzungszeit und der frühen Nachkriegsjahre wurde hier in neutral beschreibende Worte aufgelöst. Sie werden mit wohlbekannten Bildern illustriert (Abb. NL 1): eine eingestürzte Brücke, eine militärische Befreiungskolonne mit der Nationalflagge und das Monument von Ossip Zadkine, des russischen Bildhauers französischer Abstammung. Ein direkter Hinweis auf die Judenverfolgung fehlt zwar, ist jedoch in Zadkines Skulptur mit verzweifelt gen Himmel gestreckten Armen und einem Loch an der Stelle des Herzens angedeutet.
Im Paß wird Geschichte innerhalb eines chronologischen Erzählschemas dargestellt. Für diesen Beitrag jedoch wurde, im Sinne eines aktiven Erinnerungsprozesses, ein thematischer Aufbau gewählt. Die thematische Einbindung verleiht den Bildern zusätzliche Informationen, macht sichtbar, wie einerseits Bilder als Bedeutungsträger jedes Thema einfärben und wie andererseits sich der Wert der Nachkriegserinnerung verschiebt. |
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Litauen
Michael Kohrs
Von der Opfer- zur Täterdebatte
(Band II., S. 693)
Die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik
Die sowjet-litauische Geschichtsdarstellung des Zweiten Weltkriegs war gekennzeichnet von einer scharfen Trennung zwischen den „Guten“ und den „Bösen“, Freund und Feind. In der offiziellen Erinnerung wurde nur zwischen den Gruppen der Täter und Opfer sowie der Gruppe der Kämpfer für die gerechte Sache unterschieden. Für Zwischentöne oder die Darstellung innerer Konflikte fand sich eher in der Literatur, teilweise auch in Spielfilmen Raum. Neben dem offiziellen Geschichtsbild gab es – allerdings nur in der Untergrundpresse und in Dissidentenkreisen – mehr oder weniger verbreitete abweichende Ansichten. Deren Verbreitung und Bedeutung für verschiedene Bevölkerungsgruppen ist weder quantitativ noch qualitativ genau zu bestimmen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf dieses abweichende Geschichtsverständnis hatten westliche Exilpublikationen. Zwar waren diese im sowjetisch beherrschten Litauen nicht offiziell zugänglich, aber ihre Präsenz ist in historiographischen Werken oft zu spüren: Mit dem Exil fand ständig eine offene oder versteckte Auseinandersetzung statt. |
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Rumänien
Lucian Boia
Unterschiedliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
(Band II., S. 541 u. 542)
Mit der Machtergreifung der Kommunisten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Installierung eines dominanten Diskurses zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der mit der Wirkung einer „Gehirnwäsche“ alle Bereiche der Erinnerung und jedes alternative Projekt zuzudecken suchte. Die Strukturen der Gesellschaft wurden umgestülpt, die alte Elite zerschlagen und sehr viele Menschen durch Umsiedlung vom Land in die Stadt entwurzelt. Außerdem hat es in Rumänien keinen Prozeß der Entstalinisierung gegeben, so daß die Macht von Partei und Geheimdienst stets ungebrochen blieb und Regimekritik kaum möglich war.
Jahrelang wurden der rumänischen Jugend in den „Einheitslehrbüchern“ der Schulen die „unwiderlegbaren Wahrheiten“ eingetrichtert. Die Bilder vom Krieg illustrierten allein die „antihitleristische“ Phase und das Bündnis mit der Sowjetunion: gefangengenommene deutsche Offiziere (Abb. RO 1), der begeisterte Empfang der Roten Armee in Bukarest oder andere Motive, die die Verbindung zwischen Roter Armee und den Rumänen zeigen (Abb. RO 2).
Die staatlichen Medien, über die die Partei nach Belieben verfügte, indoktrinierten fast ein halbes Jahrhundert lang Generationen von Rumänen. Wer auch nur geringfügig abweichende Ansichten äußerte, hatte in den 50er Jahren mit Inhaftierung zu rechnen. Später, als die Unterdrückung etwas gelockert wurde, konnte sich dies immer noch negativ auf die Lebens- und Berufsaussichten allzu „nonkonformistischer“ Personen auswirken. Abweichende Erinnerungen ließen sich zwar auch so nicht völlig auslöschen, konnten jedoch nur unter großen Schwierigkeiten von Generation zu Generation weitergegeben werden: Viele Eltern scheuten sich, selbst mit ihren Kindern über „heikle“ Themen zu sprechen. So blieben diese Erinnerungen nur in begrenzten und isolierten Kreisen lebendig und waren einem allmählichen Erosionsprozeß unterworfen. Sie machten der „offiziellen Erinnerung“ Platz, die unter Einsatz aller Propagandainstrumente den Rumänen nachhaltig ins Bewußtsein geschrieben wurde.
Aber diese offizielle Erinnerung enthielt innere Widersprüche und bedurfte wiederholter Korrekturen. Die Vergangenheit wurde je nach aktuellen Entwicklungen und politischen Interessen schamlos umgeschrieben, so daß die Geschichtsdeutung während der kommunistischen Herrschaft von einem Extrem ins andere umschlug. |
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Ungarn
Èva Kovács und Gerhard Seewann
Der Kampf um das Gedächtnis
(Band II., S. 817 u. 818)
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sind in Ungarn zwei Seiten derselben Medaille. Keinerlei Politik kann in Ungarn auf ihre historische Rechtfertigung verzichten, und Geschichte wird als textualisierte, mythologisierte Beispielsammlung genutzt, aus der die Politik die jeweils sinnvoll erscheinenden Versatzstücke entnimmt. „Indem man offen von der Vergangenheit spricht, kann man sich mit sich selbst versöhnen.“ Bei der Ausrufung der Republik in Ungarn am 23. Oktober 1989 war als Ehrengast Otto Habsburg anwesend, und nach einer langen parlamentarischen Auseinandersetzung hat man 1991 dem neuen Staatswappen die Stephanskrone aufgesetzt. Im Rahmen der im Jahre 2000 veranstalteten Feiern zum Millennium der ungarischen Staatsgründung wurde die als heilig verehrte Krone vom Nationalmuseum in das ungarische Parlament überführt. Die Krone wird als Symbol für die historische Kontinuität der ungarischen Staatlichkeit und deren Einbindung in den christlich-abendländischen Kulturkreis angesehen. Heute soll die Krone im ungarischen Parlament den christlich-nationalen Charakter des ungarischen Staates hervorkehren. Ein revisionistischer Beigeschmack in Hinblick auf die ungarischen Siedlungsgebiete jenseits der Landesgrenzen, die bis 1918 im „Reich der Stephanskrone“ vereinigt waren, ist nicht zu verkennen. Dies ist z. B. aus der Bestimmung ersichtlich, daß alle ungarischsprachigen Besucher die Krone gratis besichtigen können, wobei zunächst eine kleine Sprachprobe an der Pforte den Ausschlag dafür gab, ob Eintritt gezahlt werden mußte oder nicht. Heute genügt der „Ungarnausweis“, den gemäß dem 2001 verabschiedeten „Statusgesetz“ jeder bekommen kann, der sich als Staatsbürger der Nachbarländer zu seiner ungarischen Identität bekennt.
Béla Rásky wies darauf hin, „daß der 1989 eingeleitete, kurzfristige Versuch, mit dieser traditionellen Geschichtsobsession zu brechen und eine Legitimation über eine Verfassung, demokratische Institutionen und eine funktionierende Öffentlichkeit zu finden, nur eine Episode bleiben dürfte“. Denn „bevor man in Ungarn in die Zukunft blickt, holt, vielleicht besser: konstruiert man sich seine Legitimation aus der Vergangenheit“.
Die Geschichtsobsession im 20. Jahrhundert ist auf das „Trauma von Trianon“ zurückzuführen, den Ungarn betreffenden Teil der Pariser Vorortverträge von 1920, mit dem Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebietes und 60 Prozent seiner Bevölkerung, darunter drei Millionen Ungarn, an die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie verlor. Wenn heute von ungarischen Politikern des rechtskonservativen Lagers die Nachbarländer als „Nachfolgestaaten“ tituliert werden, dann weist das wiederum auf die „Kultivierung geschichtlicher Traumata und Frustrationen“ hin.
Diese Obsession wurde von politisch bedingten Denkblockaden verstärkt, an denen das kulturell-historische Gedächtnis der ungarischen Gesellschaft im Lauf des 20. Jahrhunderts mehrmals und über längere Zeiträume hinweg litt. Nach 1920 durfte der Revolutionen von 1918/19 und der damit verknüpften Versuche einer Verbürgerlichung und Demokratisierung der ungarischen Verhältnisse nicht gedacht werden. Nach 1945 waren es Krieg, Völkermord, auch Vertreibung der Ungarndeutschen, nach 1956 war es die blutige Unterdrückung des ungarischen Aufstandes von 1956, die dem staatlich verordneten Vergessen zum Opfer fielen.
Mit der Wende von 1989 ist der Staudamm weggebrochen, und eine Flut von Erinnerungen und Geschichtsbildern bemächtigte sich des politischen Diskurses. Der am 16. Juni 1989 auf der Feier zur Wiederbestattung des nach der Revolution von 1956 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy auf dem Budapester Heldenplatz von 300 000 Menschen deklamierte Imperativ „Erinnern wir uns!“ (Emlékezzünk) bedeutete nicht nur die großartig inszenierte Abkehr vom Sozialismus sowjetischer Prägung, sondern er rückte gleichzeitig die Frage nach dem historisch begründeten Nationalbewußtsein langfristig in den Mittelpunkt. Die kontrovers geführten Debatten darüber sind bis heute nicht abgeschlossen. Aber bereits jetzt läßt sich erkennen, daß der Zweite Weltkrieg und die Epoche des Kádár-Regimes in diesen Identitätsdiskurs sehr wohl einbezogen werden, der Holocaust jedoch kaum. Wenn überhaupt, werden die ungarischen Opfer des Weltkrieges, des Kommunismus und der sowjetischen Okkupation den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus gegenübergestellt. Dabei bleibt unerwähnt, daß die Ungarn im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen verbündet waren. Der Zweite Weltkrieg und die sowjetische Okkupation haben in der Erinnerung eines gemeinsam: das eigene Land wurde zum Opfer einer „Tragödie“, in der eine Täterperspektive keinen Platz hat. |
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